traeumSchoen
von riemsche

 

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selbstzufriedene Strassen und Piazzas gebären
Metamorphosen, fruchtbar wie ein Zauberwald
Backsteine haben Münder, rufen Wiedergänger
von fiktiven Giebeln hüpfen Tontauben übers
bröckelige Gesims in die ersten Oberstübchen
behende Hohlköpfe, obszöne Reime schwatzend
oder sie sitzen auf Kaminen, brüllen Hegelzitate
und vergessen später auf dem Weg nach oben
plötzlich ohne Grund den Akt des Fluges selbst
seine Technik und Mechanik, fallen steif herab
liegen in Wehen haufenweise tot vor Auffahrten

rundum bedienen sich all die gemalten Formen
der Lebendigkeit, die sie meisterhaft imitierten
staubige Schlachtrösser entsteigen noch etwas
unbeholfen einen Huf vor den anderen setzend
mit größter Vorsicht restaurierten Leinwänden
um im verwilderten Stadtpark zu grasen und
mit nur ein paar saftigen Trauben bekleidet
verlässt ein gelangweilter Bacchus zielstrebig
seinen museumsreifen Tizian, geht in die Bar
ordnet sofort die längst überfällige Orgie an

unter freiem Himmel ist das unmöglich
Die in der Zugluft Dämonen, besessen
einige so groß wie junge Raubkatzen
haben Zähne zum Kleinekinderfressen
knurren, fauchen, stoßen In Schwärmen
zwischen windige Paläste, wo Edelpenner
hintergründig in Wachträumen stochern
Manchmal fließt der Fluss stromaufwärts
und all die wahnsinnig gewordenen Fische
steigen falsch aus, blähen ihre Bäuche
zieren sich bis zum letzten Schnapper

das Raumgefühl wird stark In Mitleidenschaft gezogen
Perspektive täuscht, Proportionen schwellen an und
ab, ein sich immer wieder Wiederholen, erschöpfend
aber weitaus weniger beunruhigend wie die Bahnhöfe
wo Frauen unter Kuppeldächern, Sonnenschirmchen
in heroischer Nacktheit, die Haare kunstvoll zu Turm
und Knoten geschlungen, heiter flanieren, innehalten
kühle Flanken still gelegter Zugmaschinen tätscheln

jederMann auf der Galerie trägt ein
pfauengrünes Käppchen, fächert auf
trippelt nervös, zeigt Implantate, wogt
manch Hand findet sich am Hintern
wieder in gehobener Gesellschaft
zwecks Überprüfung peinlicher Staffage

Geisterhändler führen Schattenmesser
schneiden Fleisch aus prallem Leben
zerlegen es in natürliche Substanzen
wissen um deren Deutung, zeigen auf
Geschrei hebt an wegen Unglücklichen
deren Profil bereits an Realität erinnert
Gekünstelt fordert die Zerreissprobe
Eine singende Säulengruppe implodiert
mitten in einem Mantra und ja, wieder
werden daraus Laternen, stille Blumen
bis sie bei Anbruch der Nacht, traurig
bemalten Drachen gleich kindisch
kichernd über Schornsteine segeln
Unter ihnen summen Bettler fegen
Rinnsteine mit ihren Flickenmänteln
derbes Schuhwerk, Stock am Bündel
Perlen in Knotenschrift verschlüsselt

am Nachmittag stirbt die Kathedrale
hinter neoklassizistischen Fassaden
an sublim architektonischer Keuschheit

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