Cataphiles (Björn & Katrin 1)
von Markus

Kapitel
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Unter Paris

„Jetzt!“ Katrin zog Björn in eine dunkle Nische und drängte sich an ihn. Er spürte das Kribbeln der Aufregung im Bauch, knapp unterhalb seines Solarplexus. Aufgrund solcher Dinge liebte er sie, immer spontan und abenteuerlustig. Er presste sich an sie, suchte mit seinem Mund nach ihren Lippen. Sein Herz schlug schneller. Sie erwiderte seinen Kuss kurz, entzog sich ihm aber nach einem Augenblick schon wieder mit einem tadelnden Lächeln. „Später“ hauchte sie in sein Ohr.
Bedauernd blickte er ihrer schlanken, sportlichen Gestalt nach, als sie den Weg einige Meter zurückging. Sie warf ihre glatten und langen braunen Haare zur Seite und ihm einen einladenden Blick zu bevor sie in einem Seitengang verschwand, weg von der sich entfernenden Touristengruppe.
Er wusste was sie vorhatte, sie hatte ihm davon letzte Nacht im Hotel erzählt. Glaubte er zumindest. Er kannte ihren Plan, von dem sie letzte Nacht erzählte. Glaubte er zumindest. Sie hatte im Bad ihre Zähne geputzt und ihm dabei undeutlich von ihren Ideen erzählt, während er bereits langsam in den Schlaf hinüberdämmerte. Eine dieser spleenigen Ideen betraf auch diese Katakomben hier. Katrin Kopf war voller solcher Ideen.
Sie wollte mindestens die ganze Welt bereisen, vorzugsweise per Anhalter. In jedem Land mindestens ein Jahr leben, die Menschen und die Sprache erforschen, sämtliche Religionen praktizieren und natürlich alle Sehenswürdigkeiten des Planeten sehen, berühren, bestaunen und, wie sie ihm einmal mit einem schiefen Lächeln erzählte, an jedem der Plätze Sex mit ihm haben.
Ok, das mit dem Sex wäre an diesem Ort wohl etwas morbide. Er kannte sie gut, nach den knapp zwei Jahren die sie nun zusammen waren. Friedhöfe gehörten bisher nicht zu ihrem Repertoire. Und das hier war ein verdammt großer. Die Wände waren gesäumt von Schädeln und Schienenbeinknochen. Ganze Kunstwerke hatte man hier geschaffen und Björn konnte sich absolut nicht dafür begeistern. Katrin auch nicht, aber dafür umso mehr für die dunklen, abgesperrten Seitengänge.
Er stieg über die Absperrung und folgte Katrin in den unbeleuchteten Gang. Die Luft schien hier schlagartig stickiger zu werden. Katrins Rucksack stand auf dem Boden, sie nahm gerade eine leuchtstarke LED-Taschenlampe aus dem Seitenfach. Er sah sich um. Die Wände waren hier gemauert, Kalksteinblöcke, wenn er sich nicht täuschte. Besser als die gruseligen Knochenmauern eben im Hauptgang. Dafür schienen die Wände hier zu schwitzen, sie sahen schmierig aus, waren von einer Schicht bedeckt die Björn lieber nicht berühren wollte.
„Fabrice hat mit davon erzählt“ sagte sie, als sie ihren Rucksack wieder aufsetzte und die Riemen sorgfältig über der Brust verschloss „nach der Allee de Montrouge links über den Seitengang kommen wir in den interessanten Teil. Er meinte wir sollten nach einem Stein mit der Nummer 1783 Ausschau halten.“
Das schien ihr als Erklärung zu reichen. Björn glaube sich schwach zu erinnern das Fabrice einer ihrer Kommilitonen war, ein französischer Austauschstudent von dem sie vielleicht einmal erzählt hatte.
Plötzlich erscholl hinter ihnen ein Ruf „Stop! Ils s'arrêtent !“ Er schluckte schwer. Das hatte ihnen noch gefehlt. Katrin sprintete unerwartet los, ein hüpfender Lichtpunkt, der den dunklen Gang entlang um die nächste Ecke bog. Na gut, dachte der sich, er war kein Feigling und lief hinter ihr her.
Katrin war sportlicher, viel sportlicher als er. Sie liebte die Nachmittage in der Fleeclimbinghalle, fuhr mit ihrem Mountainbike die zwanzig Kilometer von ihrer Bude zur Uni in knapp 25 Minuten (und zwar in jeder Wetterlage) und hatte ihn in fast jeder Sportart gnadenlos schlecht aussehen lassen. Außer in Schach, aber das war laut Katrin auch kein Sport sondern eine Umsetzung mittelalterlicher Kriegsführung auf ein Holzbrett.
Björn erreichte eine Abzweigung und sah einen schwachen Lichtschimmer fern im linken Gang. So langsam verging im der Spaß an diesem Abenteuer. Missmutig joggte er den Gang entlang. Das Licht in der Ferne war nun verschwunden, in seinem Rucksack befand sich keine Taschenlampe und von hinten kam nur noch ein Hauch von Licht, womit er seinen eigenen Schatten vor sich her trug. Vermutlich sah er deshalb auch den Steinquader nicht, der den Gang im unteren Drittel versperrte. Sein Schienenbein jedenfalls fand ihn, verlor den Kampf und sein Oberkörper bewegte sich aufgrund der Massenbeschleunigung weiter. Eine halbe Rolle später beendete sein Gesicht auf dem harten Boden die unerwartete Sporteinlage.
Scheiße! Das war absoluter Blödsinn hier, dachte er sich und rieb sich mit einer Hand das schmerzende Schienenbein. Mit der anderen Hand tastete er nach seiner Schläfe, wo unter seinen Fingern schon eine beachtliche Beule wuchs. Absolut total verdammter Mist! War das klebrige etwa Blut was er da fühlte? Na super, jetzt lief ihm vermutlich das Blut über sein halbes Gesicht und versaute ihm sein neues Hemd. Er suchte in den Taschen nach einem Tuch, presste es auf die Beule.
Das Tomb-Raider Feeling war ihm jedenfalls gerade vergangen. Er würde einfach hier sitzen bleiben und auf Katrin warten. Sie ließ ihn nicht hängen. Wenn ihr auffiel das er nicht nachkam würde sie zurückkehren. Bis dahin blieb er hier sitzen. Im Dunkel. In der stickigen Luft. Auf dem feuchten Boden. Genau an den blöden Quader gelehnt. Den scheißblöden Quader. Und er würde halt einfach einen Müsliriegel aus seinem Rucksack essen.
Ok, der Quader war auch schmierig feucht, aber so langsam war es ihm egal. Er sah vermutlich schon jetzt aus wie ein Unfallopfer, fühlte sich jedenfalls genauso. Außerdem war ihm kalt. Oben war Hochsommer, aber das hier fühlte sich eher wie unter 15 Grad an.
Als er das Papier des Müsliriegels entfernt und den ersten Bissen im Mund kaute hörte er hinter sich im Gang ein leises Geräusch. Es klang so als ob jemand oder etwas stakkatoartig die Luft einsog, Witterung aufnahm. Björn stoppte die Kaubewegung, lauschte. Da war es wieder, eindeutig hinter ihm. Er schluckte den Bissen. Dazwischen ein leises Tropfen in der Ferne. Vor seinem inneren Auge sah er etwas großes, haariges, was auf allen vieren auf dem Boden stand, den Kopf erhoben und mit der Nase einer, seiner unsichtbaren Duftspur folgte. Behutsam legte er den Müsliriegel neben sich auf dem Boden. Dabei streifte er einen weichen Körper der mit einem erschrockenen Quiecken zurückwich. Björn zuckte zurück. "Ratten" sagte sein Verstand. Aber plötzlich war die Angst da. Hatten die Ratten sein Blut gewittert und würden über ihn herfallen? Was fraßen die Tiere eigentlich hier unten? Außer den Steinen gab es hier nur Knochen, und nun seinen Müsliriegel, der auch gerade -den Geräuschen nach die dem Quicken folgten- von einer riesigen Meute haarigen Ratten zerrissen wurde. Ja und dann war da noch etwas hinter ihm. Er hörte das schnüffeln wieder, gefolgt von ein- zwei schlurfenden Schritten in seine Richtung. Etwas Metallisches klirrte, fast wie eine alte, rostige Kette. Krallen schliffen über den Boden und klackerten auf einem Stein.
Er erhob sich wieder auf die Beine. Was immer da hinter ihm war, Katrin war es nicht. Von ihr war noch immer nichts zu sehen. Seine Hose rieb schmerzhaft über die Schürfwunde am Schienenbein. „Verdammt!“ fluchte er leise bevor er zusammenzuckte und sich selbst dafür in Gedanken geißelte. Die schlurfenden Schritte hinter ihm waren verstummt. Er lauschte wieder. Das Etwas hinter ihm vermutlich nun auch. Die Ratten hatten den Riegel irgendwo vor ihm in die Dunkelheit entführt oder –was wahrscheinlicher war- inzwischen restlos gefressen. Ein wenig warmes Blut lief ihm von der Schläfe über das Gesicht und er hob wieder das Tuch an den Kopf. Hinter ihm erklang eine flüsternde Stimme gefolgt von einem rasselnden Atemzug, das Klirren erklang erneut. Dann wieder das Schnüffeln. Stille. Ein unterdrücktes, schleimiges Röcheln.
Das war Zuviel, seine Nerven gingen durch und er rannte kopflos in die Dunkelheit vor sich. Eine Hand an der Wand links einfach immer geradeaus. Bis die Wand auf einmal jäh endete. Er stoppte, nach Luft japsend. Er war jetzt bestimmt zwei Minuten gerannt, außer seinen Atemzügen hörte er nichts. Aber noch schlimmer, er sah nichts, absolut nichts. Nein, hier war nur Stille. Und Dunkelheit. Was immer es hinter ihm gewesen war, er hatte es erst einmal abgeschüttelt.
Irgendwo in seiner Tasche war ein Zippo. Ab und zu rauchten sie sich einen Joint, was war schon dabei. Zigaretten hatte er nie angefasst, aber Katrin hatte ihm die Vorzüge von bekifften Sex näher gebracht. Katrin, wo verdammt war sie? Er fand das Feuerzeug in der Tasche und atmete auf.
Jetzt diente es ihm zur Orientierung, fast so gut wie eine Lampe. Er drehte das Zündrad und der Blitz blendete ihn. Er sah ein Negativbild der Umgebung, das sich in seine Netzhaut gebrannt hatte. Ein Torbogen aus Schädeln, menschlichen Schädeln. Einige mit größeren Löchern in der Schädeldecke.
Die Panik war wieder da, sprang ihn an. Er musste das Feuerzeug mit beiden Händen fassen, drehte zitternd das Zündrad erneut und diesmal sprang der Funke über. Im Benzindunst flackerte das schwache Licht und offenbarte ihm eine runde Halle vor sich, das hintere Ende ins Dunkel der Schatten gehüllt. Seitlich zweigten Gänge ab, aber sein Blick hing wie gebannt in der Mitte des Rund. Weit über zwei Meter hoch waren hier Schädel gestapelt, eine riesige Pyramide aus menschlichen Überresten, aus ihren Köpfen. Sein Puls beschleunigte sich wieder und die Panik ließ ihn in den zuckenden Schatten Bewegungen erkennen. Das Zippo fiel ihm aus der Hand, ging aber nicht aus. Als er es aufheben wollte verbannte er sich den Daumen. Mist!
Dann hörte er hinter sich wieder das metallische Klirren und einen schlurfenden Schritt. Er drehte sich um. Auf Kniehöhe leuchteten zwei silbrig schimmernde Augen mit roten Punkten in der Mitte im Gang.
Björn stürzte kopflos vor, trat das Zippo dabei versehentlich gegen eine Wand und sprang in den ersten Seitengang zu seiner linken. Er stolperte über etwas, rutschte aus uns fiel der Länge nach auf den Boden. Auf Holzstöcke, glaube er. Es knackte, etwas zerbrach unter seinem Knie, es klapperte, etwas spitzes stach in seine Hand. Björn rutschte weiter, es ging abwärts. Er versuchte an den Wänden Halt zu finden, aber sie waren feucht, moosig, glitschig, schleimig. Er rutschte weiter. Mit ihm klapperten die Stöcke abwärts, immer schneller die Rampe hinab. Nein, dachte er, keine Stöcke, Knochen. Hier unten war doch alles aus Knochen. Menschenknochen. Dann prallte er mit Wucht gegen eine Wand, mit den Füßen zuerst. Die ganze klappernde Knochensammlung rutschte auf ihn, über ihn, prallte laut gegen die Wand.
Björn versuchte sich panisch von ihnen zu befreien, grub sich regelrecht hervor. Dann prallte er mit dem Kopf an die Decke, sitzend. Der Schacht war verdammt niedrig. Er tastete sich zur Seite. Da war eine Wand. Die andere Seite. Ebenfalls eine Wand. Mist! Er musste hier raus! Da es nur einen Ausgang gab war die Wahl nicht schwer, die Rampe wieder rauf. Er krabbelte über den Knochenhaufen, stach sich wieder die spitzen Enden in die Haut, schnitt sich dabei die linke Handfläche auf. Dann packte ihn etwas am Fuß, hielt ihn fest, zog ihn zurück. Er schrie laut auf, schlug wild nach unten. Knochen, da waren nur Knochen. Björn rollte sich zusammen und schluchzte.
Da war keine Bewegung, nichts griff nach ihm. Knochen, noch immer nur Knochen. Sein Schnürriemen hatte sich an den Fingern einer Knochenhand verfangen. Er versuchte noch einmal die Rampe. Keine Chance, der feuchte Schleim war überall. Finsternis.
Und dann war es da wieder, oben, über ihm. Dieses Schnüffeln. Dann ein tiefes Grollen. Eine röchelnde Stimme, das Klimpern. Björn wimmerte vor Angst. Etwas klapperte über ihm. Schwerer Zigarrenqualm stieg ihm in die Nase, dann stach ihm ein heller Lichtstrahl direkt ins Gesicht. „Pardon? Ça va ??“ erklang es von oben. Erneut das schleimige Husten. Dann folgte ein absolut unverständlicher Wortschwall in Französisch. Ein Räuspern, ein Husten. Das Licht verschwand kurz, dann wurde er wieder angestrahlt, ein Seilende rutschte die Rampe zu ihm hinab. Björn bewegte sich nicht, atmete hektisch und starrte nur den Knochenhaufen an auf dem er lag.
Es dauerte fast eine Stunde gutes Zureden des Wachmanns in den verschiedensten Sprachen bis Björn ihm auf Deutsch antwortete. Langsam legte sich seine Panik und seine Gedanken klärten sich. Eine weitere Stunde später hatte ihn der Wachmann mit seinem alten Schäferhund durch die Katakomben in einen Wachraum oben neben dem Ausgang geleitet. Katrin saß dort gelangweilt und trotzig auf einer Holzbank, sah ihn erschrocken an als er in den Raum humpelte. Der alte Wachmann zog an seiner Zigarre, hustete und schob ihn dann auf die Bank neben sie. Er ließ die Kette los an der er seinen Hund hielt und griff zum Telefon.
Was nun folgte war mehr als peinlich. Die Polizei nahm ihre Personalien auf, er wurde mehrfach gefragt ob es ihm gut ginge oder er ins Krankenhaus wolle. Der Wachmann war so nett gewesen ihm ein feuchtes Tuch zu geben mit dem er sich grob säubern konnte, daher wusste er dass die Wunden nur oberflächlich waren.
Am Ende ließ man sie gehen. Katrin war schon wieder gut gelaunt und hakte sich bei ihm unter, nannte ihn ihren tapferen Höhlenforscher und Grabräuber, meinte lachend dass er sich nun die Peitsche und den Lederhut verdient hätte. Björn allerdings war eher nach einer heißen Dusche und einem doppelnden Wodka zumute. Er trotte neben ihr durch die Gassen von Paris Richtung Hotel.
„Und weißt du was, Schatz. Ich hab gehört in Notre-Dame gibt es im Dachstuhl ein geheimes Zimmer in dem der Glöckner früher gewohnt hat.“
Björn verdrehte nur die Augen.

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