Unter Räubern
von Michael Kuhrdt (mageku)

 

Unter Räubern

Mit einem Knall schoss Werner seine Maus gegen die Wand und machte die Musiklanlage an.
>>Mistvieh!<<, nuschelte er grimmig.
>>Für heute hast du mich genug geärgert.<<
Seine Arbeit als Informatiker, in allen Ehren, aber was zu viel war, war zu viel. Nicht nur, dass er in der ganzen Welt herumreisen musste, um sein Geld zu verdienen. Nein, jetzt hatte ihn der Chef auch noch zur Kundenbetreuung eingeteilt, wozu Bereitschaftsdienst gehörte.
>>Bin ich Arzt?<<, schimpfte er, während er in das Badezimmer ging.
>>Die Kleinen und die Doofen triffts immer zuerst.<<
Werner sah in sein Spiegelbild und putzte sich dabei die Zähne. Eigentlich fand er sich gar nicht so übel. Mit einsfünfundsiebzig war er in seiner Familie ein Riese und blöd war er schon gar nicht. Sämtliche Prüfungen hatte er mit Auszeichnung bestanden. Nur dass ihn die Arbeit jetzt bis nach Hause verfolgte, fand er ungerecht.
>>So jetzt volle Pulle.<<
Wieder im Wohnzimmer, drehte Werner am Lautstärkeregler, bis ihm die Bässe auf den Magen drückten. Dabei trank er ein Bierchen und legte sich dann todmüde ins Bett.

>>Sollen wirs wagen?<<
Zwei Männer standen vor dem Hochhaus und blickten an der dunklen Fensterfront nach oben.
>>Wie besprochen.<<, sagte der andere leise.
Sie gingen wie zwei späte Besucher zur Eingangstür, die wie erwartet offen stand. Dann liefen sie leise die Treppe bis nach oben, um in das Penthouse einzubrechen. Alles hatten sie genau geplant. Von einem anderen Hochhaus, ein Stück entfernt, hatten sie gut Einsicht nehmen können in die große Dachwohnung. Mit dem Fernglas hatten sie jedes Möbelstück begutachtet und geschätzt und kannten sich bald besser aus in der Wohnung, als der Eigentümer.
Vor drei Tagen hatten sie gesehen, wie der Wohnungsinhaber mit Koffer und Reisetasche abgeholt wurde und sofort Nachforschungen angestellt. Ein paar Telefonate und schon war das Rückflugdatum heraus. In drei Wochen wollte er aus Brasilien wieder einschweben.
>>Sesam öffne dich.<<
Der eine hatte mit einem nachgemachten Schlüssel die Tür geöffnet und bat seinen Partner mit einladender Handbewegung einzutreten.
>>Und es werde Licht.<<, wollte der andere nicht nachstehen und knipste den Lichtschalter an.
Wie vom Donnerschlag getroffen blieben beide stehen.
>>Wie kann das sein?<<, fragte der eine.
>>Völlig unmöglich.<<, antwortete der andere.
Vor ihnen standen unter der Garderobe der Koffer und die Reisetasche, die sie vor ein paar Tagen aus dem Haus gehen sahen.

Werner horchte auf.
War da wirklich etwas oder hatte er nur geträumt?
Nein, da sprach jemand an seiner Tür.
Ein Streifen Licht fiel unter der Tür hindurch in das Schlafzimmer.
>>Was tun?<<, schoss es Werner durch den Kopf.
Er entschloss sich zu handeln.
Mit einem doppelten Huster stürmte er auf den Flur.
Aber die beiden hatten ihn erwartet.
Der eine gab ihm einen Schlag vor die Stirn, der ihn gegen den Türrahmen warf und ihn in das Wohnzimmer torkeln ließ, wo er besinnungslos auf den Boden sank.
>>Was war das mit dem Husten?<<, fragte der eine.
>>Keine Ahnung.<<, sagte der andere.
>>Ist er tot?<<
>>Nein. Nur bewusstlos. Die Software und dann nichts wie weg hier. Möglich, dass jemand den Lärm gehört hat.<<
Hastig durchwühlten sie die in Frage kommenden Schubladen und Kästen.
>>Hab sie!<<, sagte der eine und hob triumphierend ein Päckchen CDs in die Höhe.
>>Gehen wir.<<, meinte der andere.
Bevor sie Tür hinter sich schlossen, machten sie das Licht aus und horchten in das dunkle Treppenhaus hinunter.
Nichts.

Werner schlug die Augen auf. Ihm brummte der Schädel. Er versuchte aufzustehen.
Ging nicht.
So sehr er sich auch anstrengte, er konnte seine Beine nicht bewegen, von den Armen ganz zu schweigen.
>>Wenigstens der Kopf wird gehen.<<, machte er sich Hoffnung und spannte mit aller Macht seine Nackenmuskeln an.
Fehlanzeige.
Die Befehle seines Großhirns kamen nicht an.
Panik überkam ihn und für eine Weile war er nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen.
Dann klärten sich seine Sinne wieder.
Es war früher Morgen. Das konnte er am zarten Licht des Tages und dem müden Gezwitscher der Vögel erkennen. Er lag so, wie er gefallen war in der Nacht, auf der rechten Seite.
Sein Kopf ruhte auf der rechten Wange, die rechte Hand klemmte unter seiner Hüfte und das linke Bein hing über dem angewinkelten rechten.
Sein Körper war schon etwas ausgekühlt, da er gänzlich auf dem Parkettfußboden lag. Nur der Kopf, befand sich zur Hälfte auf der wärmenden Teppichunterlage und schaute auf die Wohnzimmertür. Vor seinem Mund, der leicht geöffnet die Holzstäbchen küßte, hatte sich ein großer Speichelsee gebildet, um den schon begehrlich riesige Insekten kreisten.
>>Auf den frisch gebohnerten Boden.<<, dachte Werner und starrte auf seine Spucke.
Was ihn aber am meisten erstaunte war das wimmelnde Leben im Staub um ihn herum. Überall lief es, fraß und jagte. Einige Tiere hatten Panzer wie Nashörner, andere konnten sich, den Asseln ähnlich, zu einer Kugel zusammenrollen und wieder andere hatten Rüssel zum Saugen wie Wanzen und Scheren wie Krebse.
Teppichhaare sahen aus wie große Bäume, Krümel türmten sich auf wie Felsbrocken und Schimmelpilze wuchsen wie Schwämme im Meer.
Ein Wesen stach heraus aus dem vielfältigen Treiben. Es hatte die Form einer Zecke, eine blassgelbe Farbe und sah damit völlig anders aus als ihre grünlichen Verwandten. Außerdem bewegte es sich schneller als die anderen Tiere. Es hockte in der Kraterlandschaft, die sich Parkett nannte, umgeben von weißen, flachen Plättchen und fraß hastig. Immer wieder sah es argwöhnisch zur Teppichkante hin, als ob es von dort Gefahr wittern würde.
Werner zwinkerte zweimal mit den Lidern, da seine Augen trocken zu werden begannen. Als er wieder aufblickte, sah alles aus wie sonst. Er schaute auf den weißen, flauschigen Teppich rechts in seinem Blickfeld und den hellen Parkettfußboden links.
Als ob er nicht glauben konnte was er sah, zwinkerte er noch einmal.
Und da erblickte er wieder das große Krabbeln.
>>Uhps!<<, dachte er sich.
>>Übernatürliche Kräfte. Muss mit meinem Sturz zusammenhängen. Ein bisschen eklig, aber vertreibt die Zeit.<<
Werner schaute nach oben, um besser das Geschehen im Teppich beobachten zu können. Jedes mal, wenn er die Augäpfel bewegte, musste er den Blick erst wieder scharf stellen. Das schmerzte und er wusste nicht wie lange er das noch aushalten würde. Soviel er von oben sehen konnte, gab es wie im Dschungel Jäger und Gejagte. Die friedlich fressenden oder laufenden Tiere wurden belauert von Artgenossen, die mit hummerartigen Zangen ausgerüstet, hinter jedem Haar lauern konnten. Einmal in ihren Klauen gab es kein Entrinnen. Erbarmungslos stießen sie ihren Rüssel in den Leib des Opfers und saugten es aus.
Werner drehte die Augen wieder zurück. An der Teppichkante hielt er inne. Die Angst seiner kleinen Hautmilbe war nicht unbegründet. Ein ganze Reihe von Staubmilben hatte die Hutschuppen entdeckt, die Werner bei dem Aufprall seines Kopfes auf dem Boden abgeben hatte. In großen Kolonnen kletterten sie den Teppichsaum hinunter und marschierten in Richtung Gabentisch. Und ihnen folgten, wie die Löwen einer Herde Gnus, die Raubmilben.
Die Hautmilbe wurde jetzt immer aufgeregter. Sie blickte starr auf die herannahende Woge, wippte noch ein paar Mal, wie ein Chamäleon auf einem schwankenden Ast, vor und zurück und trat dann schleunigst den Rückzug an.
Und das hieß zu Werners Entsetzen, sie bewegte sich schnurstracks auf seinen Kopf zu.
>>Nicht zu mir.<<, dachte er sich.
Ihm drehte sich der Magen um bei dem Gedanken, Zufluchtsort dieser krabbelnden Fressmaschine zu werden.
Aber sie hatte noch einen weiten Weg vor sich und viele Gefahren waren dabei zu überwinden.
Zunächst galt es den ersten Ansturm zu überstehen. Da die Hungrigen auf breiter Front den Teppich verlassen hatten, war es schwierig den direkten Weg zum rettenden Gebirge zu nehmen. Die Hautmilbe wagte es trotzdem. Ihr Vorteil war ihre Schnelligkeit. Sie kämpfte sich durch den ersten Krater hindurch und hangelte sich über eine kleinere Spalte, als ihr auch schon die erste Angreiferin entgegenkam. Mit kurzem Rüssel, aber ebenso mächtigen Zangen, wie das männliche Geschlecht, stand sie ihr gegenüber.
>>Mach das du wegkommst!<<, dachte Werner.
>>Die ist zu stark für dich.<<
Seine Sympathie für das kleine Wesen war wieder erwacht. Als ob sie ihn gehört hätte, ließ sie die Angreiferin links liegen und begann einen weiten Bogen um die herannahenden Scharen zu schlagen. Das nahm mehr Zeit in Anspruch, schien aber sicherer.
Der Boden war wegen der vorherigen Reinigung noch relativ sauber, so dass die Hautmilbe nur vereinzelt Staubmilben traf, die der Wind aus anderen Regionen heran geweht hatte. Die größten Schwierigkeiten bereitete ihr die unebene Oberfläche und der See.
In weiter Entfernung sah sie auf der gegenüberliegenden Seite Werners Kopf aufragen und musste sich entscheiden, ob sie links oder rechts um das Wasser laufen sollte. Es war für sie nicht zu erkennen, welches der kürzere Weg sein könnte, so riesig waren seine Ausmaße. Sie wählte den sicheren, da sie die Gefahr von links immer noch im Gedächtnis hatte.
Werner hatte alles im Blick. Er sah die Horden vom Teppich herannahen und er verfolgte gespannte die Flucht der kleinen Hautmilbe. Ihm war auch nicht verborgen geblieben, dass sich in der Speichelpfütze, die aus seinem Mund laufend mit Nachschub versorgt wurde, Mückenlarven angesiedelt hatten. Sie zuckten krampfhaft vor seinen Augen, was Werner nervös machte.
Der Tag schritt voran und die Sonne schien in den hinteren Teil der Wohnung. Noch lagen Werners Beine im Schatten.
>>Langsam reichts.<<, dachte er sich.
>>Wenn nicht bald Hilfe kommt, dann laufe ich aus wie ein leckes Fass.<<
Um seinen Kopf begannen die ersten frisch geschlüpften Mücke aus dem Speichelsee zu tanzen.
Als er die Augen nach unten drehte, sah er gerade noch die Hautmilbe aus seinem Blickfeld entschwinden.
>>Geschafft.<<, dachte er sich.
>>Wenigstens eine ist in Sicherheit.<<
Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gebracht, da hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.
Die Tür schlug zu, eine Tasche wurde in der Garderobe abgestellt und Schritte kamen den Flur entlang.
>>Werner?<<
>>Gabi. Gott sei Dank.<<, ran es Werner durch den Kopf.
Er wollte seinen Mund zu einem Lächeln verziehen, aber das einzige was er schaffte war seinen Speichelfluß zu erhöhen.
>>Oh Gott! Was ist denn mit dir passiert?<<
Sie beugte sich zu ihm hinunter und streichelte seinen Kopf.

Nachdem Werner aus dem Krankenhaus entlassen wurde, musste Gabi ihn, noch bevor es zurück nach Hause ging, an einer Zoohandlung vorbeifahren.
Als er ihr vor dem Laden erklärte, was er dort zu kaufen beabsichtigte, führte das zu einer ernsthaften Beziehungskrise.
>>Ein Gecko? Bist du völlig übergeschnappt?
Und auch noch frei in der Wohnung laufen lassen?<<, rief sie im Auto so laut, dass sich die Passanten umdrehten.
>>Wegen der Fliegen.<<, meinte Werner sanft, blieb aber in der Sache hart.
>>Und biologische Insektenvernichtung ist allemal besser, als das chemische Zeug.<<
Nach ein paar Wochen hatte sich das flinke Tierchen an seine neue Umgebung gewöhnt und sonnte sich wie seine beiden Mitbewohner auf der Terrasse.
Wiederum eine Zeit lang später, kam Post von der Staatsanwaltschaft.
Sinngemäß hieß es dort, man habe in ihrer Angelegenheit zwei Tatverdächtige festgenommen und er werde gebeten zur Identifizierung ins Präsidium zu kommen.
>>Läuft doch alles bestens.<<, dachte sich Werner und ging ins Badezimmer, um sich die Haare zu waschen. Als er mit Shampoo in der Hand unter der laufenden Dusche stand, hielt er inne.
>>Wie oft habe ich seitdem gebadet?<<, versuchte er sich zu erinnern und sah nachdenklich auf die blaue Flüssigkeit.
>>Bestimmt zehn Mal.<<, gab er sich selbst die Antwort.
>>Dann ists auch schon wurscht.<<, seufzte er und rieb sich das Duschgel in die Haare.
>>Entschuldigung.<<




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