Die Hinterbliebenen
von Marc Herrmann

 

Wir nehmen Abschied und erweisen die letzte Ehre. Jeder für sich in tiefer Trauer. Der eine mehr, der andere weniger. Irgendwie ist so eine Beerdigung immer auch ein bizarres Schauspiel. Man versucht in den Gesichtern der anderen zu lesen, was in ihren Köpfen wohl gerade vorgeht. Viele von den umstehenden kenne ich gar nicht, manche nur vom sehen. Ich versuche es bei dir. Du siehst erschöpft aus. Traurig? Ja, auch, aber da ist noch mehr, du lässt die Schultern hängen. Irgendwie scheinst du erleichtert zu sein. Die Erlösung nach langer Krankheit. Dir stand sie wohl nie so nahe wie mir. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir da. Du hast es mir ja gesagt, mir geschrieben, vielleicht wollte ich es nicht wahr haben, weil ich sie so sehr geliebt habe. Weil ich jeden Moment mit ihr genossen habe. Und doch ist sie viel zu früh gegangen. Nach langer Krankheit. Ich war nicht darauf vorbereitet. Ich hatte es die ganze Zeit vor Augen und habe es nicht beachtet, habe mich nicht darum gekümmert wie sehr sie gelitten hat. Wie sehr sie auch unter dir gelitten hat. Nein, ich wollte nicht, dass sie stirbt, ich hätte alles für sie getan. Erst jetzt wird mir klar wie viel Kraft mich das letzte halbe Jahr eigentlich gekostet hat. Ich möchte weinen, aber wozu? Ich werde mir jetzt keine Schwäche mehr erlauben. Jedenfalls nicht vor dir. Ich sehe dich wieder an. Da ist etwas Kaltes in deinem Blick. Etwas herzloses, verachtenswertes. Am liebsten würde ich dich gleich hier zur Rede stellen. Warum sollte ich das tun? Sie ist tot. Unwiederbringlich. Es würde nichts ändern. Ich sollte einfach weiter still meine Beobachtungen machen und mir selbst ein Bild zusammenreimen. Natürlich habe ich das schon vorher versucht. Als sie noch am Leben war. Immer und immer wieder. Doch da war sie eben noch da. Ich hatte den Kopf nicht richtig frei dafür. Doch jetzt geht es. Jetzt, da es zu spät ist. Wo uns nur noch Erinnerungen an sie bleiben. Erinnerungen, die mit der Zeit ihren Schimmer verlieren, verblassen, unwichtig werden und ebenso sterben. Ich sollte jetzt gehen. Mich um anderes kümmern. Um das Danach. Wer kümmert sich um die Hinterbliebenen? Ich werde mich zuerst um die Hinterlassenschaft kümmern. Um meinen Teil des Erbes. Das wird mich genug beanspruchen. Wer sich um dich kümmern wird weiss ich. Da brauche ich mir keine Sorgen machen. Ein letztes Mal geht mir die Todesanzeige durch den Kopf:


In stiller Trauer nehmen wir Abschied von

DIR UND MIR

September 2004 bis Januar 2005



Wie heuchlerisch es plötzlich klingt. Unwirklich. Und noch während ich mich umdrehe und gehe kommt es mir so vor als hätte es sie nie gegeben. Nicht für dich. Du hast es mir selbst geschrieben. Ich habe es selbst in der Zeitung gelesen. Im November. Die Geburtsanzeige. Es freuen sich: Du und Er!



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