Das Hosenscheißersyndrom
von Michael Kuhrdt (mageku)

 



Das Hosenscheißersyndrom

Arthur mußte lange zurückdenken, um an den Punkt zu kommen, an dem ihm klar geworden war, dass sich etwas verändert hatte.
Auf seinen Stock gestützt, machte er Rast auf einer Parkbank, die auf dem Weg lag. Seltsame Dinge hatte er mit ansehen müssen während seines langen Lebens und erst langsam waren seine ersten Vermutungen zur Gewissheit geworden.
>>Nie wieder würde ich das machen!<<, grummelte er in den Kragen seiner abgetragenen Jacke.
>>Nie!<<, schnaubte er, als er den Gehstock in den Boden stieß und sich mit einem Stöhnen von der Sitzfläche erhob.
Kaum war er aber ein paar Schritte gelaufen und es hatten sich wie bei einer alten Dampflok die Scharniere in Bewegung gesetzt, da trat ein breites Grinsen auf sein Gesicht.
Er sah Susu mit ihrem blonden Zopf und blauen Augen, wie sie bei seinem Eintreten vom Spielen aufblickte und ihm ein Bauklötzchen anbot. Und er mußte an Bibi denken, wie er sich an seinem Bein hochzog, um mit braunen Kälberaugen nach Süßigkeiten zu betteln, bei seinem letzten Besuch.
Er mochte die Kleinen, das konnte er nicht abstreiten, auch wenn er sie oft verfluchte.
Als Arthur an eine Weggabelung kam, blieb er stehen.
>>Zuerst das Angenehme und dann die Pflicht?<<. Er rieb sich das stoppelige Kinn.
>>Oder Arbeit kommt vor Vergnügen?<<
Mit einem Schulterzucken nahm Arthur den Schritt wieder auf und marschierte eine sonnenbeschienene Allee entlang.
Eigentlich war es jedesmal dasselbe. Jedesmal wenn er auf seinem wöchentlichen Rundgang zu dieser Stelle kam, stellte er sich diese Frage. Und jedesmal führten ihn seine Schritte zuerst in das Häuschen, das versteckt, wie das Lebkuchenhaus im Wald, geduckt hinter einer Fassade und umgeben von hohen Mauern, auf Besucher wartete.
Anders als im Märchen, öffnete bei seinem Klingeln keine böse Hexe, sondern ein Mann mit hellblondem Haar und außergewöhnlich großen Pantoffeln.
>>Hallo!<<, begrüßte ihn Arthur und bekam seinerseits einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, als er durch die Türe schritt.
>>Irgendwelche Vorkommnisse?<<
Arthur ließ bei dieser Frage prüfend den Blick durch den Flur schweifen, als ob er sich lieber aufs eigene Urteil verließe, anstatt seinem Gastgeber zu vertrauen.
>>Hmmh!<<, wollte es nicht aus Vincent heraus.
>>Das Übliche?<<, fragte Arthur routinemäßig.
>>Sieh` selbst.<<, antwortete der Hausherr leise und stapfte die Treppe voran, die steil in das Obergeschoß führte, wo das Kinderzimmer lag.
An der Zimmertür angelangt, drehte er sich zu seinem Besucher um und legte den Finger auf die Lippen. Dann drückte er langsam die Klinke.
Als Arthur den Raum betrat, kräuselte er die Nase und saugte anschließend scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Langsam machte er kehrt und ließ sich von Vincent zur Tür begleiten.
>>Schlimm?<<, fragte der Vater.
>>Nicht schlimmer als erwartet.<<, ließ Arthur verlauten.
>>Dafür bin ich da.<<
>>Um die Sache in den Griff zu bekommen.<<, fügte er hinzu.
Als Arthur seinen Rundgang fortsetzte, wußte er lange noch die Blicke Vincents auf sich ruhen.
Einerseits tat er ihm Leid einen solchen Satansbraten erziehen zu müssen. Auf der anderen Seite hatte ein Großteil dieser Eltern selbst alles andere als Freude verbreitet in seiner Kindheit.
Nachdem, was er gerade gesehen hatte, war er gespannt, was ihn auf seiner nächsten Station erwartete.

Es hatte damit angefangen, dass Unfälle im Haushalt zunahmen. Eine Mutter rutschte beim Geschirrspülen aus und fiel unglücklich mit dem Hinterkopf auf die harten Fliesen. Ein Vater bekam einen Schlag, als er eine Glühbirne auswechselte. Tod durch Herzversagen.
Alles nichts Ungewöhnliches, wenn es vereinzelt auftritt.

Arthur sah eine Pudelmischung, die angeleint entgegen kam.
Er mußte lachen.
>>Wahnsinn!<<, kicherte er in sich rein.
Nachdem er sich an Vincent vorbei in das Kinderzimmer gezwängt hatte, lag mitten im Raum, in einem Berg von Stofftieren, Susu und schlief. Im Schlaf sah sie süß aus mit ihrem schokoladeverschmierten Mund.

In krassem Kontrast dazu befand sich der Zustand ihrer Umgebung. Als hätte ein Wirbelsturm gewütet, war das Bettchen quer durch dem Raum verschoben, das Schränkchen offen und die Kleider sowie Bilderbücher lagen verstreut auf dem Boden.
>>Wollte keinen Mittagsschlaf machen.<<, wisperte Vincent.
>>Was sagt Wilu zu dem Ganzen?<<
>>Bist du noch nicht fertig mit Aufräumen?<<
Arthur und Vincent konnten sich das Lachen kaum solange verbeißen bis sie unten im Wohnzimmer waren.

Schon von Weitem sah er Nora an der Tür auf ihn warten.
>>Gott sei Dank bist du endlich da!<< rief sie, als er in Hörweite kam.
Er küsste sie auf die Wangen und folgte ihr in das geräumige Innere des Hauses.
Bibis Zimmer lag im Erdgeschoß, sodaß sie nach ein paar Schritten dort waren.
>>Um Gottes willen!<<, entfuhr es Arthur, als die ersten Bilder des Erblickten in sein Bewußtsein drangen. Auf das, was er bei Susu vorfand war er vorbereitet. Bibi dagegen, übertraf seine Erwartungen.
Blieben die Verwüstungen im Mädchenzimmer reparabel, so ging Bibi der Sache auf den Grund. Hier lagen Bücher, Kleider und Spielsachen nicht nur verstreut auf dem Boden.
Die Hälfte der Gitterstäbe an seinem Bettchen waren zerbrochen. Buchseiten lagen zerrissen überall im Zimmer und Spielzeug, so man die Einzelteile richtig zuordnen konnte, hätte als Bausatz im Spielwarenhandel wiederverwertet werden können.
Das Beste war aber, Bibi ließ sich durch ihre Anwesenheit kaum stören. Er sah kurz auf, lachte schelmisch und warf anschließend ein Polizeiauto krachend an die Wand, sodass es in tausend Teile zerschellte.
Bevor Nora >>Ich weiß auch nicht<< sagen konnte, stürmte Arthur in das Zimmer und packte Bibi hinten an der Hose. Mit der anderen Hand entriß er ihm ein Feuerwehrauto, das Bibi genauso zerstören wollte.
>>Meins!<<, schrie er aus Leibeskräften und begann mit beiden Fäusten nach Arthur zu schlagen.
Dieser hob den verdutzten Jungen hoch und ließ ihn vor seinen Augen baumeln. Dabei machte er ein böses Gesicht und drohte mit dem Finger.
Nachdem er den Kleinen wieder auf den Boden gesetzt hatte, gab er ihm einen Klaps auf den windelbepackten Hintern.
>>Mußte sein.<<, versuchte er die halb erschrockene, halb aufgebrachte Mutter zu beruhigen. >>Wie habt ihr das bis jetzt gemacht?<<
Als Arthur nach Kaffee und Kuchen und viel Geschrei im Hintergrund den Heimweg antrat, war in ihm ein Entschluß gereift. Zufrieden stapfte er seiner Wohnung entgegen und blickte einem Vogel nach, der mit einem fetten Wurm im Schnabel zum Nest zurückflog.
Totenstille herrschte im Saal. An den Wänden hatten sich die Eltern auf Stühlen bequem gemacht. In der Mitte des mit weichen Matratzen und bunten Plüschtieren ausstaffierten Raumes, saß und lag eine Gruppe Kinder. Sie musterten interessiert einmal ihre Altersgenossen, um dann wieder fragende Blicke ihren Eltern zu zuwerfen, die kaum zu atmen wagten, so aufgeregt waren sie.
An einer Ecke weinte ein Junge. Ein Stück weiter brüllte ein Mädchen vor Zorn, weswegen auch immer. Fast in der Mitte saßen Susu und Bibi. Sie sahen sich an und lachten. Bibi strich Susu über die Locken und machte >>Eihh<<.
Susu schenkte Bibi einen Elefanten.
Arthur, der das Ganze von der Eingangstür aus beobachtet hatte, ging in die Küche und nahm sich einen Tee.
>>Arthur, hier bist du!<<, Vincent kam in die Küche auf der Suche nach etwas Süßem wie ein Drogensüchtiger auf Entzug.
>>Hast du Nora gesehen? Die läuft mit einem so unschuldigen Lächeln durch die Gegend, dass keiner ihr die Affäre mit Wolfi zutraut.<<
>>Und?<<, entgegnete Arthur, der das ebenfalls mißbilligte.
>>Was meinst du mit und?<<, fragte Vincent erstaunt. >>Nicht nur, dass er selbst Familie hat, er ist ein wichtiges Mitglied unserer Gemeinde und trägt moralische Verantwortung.<<
>>Nicht nur, dass man zuerst mit den Betroffenen spricht, bevor man sich das Maul zerreißt.
Man kehrt besser vor der eigenen Hütte.<<
Vincent zerteilte den Kuchen behutsamer als vorher mit der Gabel und wechselte dann geschickt das Thema.

Arthur lebte in einer kleinen Wohnung mitten in der Stadt. Eigentlich war er kein Stadtmensch. Er liebte die Natur, das Wachsen und Vergehen der Pflanzen und die vielfältige Tierwelt. Der Mensch war ihm zu gleichförmig und zu laut. Aber auch da gab es Unterschiede, die es lohnte genauer zu betrachten. Manchmal konnte man ein wenig helfen, ein andermal mußte ein Erdenbürger gebremst werden, um nicht zuviel Unheil anzurichten.
Er hatte die Wohnung gekauft um näher am Geschehen zu sein. Nicht für ewig, aber doch für die Zeit, die nötig war um alles auf den richtigen Weg zu bringen.
Er sah aus dem Fenster auf die nicht stark befahrene Straße und ging dann in sein Arbeitszimmer, das in den Hof hinunter blickte.
Wann genau die Welt aus den Fugen geraten war, das wußte keiner genau.

>>Es sind weder die Augen?<<, war sich Arthur bald sicher, >>noch ist es die Hilflosigkeit, die es fertigbringen, das alles nach ihrem Willen läuft.<<
Denn das war passiert: Die Kleinkinder hatten die Macht übernommen.
Was bisher selbstlose, genetisch programmierte Arterhaltung war, ist zur rücksichtslosen Triebbefriedigung des Nachwuchses mutiert.
Nichts ging mehr gegen ihren Willen und lange Zeit blieb es unbemerkt.
Arthur war sich ziemlich sicher, das die Kleinen anfangs selbst nicht bemerkten, welche Macht sich in ihnen entwickelt hatte. Nur alles ging plötzlich viel leichter. Das Lieblingsessen stand täglich auf dem Tisch. Das lästige frühe Schlafengehen oder der genau getimte Mittagsschlaf, um den Eltern Zeit zum Durchatmen zu gewähren, gehörten der Vergangenheit an.
Noch deutlicher hätte es allen auffallen müssen, als praktisch sämtliche Strafen ausfielen.
>>Du warst böse, du bleibst jetzt mal in deinem Zimmer!<<, gab es nicht mehr.
Auch nach den schlimmsten Ausrastern, kam der strahlende, nicht im Mindesten schuldbewußte Wonneproppen auf die Eltern zu gestürmt und wurde geherzt und geküßt, als wäre nie etwas geschehen.
Da Schranken völlig weggefallen waren, wer hätte sie auch einfordern können, nahm das Unheil seinen Lauf.
Der Tod begann an jeder Ecke zu lauern.
>>Carla böse! <<, als Urteil aus dem Mund des zweijährigen Bruders, war gleichbedeutend mit Fieber, von dem sie sich schwer nur erholte.
Das Brüderchen, das Zorn erregte, weil es ihre Spielsachen nahm, wachte eines Morgens einfach nicht mehr auf.
Niemand war mehr sicher vor diesen Monstern, weder Fremde noch die eigene Familie.
>>Zum Glück hat jemand eine Zeitschaltuhr eingebaut.<<, murmelte Arthur und blätterte gedankenverloren in seinen Unterlagen.
Wie von einem überirdischen Scherzbold ersonnen, verlor sich die Macht des begabten Nachwuchses, wenn er das erste Mal das Töpfchen benutzte.
Das führte aber dazu, Arthur wußte nicht, ob es sich herumgesprochen hatte in dieser Sphäre oder ob die Kleinen das irgendwie ahnten, das sie ihre Windeln solange wie möglich trugen. Kein Kleinkind wollte diese Kräfte verlieren und so legten einige ihre Polster erst weit nach dem ersten Schultag ab..
>>Glücklicherweise sind nicht alle so.<<, atmete Arthur durch und hatte den Teil gutartiger Kinder vor Augen, mit dem es ihm Spaß machte zu arbeiten. Für sie galten die oben geschilderten Taten nicht.

Arthur sah seine Schützlinge heranwachsen. Susu wurde ein hübsches Mädchen mit langem, braunem Haar und Bibi ein dicklicher Junge, dem Pickel früher sprossen, als die herannahende Pubertät versprach.
Sie lernte auf einer Handelsschule und er studierte Philosophie in einer großen Stadt. In den Semesterferien, es dürfte im Sommer zwischen dem dritten und vierten Jahr gewesen sein, klingelte er an ihrer Tür und sie machten einen langen Spaziergang.
Ein dreiviertel Jahr später verstand Bibi besser, warum man nicht Geburtstag feierte in dieser Gesellschaft, sondern Windelwegtag.
Susu und er hatten beschlossen, dass er sich um das Kind kümmerte.
Und da es anders als früher mit Gefahren verbunden war die Kleinen zu umsorgen, sah Bibi es nicht als Abstieg, von der Wissenschaft an den Wickeltisch zu wechseln.

Eines Nachmittags gab es einen Riesenkrach im Hause Bonset. Lakmar hatte einen Kaschmir ruiniert, indem er ihn mit Filzstiften beschmierte. Entnervt ging Bibi mit ihm in den Garten und setzte ihn in den Sandkasten. Lakmar hatte schon beim Anziehen der Schuhe ein Mordsgeschrei abgeliefert.
Bibi wollte Lakmar durch die großen Glasscheiben des Hauses beaufsichtigen, derweilen er das Haus aufräumen und für das große Familienfest vorbereitete, das am nächsten Tag stattfinden sollte.
Zum Glück kam Susu früher nach Hause. Als sie das Türchen aufschloß, das Einlaß durch die hohe Gartenmauer gab, sah sie Flammen aus dem Dachgeschoßfenster schlagen. Ein Blick in das spöttische Gesicht ihres Sprößlings verschaffte Gewißheit.
>>Feuer!<<, schrie sie und rannte so schnell sie konnte zur Terrassentür.
Im Laufen riß sie das Telefon von der Fensterbank und lief in das Wohnzimmer, wo ihr Ehegatte verstört den Besen sinken ließ.
Vor der Mauer, in Sicherheit, wählte sie nach einer Pause, in der sie ihrem Sprößling den Hintern versohlte, eine weitere Nummer.
Eine halbe Stunde später fuhr ein schwarzer Wagen vor, nicht so groß wie in den Ganovenfilmen aber auch auch nicht zu klein, sodaß man seine Beine ausstrecken konnte.
Er hielt vor dem Haus und Susu, Bibi und Lakmar gingen um den Wagen herum zur Fahrerseite.
>>Hallo Arthur!<<
>>Bibi!<<
Arthur stieg aus und gab ihm und Susu die Hand.
>>Ist es soweit?<<
Er blickte Susu fragend in die Augen.
>>Ja!<<
Arthur sah Tränen in ihren Augen, konnte aber nicht sagen, ob es Wut oder Trauer war, welches sie mehr bewegte.
>>Wir passen gut auf ihn auf.<<, versuchte Arthur sie zu trösten.
>>Und außerdem ist es nicht für ewig.<<
Arthur warf einen nachdenklichen Blick auf das qualmende Haus und die aufgeregten Menschen in der Straße.
Er öffnete die Hintertür und deutete auf den Kindersitz, der schon auf Lakmar wartete.
Als Lakmar in das Gesicht seiner Eltern blickte, wußte er, irgendetwas hatte sich verändert.


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