Edeltraut
von Marc Herrmann

 

Es war einmal ein riesengrosser, grüner Wald. In diesem Wald schien immer die Sonne. Jedenfalls dort, wo sie durch die vielen Bäume hindurchschien und auch nur wenn es gerade nicht regnete. Aber es regnete eigentlich fast nie in dem riesengrossen Wald.
In diesem riesengrossen Wald lebten nun sehr viele verschiedene Tiere friedlich miteinander. Und ausser den vielen Tieren lebten auch noch viele Zwerge in dem riesengrossen Wald. Einer dieser Zwerge hiess Edeltraut. Für einen Zwerg war das ein recht ungewöhnlicher Name. Nicht nur weil Edeltraut ein männlicher Zwerg war, sondern auch, weil Zwerge eigentlich gar nicht Edeltraut heissen. Männliche Zwerge heissen nämlich entweder Günther oder Heinz, oder Heinz-Günther, oder Günther-Heinz. Aber nicht Edeltraut. Edeltraut hiessen nicht einmal weibliche Zwerge. Weibliche Zwerge hiessen nämlich entweder Karla oder Mathilde, oder Karla-Mathilde, oder Mathilde-Karla. Aber eben auch nicht Edeltraut. Der kleine Edeltraut konnte also auch nicht bei der Geburt aus Versehen für ein Mädchen gehalten worden sein.
Nun, an sich ist das ja kein grosses Drama. Aber je älter Edeltraut wurde, desto mehr fragte er sich, warum ihn seine Eltern denn wohl Edeltraut genannt hatten. Als er also seine Eltern eines Tages danach fragte zuckten sie nur unschuldig mit den Schultern und taten so, als wüssten sie es selbst nicht mehr. Ausserdem waren Edeltrauts Eltern schon ganz alte Zwerge und sie hatten schlicht und einfach vergessen, warum sie ausgerechnet ihr dreiundzwanzigstes und letztes Kind Edeltraut genannt hatten. Als heranwachsender Zwerg war der kleine Edeltraut natürlich abenteuerlustig und neugierig und so schnürte er sich eines Tages ein Bündel und machte sich auf den Weg in den grossen, grossen Wald. Irgendwo musste es doch jemanden geben, der wusste, warum ausgerechnet er, als einziger Zwerg Edeltraut hiess und nicht wie alle anderen Zwerge Heinz, oder Günther, oder Heinz-Günther, oder Günther-Heinz. Ganz zu schweigen von Karla, oder Mathilde, oder Karla-Mathilde, oder Mathilde-Karla.
Nachdem Edeltraut schon eine Weile ziellos durch den Wald gestreift war, aber leider noch absolut niemanden getroffen hatte gelangte er plötzlich auf eine Lichtung. Dort sass, an einen Baum gelehnt ein Igel, der eine riesige Brille auf der Nase hatte und verzweifelt versuchte in einem Buch zu lesen. Edeltraut, der selbst die zweite Zwergenklasse für Mittelstandszwerge besuchte, erkannte sofort, dass der Igel das Buch falsch herum hielt und folglich entweder gar nicht lesen konnte und nur einen sehr gebildeten Eindruck machen wollte, oder ein wahres Genie war, das vom normalen lesen eines Buches so stark unterfordert war, dass es sich aufregendere Wege suchte um ein Buch zu lesen. Edeltraut beschloss den Igel einfach anzusprechen, in der Hoffnung er sei sehr gebildet. Immerhin versuchte er scheinbar zu lesen. Als Edeltraut sich vorsichtig näherte schaute der Igel plötzlich erschrocken auf und liess das Buch ins Gras fallen. „Guten Tag...“ sagte Edeltraut vorsichtig. „Mein Name ist Edeltraut.“ „So...“ antwortete der Igel noch ein wenig verdutzt und sichtlich mürrisch. „Mein Name ist Klaus-Dieter.“ „Hallo, Klaus-Dieter.“ Sagte Edeltraut erfreut. „Ich störe dich nur ungern, aber ich bin hier um etwas Wichtiges herauszufinden und ich dachte du könntest mir vielleicht weiterhelfen, du scheinst sehr gebildet zu sein.“ Fuhr Edeltraut fort. „Nun, worum handelt es sich denn, mein Sohn?“ entgegnete Klaus-Dieter sichtlich stolz mit einem etwas altklugen Unterton. „Es geht um folgendes, männliche Zwerge, so wie ich einer bin, heissen normalerweise Heinz, oder Günther, oder Heinz-Günther, oder Günther-Heinz, und weibliche Karla, oder Mathilde, oder Karla-Mathilde, oder Mathilde-Karla, nun haben meine Eltern mir aber den Namen Edeltraut gegeben und ich möchte herausfinden warum, denn ausser mir heisst kein Zwerg Edeltraut.“ Sagte Edeltraut ernst.
Klaus-Dieter machte ein nachdenkliches Gesicht. Er schlug das Buch erneut auf, immer noch falsch herum, wie Edeltraut bemerkte und fing an bestimmt und dennoch scheinbar ziellos zu blättern. Irgendwann schlug er es plötzlich zu, setzte eine sehr wichtige Miene auf und sagte „Nun, mein Junge, wie du schon richtig erkannt hast bin ich ein sehr gebildeter Igel. Doch obwohl ich sehr belesen bin kann ich dir leider keine Antwort auf deine Frage geben. Es tut mir wirklich leid. Aber wenn du hier den kleinen Weg am Ende der Lichtung weitergehst, dann kommst du irgendwann an einen grossen Weiher, da steht eine riesige, uralte Weide und da wohnt Benjamin-Andreas, der Hase, wenn er nicht gerade im Urlaub ist. Vielleicht kann der dir weiterhelfen.“ „Trotzdem danke!“ sagte Edeltraut etwas enttäuscht und traurig, aber seine Eltern hatten ihn ja gut erzogen. „Wenn du es herausfindest, dann sag mir doch einfach, warum, ja?!“ rief Klaus-Dieter ihm noch nach, doch Edeltraut war schon zu weit gegangen um es noch zu hören.
Nachdem er etwa zwei Kilometer gegangen war kam Edeltraut tatsächlich an einen grossen Weiher, an dessen Ufer eine riesige Weide stand, in deren Schatten ein Hase lag. Das musste Benjamin-Andreas sein, da gab es keinen Zweifel. Hastig lief Edeltraut auf ihn zu. Als er schliesslich keuchend und aufgeregt vor ihm stehen blieb nahm Benjamin-Andreas seine Sonnenbrille ab und sah Edeltraut interessiert und zugleich fragend an. „Warum so hastig, junger Freund? Es ist Wochenende!“ sagte der Hase. „Hallo, du musst Benjamin-Andres sein, Klaus-Dieter hat mich zu dir geschickt. Ich bin Edeltraut.“ Entgegnete Edeltraut immer noch nach Luft schnappend. „Edeltraut?“ antwortete Benjamin-Andreas verblüfft. „Nun, das ist ungewöhnlich. Männliche Zwerge heissen doch normalerweise Heinz, oder Günther, oder Heinz-Günther, oder Günther-Heinz, aber nicht Edeltraut. So heissen ja nicht mal weibliche Hasen, die heissen ja Britta, oder Clair, oder Britta-Clair, oder Clair-Britta. Du bist doch ein Zwerg, oder?“ fuhr er grübelnd fort. „Ja!“ erwiderte Edeltraut. „Darum geht es ja gerade. Niemand bei mir zu Hause weiss, warum ich so heisse und Klaus-Dieter wusste es auch nicht und meine Eltern sind schon so alt, dass sie es vergessen haben.“ Fügte er hastig hinzu. „Nun, alles was ich für dich tun kann ist dich weiterzuschicken zu Egon-Joachim, dem Uhu. Der weiss wirklich alles. Wenn der dir nicht weiterhelfen kann, dann heiss ich Edelgard. Oh, tut mir leid, Kleiner, war nicht böse gemeint. Es ist auch gar nicht weit von hier. Egon-Joachim wohnt gleich drüben am anderen Ufer in der Linde.“ Sagte Benjamin-Andreas, nachdem er noch ein Mal ausführlich nachgedacht zu haben schien. Etwas geknickt, doch sichtlich hoffnungsvoller als zuvor bei Klaus-Dieter bedankte und verabschiedete sich Edeltraut und machte sich auf den weg zum anderen Ufer.
Schon von weitem konnte er Egon-Joachim auf einem Ast sitzen sehen, eine Pfeife rauchend, deren Qualm sich elegant im Sonnenlicht gen Himmel kräuselte. Noch bevor Edeltraut die Linde erreicht hatte bemerkte Egon-Joachim ihn und rief ihm freundlich zu „Hallo Edeltraut!“ Hastig beschleunigte Edeltraut das Tempo. Egon-Joachim wusste wie er hiess, dann musste er auch wissen warum er so hiess. „Hallo, Egon-Joachim, woher weißt du, dass ich Edeltraut heisse?“ rief ihm Edeltraut schon keuchend zu, bevor er die Linde überhaupt erreicht hatte. Egon-Joachim zog genüsslich an seiner Pfeife und wartete mit amüsiertem Gesicht ab, bis Edeltraut vor ihm stand und wieder zu Atem gekommen war. Dann sagte er mit bedächtiger Stimme: „Nun, es steht auf deinem T-Shirt!“ Edeltraut schaute an sich runter und lief vor lauter Scham rot an. Wie hatte er das nur vergessen können? Sein Name stand ja auf seinem T-Shirt. Fast hätte er vor lauter Verzweiflung angefangen und sagte nur, um Beherrschung ringend. „Ach so, ich hatte schon gehofft du könntest mir sagen, warum ich als einziger Zwerg Edeltraut heisse und nicht wie alle anderen Zwerge Heinz, oder Günther, oder Heinz-Günther, oder Günther-Heinz?!“ „Das kann ich tatsächlich“ entgegnete Egon-Joachim immer noch amüsiert. Es schien fast als müsse er sich das Lachen verkneifen. „An dem Tag an dem du geboren wurdest wurde in der T-Shirt Fabrik, in der alle Zwerge arbeiten, gestreikt. Weil die Zwerge die Produktion von T-Shirts mit V-Ausschnitt einführen wollten, die Gewerkschaft sich jedoch weigerte. Da aber alle Zwerge zu ihrer Geburt ein T-Shirt mit ihrem Namen bekommen, damit jeder weiss wie sie heissen, musste sich dein Vater damals auf den Weg in die Stadt zu den Menschen machen um ein T-Shirt zu holen. Es versteht sich von selbst, dass das für einen Zwerg eine gefährliche Sache war und dass er sich aus besagtem Grund sehr beeilen musste. So ging er in das erstbeste T-Shirt Geschäft, das er fand und nahm das erstbeste T-Shirt mit, das er finden konnte. Und da stand Edeltraut drauf, weil es Menschen gibt, die so heissen. Deshalb heisst du Edeltraut!“ erklärte er Edeltraut. Edeltraut hätte wieder fast angefangen zu weinen, diesmal jedoch vor Freude. In einem heftigen, nicht enden wollenden Anfall von Freude und Glückseligkeit bedankte er sich bei Egon-Joachim und lief so schnell er konnte nach Hause. Das musste er unbedingt den anderen erzählen, endlich wusste er, warum er Edeltraut hiess und er fühlte sich wie ein ganz, ganz besonderer Zwerg.

Und die Moral von der Geschicht: Hast du einen doofen Namen, verklag die Gewerkschaft!!!

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