Dossier 'Prothese'
von Saha Morgenrot

Kapitel
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1.

Dossier 'Prothese'

Eine kriminalistische Koloneske von Saha Rot und Rutz Rische



"Verdammte Scheiße! Wir sind hier kein Parkplatz für unfähige Journalisten. Bis nächste Woche erwarte ich eine super-recherchierte Geschichte. Glauben Sie nur nicht, dass Sie sich wegen Ihrer Referenzen hier alles erlauben können..."
"Was wollen Sie eigentlich von mir? Soll ich meine Sachen packen?" Ilona spürt ein subtiles Ziehen in der Magengegend.
Nein, feuern würde er sie nicht, dazu ist er zu feige, schließlich hat sie
durch familiäre Beziehungen die halbe Wirtschaftselite hinter sich. Nein, er würde sie mürbe machen, bis sie von selbst das Handtuch werfen würde. Gehen oder bleiben?
Diese Frage beschäftigt Ilona auf der Fahrt über die Autobahn. Beschäftigt sie auch noch, als sie die Haustür aufschließt und Licht macht. Tränen laufen über ihr Gesicht. Vor ein paar Monaten noch war sie in Moskau gewesen. Als Praktikantin in einer Nachrichtenagentur. Jeden Tag eine Katastrophe oder mindestens ein Staatsbesuch. Und jetzt? Keine Aussicht auf eine vielversprechende Karriere. Nur Kleinkrämerei und Bürokratie. Ein verdammt langweiliges Wochenende in Aussicht, denn das Privatleben hat auch nicht mehr viel zu bieten. Und der 33. Geburtstag steht schon vor der Tür. Im Briefkasten nur Rechnungen und ein Brief vom Finanzamt. Gut, der kann bis Montag warten. Nichts Persönliches. Außer vielleicht - die Postkarte auf den Briefkästen ist für sie??
"Ein Mädchen oder Weiheibchen wünscht Papagehenoho sich", singt Ilona, aber zu früh der Freude: Josephine Zuckmann steht auf der Karte und nicht Ilona Brausewetter.
"Josephine Zuckmann?" Ratlos. Die wohnt hier gar nicht. Ilona wirft noch einen kurzen Blick auf die Karte. Kein Wunder. Ist ja auch die falsche Straße. Mainzer Strasse 10. Wohl wieder ein neuer Briefträger im Veedel. Das hier ist jedenfalls die Wormser Str. 10.
Aber was soll’s. Sie wirft die Karte zurück auf die Briefkästen.

In ihrer Wohnung macht Ilona erst einmal ein Nickerchen. Das Gespräch mit ihrem Chef und nicht zuletzt die Tatsache, dass sie jeden Tag der Woche im Suff verbracht hat, haben sie müde gemacht.
Eine Weile später klingelt der Wecker und Ilona macht beschwingt Fassadenputz. Ein fröhlicher Abend mit diversen erotischen Highlights im Kwartier Latäng, für das Ilona eigentlich zehn Jahre zu alt ist, könnte vielleicht ja doch auf dem Programm stehen...
Schnell in die Lederhose, die roten, hochhackigen Stiefel und, nun gut, cremefarbener Strickpulli muss reichen. Immerhin mit tiefem Ausschnitt.
Im Mono Wonderbra, das Ilona nur dank eines Rechercheanrufs bei einer Taxi-Zentrale findet, warten Viola, Ed und der Prinz aus Aachen, der sich aufgestylt hat, wie Ilona erfreut feststellt, und schließlich Artus, auf den Ilona sich besonders gefreut hatte. Im Licht der Kneipe hat Ilona ihm nichts zu sagen, was auch daran liegt,
dass seine Locken heute zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden sind.
Generell verlaufen die Gespräche schleppend, demgegenüber verhält sich der allgemeine Alkoholkonsum überproportional. Im Tulip Club kann Ilona schon kaum noch stehen, vom Tanzen ganz zu schweigen.
Nach kurzem Abschied macht sie sich auf den Weg und flucht, weil kein Taxi anhält. Nach dem Fußmarsch an kalter Winterluft ist sie daheim angekommen fast wieder nüchtern. Auf dem Briefkasten liegt immer noch die herrenlose Postkarte. „Was da wohl draufsteht?“ Ilona steckt sie unter Missachtung des Postgeheimnisses ein. Die Neugier ist größer, wozu ist sie Journalistin?
Und weil ein Abend so nicht enden darf, macht sie noch ein Fläschchen Wein auf und trinkt, bis die Wände wieder anfangen, sich zu drehen. Obwohl ihre Augen damit überfordert sind, liest sie die Postkarte, die inzwischen noch auf ihrem Schreibtisch liegt:

28.01.2001 Köln

Liebes Finchen!

Es ist soviel los gerade!...Puh.
Aber draußen hocken die Blüten in ihren Startlöchern
und fiebern den ersten warmen Tagen entgegen.
Ich hoffe so es geht Dir gut und die Amputation Deines
Zehens bzw. Fingers erübrigt sich. Genauso wie die U-Haft mir nach Schnee und Sonne die Möglichkeit zur Meditation wiedergibt.

Mein Schatz
bis bald
Deine Vera

Wie bitte? Amputation? U-Haft?
Ilona versucht ihre Gedanken zu sammeln. Aber der Wein hat sein Werk getan. Ein gemütlicher Schutzwall aus Watte hüllt ihren Körper ein und sie geht schlafen. Im Hintergrund singt sanft Andrea Bocelli.

In der Nacht träumt Ilona von einem riesigen blutigen Zeh, der laut platschend hinter ihr her hinkt, während sie allein und ziemlich stark angetrunken am Ring entlang geht. Es ist Nacht und außer ihr ist kein Mensch unterwegs. Sie geht schneller und blickt sich ängstlich um: der Zeh, dessen etwa ein Quadratmeter großer Nagel magentafarben lackiert ist, folgt ihr noch immer, bis plötzlich neben ihr mit quietschenden Reifen ein Polizeiwagen hält. Eine platinblonde Transe springt heraus und sagt: „Sie haben meiner Busenfreundin den Zeh gestohlen, sie sind vorläufig festgenommen.“ Die Transe stößt sie in den Wagen, der losfährt und nach einer irre schnellen Fahrt vor dem Arbeitsamt hält.
Ilona will sich verteidigen und sagt: „Der Recherchöse juckt die Milz,“ doch sie wird auf einem Fließband in eine Wartehalle gezogen, in der Hunderte von ausgemergelten Menschen angekettet auf Holzpritschen sitzen. Die Halle scheint unermesslich groß zu sein, sie kann die Wände nicht genau sehen.
„Was macht ihr hier?“ ruft Ilona verstört und ein Mann mit aschblondem Haarkranz antwortet matt: „Wir sitzen hier seit zwanzig Jahren und warten darauf, dass man uns einen Auftrag gibt. Wir sind alle arbeitslose Journalisten, die sich mit ihrem Chef verkracht haben oder denen nichts mehr eingefallen ist. Die Geschichten sind alle schon weggedacht. Das Kontingent an guten Ideen wird vom Großen Zeh verwaltet und wenn der es einmal auf dich abgesehen hat...“

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