Schneekind
von Sabine Herzke (melody)

 

ALICIA

Januar 1791
Schneeflockentreiben. Es schneite so stark, dass man fast nicht atmen konnte.
Das Kind stolperte, fiel auf die Knie und kämpfte sich wieder hoch. Fahrig wischte es sich durchs Gesicht, das vom Wetter und früheren Tränen so rau geworden war, dass die Haut bei der kleinsten Berührung schon blutete.
Es hatte den fernen Lichtschimmer im Blick. Da musste es hin.
Der Sturm wurde heftiger. Es begann dunkel zu werden. Das Kind stürzte wieder, und dieses Mal hatte es nicht mehr die Kraft, noch aufzustehen und weiterzugehen. Es lag dort in der kleinen Kuhle, über die es gestolpert war und rollte sich ein. Jetzt hoffte es nur noch, dass vielleicht ein Wagen vorbeikam, ehe es zu spät war.

1. November 2008
Ich hatte eigentlich keine große Lust auf das kleine Dorf, in dem meine Tante Marion lebte.
„Alicia“, hatte meine Mutter gesagt, „deine Tante hat eine Lehrstelle für dich gefunden.“
Na ja, es stimmte. Ich wollte Glasfachwerkerin werden. In der Schulzeit hatte ich in einer Werkstatt bei uns am Berg ein Praktikum gemacht und war quasi dafür entflammt. Leider bildete diese Werkstatt nicht mehr aus.
Wie das Leben so spielt, war ausgerechnet bei uns – im Harz! – keine Lehrstelle frei, also schrieben wir meiner Tante Marion an die Nordsee. Und die fand natürlich prompt etwas. Als Lehrstelle ging das natürlich erst im nächsten Sommer, aber ich konnte dort als Ungelernte anfangen und hatte dann im August schon einen Vorsprung.
Der Nachteil war nur, dass sie zwar nur zwanzig Kilometer vor Hamburg wohnte, aber in einem gottverlassenen Dorf. Weit weg von meinen Freunden, fern jeder Unterhaltung. Ich konnte schon froh sein, wenn es irgendwo ein Kino und wenigstens ansatzweise so etwas wie eine Disco gab. Keine tollen Aussichten.
Jetzt saß ich also im Zug von Hannover nach Hamburg. Von dort ging es dann mit der Regionalbahn weiter.

Als ich in Langenwege ankam, regnete es in Strömen. Das ging ja gut los. Ich schleppte meinen Koffer auf den Bahnsteig und sah mich nach Marion um. Sie war leicht zu erkennen, sie hat die gleichen leuchtend roten Haare wie ich. Auf diesem kleinen Bahnsteig hielten sich ohnehin nicht viele Leute auf. Sie hatte Schutz unter dem Dach gesucht und kam mir jetzt mit einem Regenschirm entgegen. Wir hatten uns seit zwei Jahren nicht gesehen. Standen einen Moment voreinander und musterten uns. Ich war jetzt so groß wie sie, fast 180.
Ich lächelte zögernd und gab ihr die Hand.
„Hallo.“
Sie war resoluter als ich und umarmte mich. „Wie war die Fahrt?“ fragte sie.
„Komm schnell ins Auto, bevor du total nass wirst! Bei mir zu Hause ist es warm. Du bist das Wetter hier an der Küste ja nicht gewöhnt.“
Ich nickte nur und schaute schweigend aus dem Fenster.
Wir fuhren zehn Minuten bis zu ihrem Haus. Es lag nicht im Dorf, sondern auf halbem Weg nach Neudorf auf einem Hügel. Wurt nannte sie das, es gab sogar einen Wegweiser dorthin: Wurt 1. Ich fragte Marion, aber es gab nur das eine Haus, eine Wurt 2 war nicht vorgesehen.
Im Sommer und bei Sonnenschein war es hier bestimmt schön. Jetzt sah es trostlos und grau aus. Mehrere Fichten und Obstbäume standen auf dem Grundstück. Die großen Fichten machten den Garten kleiner, als er war. Der größte Obstbaum, mit einem Baumhaus in der Krone, war ein stabiler alter Kirschbaum am Gartentor.
„Ganz schön einsam hier“, sagte ich.
Marion schloss das Auto ab und kramte nach ihrem Hausschlüssel. „Das ist nur am Anfang so. Du wirst die Stille noch lieben lernen. Wir sind hier von der Welt ja nicht abgeschnitten. Es gibt eine Buslinie in beide Richtungen. In Neudorf gab es mal ein Kino, aber das hat geschlossen. Die Dörfer haben beide ein paar Cafés. Die Scheune ist zu einer Discothek umgebaut worden. Und der Kanal hat eine Senke hinter dem Knick, das ist im Sommer unser Badesee.“
Das war besser als nichts. Doch nicht die große Leere. Zum Einkaufen musste man aber vermutlich nach Hamburg fahren.
Das Haus war nicht besonders groß. Von dem kleinen Flur ging links gleich eine Tür zur Wohnküche ab und auf der anderen Seite war eine Gästetoilette. Der Flur knickte ab und führte dann in ein großes Wohnzimmer. Geradeaus gab es eine Treppe. Unsere Schlafzimmer waren oben. Meins lag nach hinten raus zum Garten. Es war ziemlich kühl.
„Das kommt von den Bäumen, die um das Haus stehen. Sie halten einiges von der Sonne ab. Ansonsten wäre es hier oben ein Backofen“, sagte Marion. Sie stand in der Tür, die Hände in den Hosentaschen vergraben. „Ich mach zu sieben Uhr Abendes-sen. Kommst du dann runter?“
„Ja, mach ich. Ich pack dann mal aus“, sagte ich.
Wir mussten uns beide erst mal aneinander gewöhnen.

Ich legte Koffer und Tasche auf das Bett und öffnete sie. Es gab einen Einbau-schrank und eine Kommode. Meine Sachen fanden dort Platz, einen Stapel Bücher kam in die Regalbretter, der Laptop auf den kleinen Tisch, mein Handy auf den Nachttisch. Dann legte ich mich hin. Um mich herum ungewohnte Stille. Ich schlief ein. Um sieben Uhr ging ich nach unten. Ich musste müder sein, als ich dachte. Neben der Eingangstür war nämlich kein Raum mehr. Ich ging langsam durch das Erdgeschoss und drehte dann um. Als ich zurückkam, fiel warmer Lichtschimmer durch den Türspalt in die Halle.
Marion sah auf. „Nanu, wo warst du denn eben, ich hab dich doch gehört“, sagte sie lächelnd.
„Ich weiß auch nicht, ich hab die Küche nicht gefunden“, sagte ich und erwiderte ihr Lächeln.
„Ein bisschen verwinkelt ist das Haus schon, das gebe ich zu“, sagte meine Tante und wandte sich wieder dem Herd zu. „Ich habe Bratkartoffeln gemacht, ich hoffe, du magst sie.“
Klar mochte ich sie, mit Speck und Eiern und einem Salat dazu. Wir saßen uns am Küchentisch in der Essecke gegenüber und schätzten uns ein bisschen beim Essen ab. Sie wusste von mir ja wenig, aus den letzten zwei Jahren, und jetzt wohnte ich bei ihr und wollte eine Ausbildung über drei Jahre machen. Und auch ich kannte meine Tante eher vom Namen her. Sie kam uns ab und zu besuchen, das war alles.
Nach dem Essen zeigte Marion mir ihr Haus. Es war verwinkelter, als es auf den ersten Anschein ausgesehen hatte. Es gab noch ein paar Kammern und unbenutzte Räume, die mir nicht aufgefallen waren, als Marion mir die bewohnten Zimmer gezeigt hatte. Ich musste einfach abgelenkt gewesen sein, dass ich die Küche nicht gefunden hatte.
Die erste Nacht blieb mir noch lange im Gedächtnis. Die Balken knackten. Ansonsten war es im Haus ganz still. Draußen hörte ich die Krähen und das Rauschen der Bäume. Ich machte das Nachttischlicht wieder an und las ein paar Seiten, damit ich einschlafen konnte.
Am nächsten Morgen wachte ich um acht Uhr auf. Ich hatte zehn Stunden geschlafen. Das Sonnenlicht fiel hell in mein Zimmer.
Marion machte gerade Frühstück, als ich nach unten kam. „Guten Morgen!“ sagte ich fröhlich. „Jetzt geht’s mir besser, ich fühle mich wie nach drei Wochen Schlaf!“
Marion lachte. „Das macht die Luft hier oben. Wir können ja heute ans Meer fahren.“
Genau das taten wir auch. Wir machten einen langen Spaziergang am Wasser, aßen im Strandrestaurant zu Mittag und fuhren nachmittags zurück.

An diesem Abend saßen wir im Wohnzimmer zusammen. Ich mochte es. Es gab ein großes Fenster, das eine ganze Wand einnahm und auf eine Terrasse hinausging und dahinter in den Garten. Es gab hier Bücherregale und war mit rot-warmem Holz, hellen Tapeten und weichen Teppichen eingerichtet, wunderschöne Möbel, die an-scheinend geerbt waren. Ich war noch nie hier gewesen. Ich streifte langsam durchs Zimmer.
„Von wem kommen die Möbel?“
„Von Onkel Hans. Du hast ihn ja nicht mehr kennengelernt, aber er war ein wunderbarer Mann. Weil er und Tante Else keine Kinder hatten, hinterließ er mir die ganzen Sachen.“
„Überhaupt nichts Modernes hier“, bemerkte ich.
„Wenn du einen CD-Spieler und Fernseher meinst, die sind dort in dem Schrank.“
Ich öffnete die Flügeltüren und fand dahinter die komplette Elektronik. Sie kam mir selten benutzt vor. Etwas daran war seltsam. Ich kam bloß nicht drauf.
Ich kuschelte mich in einem Sessel zusammen und sah dem Flammenspiel im Kamin zu. Auf dem Tisch stand eine Schale Gebäck. Überall standen Kerzen. Ich hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß, aber meine Gedanken wanderten immer wie-der ab.
„Ganz schön still hier.“
„Noch mehr als bei dir zu Hause?“
„Wir haben doch das Sägewerk und den Wasserfall. Um die Ecke ist eine Bundesstraße. Da ist immer was zu hören.“
„Ich könnte dir eine Geschichte erzählen. Macht ihr so was überhaupt noch?“
Ich musste lachen. „Das macht doch keiner mehr.“
„Filme sind doch auch Geschichten oder? Und erfährt ja keiner, dass ich dir was erzählt habe.“
Sie lachte und zwinkerte mir zu. „Nicht, dass du denkst, deine alte Tante will dich hier langweilen.“
„Ich kann ja aufstehen und gehen, wenn du mich langweilst.“
Sie lachte noch lauter. Dann begann Marion mit der Erzählung.
Es war die Sage vom Winterkind. Ich tat erst so, als gehe mich die Geschichte nichts an, aber lange hielt ich es nicht durch.

6. Dezember 1850
Am Nikolaustag jenes Jahres erschien unangemeldet ein guter Freund der Familie Reuther in dem Haus in Langenwege. Es schneite heftig, und der Wind wurde zum Abend hin stärker.
Das Mädchen, das den Besuch anmeldete, sah erschrocken aus. „Da ist Herr van Tast gekommen. Ich weiß auch nicht... Vielleicht könnte einer der Herrschaften eben mitkommen?“
Anna stand sofort auf. „Ich komme mit, danke, Carolina.“
Sie ging besorgt zur Tür. Carolina war nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Aber dann erschrak sie selbst. Gart van Tast konnte sich nur noch mit letzter Kraft aufrecht halten und war kreideweiß.
„Anna“, keuchte er, „gut, dass ihr da seid. Da draußen liegt ein Kind! Es sieht aus, als wäre es erfroren... tot...“
Carolina schrie auf.
Anna stürzte nach draußen. Carolina sagte der Familie Bescheid. Robert ließ sie bei seinem Vater und schob seine Frau beiseite.
Aber da war nichts.
„Bist du dir sicher, Gart? Hast du da wirklich etwas gesehen?“ fragte er, öffnete den Spirituosenschrank und goss ein paar Gläser ein, reichte seinem Freund eines.
„Ich bin ganz sicher! Glaubst du, ich lüge?“ gab Gart zurück und ließ sich in einen Sessel fallen.
„Beschreib doch noch einmal, wo es lag und wie es aussah.“
Gart trank einen Schluck vom Rum und erzählte noch einmal, was er gesehen hatte.
Robert Reuther sah seinen Sohn an. „Was glaubst du, Robert, kann so etwas sein?“
„Ich weiß es nicht, ich kann mir das nicht erklären“, sagte Robert. Er war ein Mann, der fest auf der Erde stand. Er hatte mit solchen merkwürdigen Dingen nichts am Hut.
Robert sah nachdenklich aus. „Ich bin nicht sicher...“, murmelte er. „Ich hätte damals darauf hören sollen, anstatt es einfach als Unsinn abzutun.“
„Was denn, Vater?“ fragte Anna.
Robert richtete sich auf. „Ich habe es euch nicht erzählt, um euch nicht zu beunruhigen. Es hängt mit dem Bau dieses Hauses zusammen.“ Er schwieg, während Carolina Tee hereinbrachte. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wollte er fort-fahren, sagte dann aber: „Catarina soll das auch hören.“
Anna stand auf und verließ das Zimmer, um kurz darauf mit ihrer Tochter, einer hübschen Siebzehnjährigen, zurückzukehren. In Catarinas Gesicht stand Verwunderung. Es kam selten vor, dass sie herunter gerufen wurde, um an einer Familienkonferenz – und um nichts anderes handelte es sich, meinte sie – teilzunehmen.
„Was ist los?“ fragte sie.
Die anderen machten alle so ernste Gesichter. Ihr Großvater griff nach ihrer Hand. „Setz dich, mein Kind. Um zu verstehen, was ich gleich erzählen werde, musst du wissen, dass Herr von Lendig vorhin, als er kam, ein erfrorenes Kind im Garten liegen zu sehen glaubte. Wir gingen daraufhin hinaus, um selbst nachzuschauen, aber es war fort – oder es war nie dort.“
Catarina machte große Augen. „Und du weißt etwas darüber, Großvater?“
„Ich befürchte es. Es gibt zwei Geschichten – die eine ist mir selbst widerfahren, die andere wurde mir während dieses Ereignisses erzählt.“
Er trank einen Schluck Tee. Dann begann er.
„Es war im Winter um die Jahrhundertwende. Ich war damals ein junger Mann, der Bauland suchte. Gerade frisch verheiratet, wohnten wir bei meinen Eltern – so war es ausgemacht – bis ich selbst gebaut hätte.
Dann kam dieser Mann, der mir günstig ein Grundstück anbot. Ich schaute es mir an und kaufte es. Alles war in Ordnung bis auf den Preis, denn er war völlig unter Wert. Ich war damals nur froh, das Grundstück so billig zu bekommen. Aber dann kamen die Schwierigkeiten mit den Bauarbeitern. So manch einer lief uns weg, und die blieben, weigerten sich, zu sagen, was los war. Bis auf den ältesten von ihnen, der er-zählte mir eines Abends eine Geschichte.
„Sehn Se“, sagte er, „ da ist was nicht geheuer mit der Gegend hier. Vor’n paar Jah-ren haben sie von Langenwege n‘ Kind, so neun, zehn Jahr alt, mit’n bannig wichti-gen Brief nach Neudorf geschickt. Das Stück Land hier war da noch Gemeindeland, ‚ne alte Weide. War ja Winter, `n richtig strenger mit viel Schnee. Den Tag hat es schon `ne Sturmflutwarnung gegeben, aber der Brief musst‘ unbedingt noch rüber to`n Herrn Gemeinderat. Also ham se dat Kind geschickt. Die dachten sich, sollte dann in Neudorf übernachten und nächsten Tag zurück bracht werden. Der Brief wär wohl auch mitgenommen worden, aber se kriegten ihn nich‘ rechtzeitig, so dass dat Kind ohne geh’n musste.
Also, war jedenfalls so ungefähr da drüben bei dem Bach, da wurde es jedenfalls am nächsten Tag gefunden, da wurde es vom Sturm überrascht. Seitdem soll’s hier herumgeistern, haben schon genug gesehen, auch ganz ernsthafte Leute, die nich‘ schichtig kieken. Sehn Se tau, dat Se aufpassen.“
Ich bedankte mich bei dem Bauarbeiter und hielt die Geschichte für ein Märchen. Es passierte auch nichts weiter, bis auf dass um unser Haus immer ein großer Bogen gemacht wurde. Die Leute begannen zu reden.“
Catarina schlang die Arme um den Körper. „Und weißt du, warum die das Kind gesehen haben? Warum tauchte es auf?“
„Nein. Das konnte niemand sagen.“

2008
„Mehr wusste damals keiner“, beendete Marion die Geschichte. „Nach der Legende taucht das Kind immer bei schlechtem Wetter auf. Es starb an einem Tag, als mehr Schnee als sonst lag.“
Ich gähnte herzhaft. „Eine richtige Gespenstergeschichte in diesem Haus, mal was Neues.“
Dann stand ich auf, ich war etwas wacklig auf den Beinen. „Gute Nacht, Marion. Ich gehe schlafen.“
„Gute Nacht, Alicia.“
In meinem Zimmer schaute ich in den Garten hinaus, ob ich das Kind sehen konnte. Natürlich war dort nichts. Ich kam mir albern vor und machte das Nachtlicht an, bevor ich die große Lampe ausschaltete. Zitternd vor Kälte schlüpfte ich ins Bett und wickelte mich in mein Federbett. In dieser Nacht träumte ich diffuse unzusammenhängende Fetzen aus der Geschichte.

Die ersten Tage hatte ich noch frei. Wir gewöhnten uns langsam aneinander. Marion nahm mich ein paar Mal an die See mit, ich machte Ausflüge nach Hamburg. Am 15. November sollte ich in der Werkstatt anfangen.

Etwas war anders, als ich am Sonnabendmorgen vor dem 15. aufwachte. Es war zu still. Verwundert schaute ich aus dem Fenster. Schnee. Wohin man sah. Wir waren über Nacht eingeschneit.
„So einen frühen Wintereinbruch gab es ja seit Jahrzehnten nicht in dieser Gegend“, sagte Marion.
Nach dem Frühstück wollte ich raus und suchte mein Winterzeug, konnte es aber beim besten Willen nicht finden.
„Marion? Hast du meine Winterschuhe und die Jacke woanders hingelegt?“
Sie sah überrascht aus. „Nein, warum sollte ich? Sind die Sachen weg?“
„Ich hab alles in den Schrank gepackt, aber jetzt ist es nicht mehr drin.“
Marion zuckte mit den Schultern. „Wir schon wieder auftauchen, vielleicht hast du es irgendwo anders hingelegt.“
Sie ging hinunter und sagte, sie gehe Einkaufen. Sie wirkte nachdenklich, als machte sie sich mehr Gedanken über die Sache, als es wert war. Komisch. Ich suchte noch einmal danach, aber als ich nichts finden konnte, ließ ich es sein und blieb im Haus. Ich kam nicht auf die Idee, mir einfach was von ihr zu leihen. Da hatte das Haus schon das erste Mal Macht über meine Gedanken.
Marion kaufte es mir am gleichen Tag neu, damit ich wenigstens zur Arbeit kam, ohne dabei zu erfrieren.

Ab dem 15. November war ich dann also in der Werkstatt. Die Arbeit war hart, und die ersten paar Tage fiel ich um neun Uhr ins Bett und schlief wie ein Stein.
Sie hatten sich auf Gläser verschiedenster Art spezialisiert, Trinkgefäße und Schalen mit ausgefallenen Dekors, da waren Ideen gefragt. Die ersten Tage war ich einfach nur die Neue. Sie warnten mich ständig davor, dem Feuer zu nah zu kommen und ließen mich vor allem putzen. Ich hielt die Augen und Ohren offen, um so viel aufzuschnappen, wie ich konnte. Bald ließen sie mich zusehen und zeigten mir die ersten Arbeitsabläufe.
Ich hatte mich am ersten Tag bei allen vorgestellt. Es war ein kleiner Betrieb, nicht mehr als 8 Mann, unter denen auch ein paar Frauen waren.
„Ich dachte, das ist immer noch ein Männerberuf“, sagte ich.
„Du bist doch auch ein Mädchen, oder?“
Damit war die Frage geklärt. Ich verstand mich mit allen gut, kam mit allen aus, aber dann kam die Einladung zu einer Party am 6. Dezember bei Elke.
„Also, du kannst gerne kommen“, erklärte Elke, „aber...“ Sie brach ab und wechselte mit Marianne einen schnellen Blick.
Thomas gab zögernd eine Antwort. Nicht, dass die mir weiterhalf.
„Es liegt am Haus. Man hört ab und zu mal Geschichten...“ Dann versenkte er sich in das gleiche Schweigen, das die anderen umgab.
„Was für Geschichten? Was ist hier los?“
„Alicia, ich hab dich wirklich gern, aber ich weiß nicht, ob das so gut ankommt, wenn du meine Party besuchst.“
„Wegen dem Haus, in dem ich wohne?“ ich war wie vor den Kopf geschlagen.
Sie schüttelte hilflos den Kopf. Thomas wandte sich ab. Caro zuckte hilflos mit den Schultern. Sie war natürlich auch eingeladen und mit ihr verstand ich mich noch am besten und jetzt war sie für mich unerreichbar.
Ich war ratlos. Wir hatten den 2. Dezember. Ich war eine Woche da und schon die Außenseiterin.

In dieser Nacht...

1790
Sie hatten wochenlang beraten. Es ging um die Neuvermessung des großen Brachlandes zwischen Neudorf und Langenwege. Darüber gerieten die beiden Gemeinderäte in Streit, es gab manche komische Sitzung darunter, über die beide Dörfer lachten. Doch langsam wurde es Zeit. Umliegende Gemeinden hatten den Streit längst mitbekommen und versuchten ihrerseits, an das Stück Land zu kommen.
Endlich beeilte man sich. Verträge wurden geschrieben, hin- und hergeschickt, Lagepläne gezeichnet.
Einer der Techniker gehörte auch dem Gemeinderat an. Er hatte einen zehnjährigen Sohn, für den das spannendste die abendlichen Berichte des Vaters waren.
Im Januar des folgenden Jahres wurde das Wetter schlechter. Genau zu diesem Zeitpunkt musste der Vertrag nach Langenwege.
„Es hilft alles nichts, wir müssen den Jungen schicken, auch bei dem Wetter“, sagte der Vater.

Wilhelm fand es aufregend, ganz allein in den Nachbarort zu laufen. Für ihn war es ein großes Abenteuer. Einen Tag später brach er auf. Es war acht Uhr morgens. Gegen späten Nachmittag sollte er drüben ankommen. Der Himmel war klar, die Sonne schien. Das schlechte Wetter schien vorbei zu sein. Es lag Schnee.
Wilhelm winkte seinen Eltern noch einmal zu und machte sich auf den Weg.
Das gute Wetter hielt bis Mittag an. Dann schlug es um. Schwere Wolken zogen auf, der Wind wurde stärker, und es begann zu schneien. Anfangs fand Wilhelm das noch lustig. Aber nicht lange. Bald kämpfte er dagegen an. Er musste immer öfter anhalten. Es wurde dunkel. Er erkannte seinen Weg nicht mehr und strauchelte. In der Ferne erkannte er schon die Lichter von Langenwege. Plötzlich hasste er den Schnee.
Als die Dämmerung in Dunkelheit überging, fiel er neben einem Baum zu Boden und konnte nicht mehr aufstehen. Taubheit und Wärme breiteten sich in seinem Körper aus, und dann fühlte er gar nichts mehr.

3. Dezember 2008
Ich fuhr schweißgebadet und vor Kälte zitternd hoch. Die Leuchtziffern auf meinem kleinen Wecker zeigten halb zwei morgens. Es dauerte, bis ich mich wieder zurechtgefunden hatte. Was für ein Alptraum. Ich hatte nicht davon geträumt, dass Wilhelm im Schnee starb, ich war im Traum Wilhelm gewesen. Ich schauderte. Dieser Traum war echter, als er sein sollte. „Wilhelm“ war nur eine alte Sagengestalt aus einer Legende mit einem wahren historischen Kern und damit Basta.
Marion hatte mir diese Geschichte erzählt, und seitdem dachte ich eben öfter dar-über nach. Wer würde das nicht, wenn auf seinem Grundstück jemand herumgeistert, der dort zu Tode gekommen ist?
Ich stand leise auf und trank ein Glas Wasser. Das Licht im Zimmer half, die letzten Reste dieser Gedanken zu vertreiben. Ich ließ es an, als ich wieder unter die Decke schlüpfte. Dann schlief ich traumlos bis zum Morgen.

Ich dachte wieder daran, als ich zum Frühstück herunterkam. Im Bad hatte ich einen kurzen Blick in den Spiegel geworfen, mich schnell gekämmt und fertig gemacht und es dann vorgezogen, ganz schnell von ihm wegzukommen. Dafür traf ich Marion in der Küche.
„Guten Morgen.“ Ich gähnte.
„Guten Morgen Alicia“, rief sie fröhlich, drehte sich schwungvoll mit der Teekanne in der Hand um. „Hast du gut geschlafen?“
„Man muss sich wohl an alles gewöhnen. Dauert doch noch ein paar Tage, bis ich wieder durchschlafe.“ Ich gähnte wieder. Sie nickte verständnisvoll.
„Ich habe deine Wintersachen wiedergefunden – in der Waschküche. Du weißt wohl nicht, wie sie dahin gekommen sind?“
„Keine Ahnung! Du hast es ja nicht da hingelegt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Wir werden uns doch wegen so etwas nicht streiten?“

Ich machte mich auf den Weg zur Arbeit, aber ich war erst am Kirschbaum, als ich fast wieder umgedreht und zurück ins Haus gelaufen wäre. Der Weg zum Haus war geräumt gewesen, aber ich hatte auf einmal panische Angst vor Schnee. So ein Blödsinn. Ich liebte Schnee schon immer!
Ich zeigte im Bus meine Fahrkarte vor und schaute mich nach einem Sitzplatz um. Ich begegnete ein paar Blicken. Die Leute sahen sofort weg. Ich war verwirrt. Hatte ich Kleidung an, die nicht zusammenpasste? War ich komisch geschminkt? Ich spürte Unsicherheit, Wut – und bei einigen Fahrgästen eindeutig Angst. Vor mir. Ich zuckte richtig zusammen, als ich an einem Mann vorbei kam und machte mich in meinem Sitz in der Nähe vom Hinterausgang so klein wie möglich. Ich merkte aber auch, dass der Busfahrer so schnell wie möglich wieder anfuhr. Die Haltestelle lag fast genau gegenüber der langen Auffahrt zum Haus. Hier war sonst keiner ein- oder ausgestiegen.
Ich wurde nachdenklich, als ich in der Werkstatt ankam und Andreas mir als erster begegnete. Er lächelte mich an und sagte Guten Morgen. Dann fror sein Lächeln ein und fiel ab.
„Was hast du?“ fragte ich verwirrt.
„Nichts!“ versicherte er hastig, seine Stimme stockte kurz bei dem Wort, er fiel fast über seine Füße, als er an mir vorbeiging und weiter lief, und dann schlug er die Tür zum Büro hinter sich zu.
Ich hängte kopfschüttelnd meine Jacke auf und stemmte die schwere Tür zur Werkstatt auf, froh aus dem grässlichen Schnee raus zu sein. Im Flur war es auch nicht gerade warm.
„Guten Morgen!“ rief ich und schaltete die Schmelzöfen ein, stellte Glaspuder und Sand und die anderen Kisten bereit. Als keine Antwort kam, drehte ich mich um.
„Was habt ihr denn?“
Jemand schrie, hoch, spitz, und dann brach die Stimme mittendrin. Es lief mir kalt den Rücken herunter. „Was ist los?“ fragte ich tonlos.
Elke hatte geschrien. Sie war ganz weiß im Gesicht. Ich stürzte zu ihr hin, wollte sie umarmen, aber sie wich zurück.
„Rühr mich nicht an!“
Christoph legte schützend seinen Arm um sie. Plötzlich starrten mich sechs Augenpaare an. Ich fühlte mich immer unwohler.
„Könnt ihr mir wohl endlich sagen, was los ist?“ forderte ich mit zitternder Stimme.
„Schau mal in den Spiegel“, sagte Elke. Sie sah immer noch blass aus. Achselzuckend tat ich es.
„Ich sehe nichts. Etwas zerzaust, ja, aber das ist bei dem Wetter ja auch kein ...“
Weiter kam ich nicht.
„Hör auf zu lügen!“ brüllte Elke, fuhr auf dem Absatz herum und rannte raus. Die Tür flog krachend ins Schloss.
„Und ihr? Sagt mir einer von euch, was los ist? Seid ihr stumm geworden?“
Ich schaute sie an, jeden einzelnen, trat auf sie zu. Bis ich zu Andreas kam, der mir ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen sah.
Erschüttert sank ich auf den nächsten Stuhl. Ich hatte Andreas Blick erwidert, und irgendetwas war geschehen. Ich könnte es heute noch nicht beschreiben. In dem Moment hatte ich das Gefühl, in seine Augen – blau waren sie – gefallen zu sein. Ich nahm seine Iris wie einen kalten See wahr. Ich hatte das Gefühl, er war der einzige, der mir Contra bieten konnte und ich wusste noch nicht einmal gegen was.
Soweit dachte ich, dann: was für ein Schwachsinn.
Das nächste was ich sah, war Bastians Gesicht. Er stützte mich. Ich lag auf dem Boden.
„Du hast uns vielleicht einen Schreck eingejagt!“ sagte er erleichtert, aber ich bemerkte auch, dass er meinen direkten Blick mied.
„Es ist wohl besser, wenn du heute zu Hause bleibst“, sagte er leise, vorsichtig und suchte nach Worten. „Ich klär das mit dem Chef ab. Aber... es ist besser so. hast du wirklich nichts gesehen, als du in den Spiegel geguckt hast?“
Flehend sah er mich direkt an, rang nach Luft und Schloss gequält die Augen.
„Nichts“, bestätigte ich. „Aber was auch immer ihr da seht, die Leute im Bus heute morgen haben es auch gesehen.“
Dann ging die Tür zum Büro auf und der Chef schaute heraus.
„Kommen Sie bitte einmal zu mir, Alicia?“ fragte er.
Ich ging stumm zu ihm herüber und schloss die Tür hinter mir.
Lukas sah mich nicht ohne Mitgefühl an, wies auf einen Stuhl.
„Setzen Sie sich doch.“
Ich tat es. Meine Knie waren zu weich zum Stehen.
„Was ist da passiert?“
„Ich weiß es nicht. Sie hassen mich auf einmal. Sie haben Angst vor mir. Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.“
Er hatte sich auf seinen Schreibtisch gesetzt, ich schaute zu ihm auf. Er sah mir in die Augen, zuckte nicht zurück. Das hatte ich schon im Vorstellungsgespräch gemerkt. Lukas war ein Meister darin, Leute zu durchschauen. Seine Menschenkenntnis war gefährlich.
„Ich sage es ungern“, begann er.
Ich versteifte mich. „Werfen sie mich raus?“
„Sie bringen Unruhe in die Werkstatt.“
„Das können Sie nicht machen. Ich habe immer gut gearbeitet bisher…“
„Sie sind, was Sie sind.“
„Das können Sie nicht machen!“
„Ich werfe Sie nicht raus. Aber ich beurlaube Sie bis nach Weihnachten. Damit Sie ein bisschen Abstand gewinnen und dann können wir alle von vorn anfangen.“
Mir blieb keine Wahl. Ich stand auf und nickte ihm zu.
„Danke“, sagte ich leise.
Er begleitete mich zur Tür. „Nehmen Sie es bitte als das was es ist. Ich beschütze Sie nur. Nicht dass Ihnen hier etwas zustößt.“
Ich atmete aus. „Danke Lukas.“
Dann stiefelte ich durch die Werkstatt, riss meinen Mantel vom Haken.
Es war niemand zu sehen. Wer weiß, wo sie sich versteckt hatten. Dann bewegte sich etwas. Bastian kam auf mich zu.
„Was hat der Chef gesagt?“
„Er hat mich beurlaubt. Ich bin nächstes Jahr wieder da.“
„Das tut mir leid.“ Er sah tatsächlich mitleidig aus.
Ich seufzte. „Schöne Weihnachten, Bastian. Grüß die anderen von mir.“
„Mache ich.“
Ich durchsuchte meine Tasche nach der Fahrkarte und nickte ihm zu.
„Bis dann.“ Ich ließ die Werkstattür hinter mir ins Schloss fallen.
Ich fuhr zuerst in die Stadt, wo ich absichtlich viel Zeit damit zubrachte, Geschenke auszusuchen und einfach bummeln zu gehen. Ich vermied es den Leuten in die Augen zu sehen, wandte an den Kassen den Blick auf der Suche nach Kleingeld ab.
Trotzdem war ich schon um zwölf Uhr zu Hause. Ich traf Marion am Kirschbaum. Sie war auf dem Hauptweg zum Haus am Salzstreuen.
„Hallo Marion.“
Sie drehte sich um. Ihre Augen weiteten sich leicht, aber nur für eine Sekunde, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. „Warum bist du denn schon zurück?“
Ich versuchte so beiläufig wie möglich zu bleiben. „Ach das...“
„Sie haben dich doch nicht rausgeworfen?“ fragte sie besorgt. „Deine Probezeit ist noch nicht um.“
Ich beruhigte sie schnell. „Nein, mach dir keine Sorgen.“ Ich hielt den Blick gesenkt, hörte ihr nur zu, sah sie nicht an.
„Schau mich doch mal an, Alicia.“
Ich holte tief Luft und hob den Kopf. Ich sah ihr gerade in die Augen. Sei sagte nichts. Ich spannte den Kiefer an.
„Was ist?“ fragte ich leise.
Sie war blass geworden und sah aus, als hätte sie einen riesengroßen Schreck bekommen, aber sie schüttelte nur den Kopf.
„Nichts. Es ist nichts los.“
Ich wandte schnell den Blick ab. Es war wohl etwas los. Aber sie wollte mir auch nichts sagen.
„Mir wird kalt. Lass uns ins Haus gehen. Ich mach uns Tee“, schlug sie vor.
Ich ließ Marion vorgehen und versuchte meine Gedanken zusammenzuhalten. Andreas hatte mir in die Augen gesehen, und ich war davon ohnmächtig geworden, Elke war fast wahnsinnig geworden, hatte einen Schock bekommen, und im Bus wichen mir die Fahrgäste aus.
Kaum war ich im Haus, wurde es richtig merkwürdig. Eigentlich hätte ich nach meiner neuen Abneigung gegen Schnee froh sein müssen, drinnen zu sein, aber hier war es fast genauso schlimm.
In der Werkstatt war Ruhe gewesen, nichts von dieser beklemmenden Angst draußen im Schnee. Zu Hause war es anders. Keine Ruhe. Als wäre der Boden mit Schnee gepolstert und die Fliesen bestünden aus Eis. Ich zog mich um und ging in die Küche. Hier war es schön warm, aber mir klapperten die Zähne.
„Komm schnell rein!“ Marion goss gerade den Tee ab. Als sie sah, wie ich fror, stellte sie Rum auf den Tisch. „Wenn du etwas Schuss mit in den Tee nimmst, wird dir schneller warm.“
Ich nickte und setzte mich. Die Kälte wurde schlimmer. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der Rum nicht helfen würde. Ich nahm trotzdem welchen in den Tee. Vielleicht half es ja doch.
Marion setzte sich mir gegenüber an den Tisch und beobachtete mich. Ich tat ihr den Gefallen und sah ihr in die Augen. Wieder schien sie gegen irgendetwas zu kämpfen, aber dann... geschah etwas. Ich konnte nicht sagen, wie sie es getan hat oder was überhaupt, aber die ganze Anstrengung fiel auf einmal von ihr ab. Sie war richtig entspannt.
Ich hielt es nicht mehr aus. „Kannst du mir bitte endlich sagen, was hier los ist?“
Marion sah mich unglücklich an. Sie kam mir vor wie eine Ärztin, die einem Patienten die schlimme Wahrheit beibringen muss.
„Was hast du heute Nacht geträumt?“
„Was haben meine Träume mit einem Blick zu tun?“ fragte ich gereizt.
Sie rieb sich die Augen. Etwas musste ihre Kräfte in kurzer Zeit aufgezehrt haben, sie sank immer wieder in sich zusammen.
„Es hat zu viel damit zu tun“, sagte sie. „Ich mache mir Vorwürfe, dass ich dich überhaupt hier wohnen lasse, dich überhaupt eingeladen habe.“
Sie stützte den Kopf in die Hände.
„Ach? Ich kann auch wieder gehen, hier scheine ich nur Unheil anzurichten!“
Ich sprang auf und stützte mich auf dem Tisch ab. Wir starrten uns wütend an. Dann fuhr ich auf dem Absatz herum und rannte nach draußen.
Es war dunkel geworden und hatte zu schneien begonnen. Ein Sturm war aufgezogen hinweg fegte. Ich tigerte wütend auf und ab. Was bildete sich Marion eigentlich ein, in meinem Privatleben herumzustochern? Das ging sie doch nichts an, ob ich Alpträume hatte.
Inzwischen war ich am Kirschbaum vorbeigekommen. Er war die äußerste Grundstücksgrenze. Seltsam. Von einem Moment zum anderen fiel alle Wut von mir ab. Ich spürte nur noch meine neue Angst vor Schnee.
Wohin war ich hier nur geraten? Ich fing an zu frieren, aber dieses Mal war es die normale Kälte von minus 4 Grad, die ich spürte. Dagegen würde auch Marions Spezialtee helfen.
Als ich zum Kirschbaum zurückging, sah ich auf der anderen Seite jemanden stehen. Marion. Sie wartete auf mich im Garten. Ich senkte den Kopf und stemmte mich gegen den Wind. Der Sturm wurde stärker.
Als ich direkt vor ihr stand, schaute sie auf. Ich schlug rasch die Augen nieder. Da sah ich es.
„Das Kind“, rief sie. Bei dem heulenden Wind konnte ich sie kaum verstehen.
Ja, irgendetwas lag dort. Ich schaute genauer hin und hatte plötzlich das Gefühl, selber unter dem Baum zu liegen. Kein Wunder. Es war Wilhelm, der da zusammengesunken lag.
Das nächste, was ich merkte, war wattige Nässe. Ich lag im Schnee. Ich war ohnmächtig geworden. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Seite, genauso wie ich Wilhelm gesehen hatte.

„Das musst du mir jetzt genauer erklären. Du hast also geträumt, dass du Wilhelm bist. Das Winterkind.“
„So würde ich es nicht nennen.“ Ich wärmte meine Hände an der heißen Tasse und trank einen Schluck Tee. Dieses Mal wirkte er. Die Wärme breitete sich in mir aus und je wärmer mir wurde, umso leichter fiel es mir ihr zu erzählen, was da passiert war.
„Schwer zu beschreiben. Ich habe als Wilhelm ein paar Tage seines Lebens miterlebt. Etwas ist zurückgeblieben. Ich habe jetzt Angst vor Schnee.“
„Wie kann er Angst vor Schnee entwickelt haben? Er ist doch vorher gestorben!“
„So wie ich es erlebt habe, war er noch einige Zeit bei Bewusstsein. Und er schwor sich, nie wieder einen Fuß im Winter vor die Tür zu setzen.“
Marion erwiderte darauf nichts. Sie dachte darüber nach. Aber als das Schweigen endlos wurde, fragte ich das, was ich unbedingt wissen musste.
„Wieso hast du vorhin gesagt, ich hätte nie kommen dürfen?“
Marion zuckte zusammen. „Ich habe dir doch die Sage vom Winterkind erzählt. Du hast davon geträumt.“
Ich nickte.
„Das ist der Hauptteil der Geschichte. Aber es ist nicht alles. In diesem Haus zu leben, ist eine große Ehre – oder eine Bürde, wie man es sehen will. Seit über 200 Jahren wird diese Verantwortung in einem bestimmten Kreis weitergegeben. Kurzzeitig haben hier Leute gewohnt, die das nicht ausgehalten haben.“ Sie machte eine kurze Pause.
„Wo sind diese Leute gelandet?“ Ich merkte, wie mir das jetzt schon unter die Haut ging. Die Geschichte schien wirklich wahr zu sein!
Sie warf mir einen merkwürdigen Blick zu. „Du findest die Namen im Register von der Nervenklinik in Langenwege. Und auf dem Friedhof.“
Mir lief ein Schauer über den Rücken. Was war das hier bloß für ein Spukhaus, wenn man unliebsame Bewohner anschließend in Zwangsjacken oder Särge steckte?
Ich sah sie aus dem Augenwinkel an. Sie fühlte sich genauso unbehaglich wie ich. „Und du bist mit mir verwandt und zwar eng genug, damit das Haus dich nicht zu-rückweist.“
Das Haus?
„Aber dass du träumst, gefällt mir gar nicht. Tu mir bitte den Gefallen und erzähl mir die nächsten Male immer genau davon, wenn es wieder passiert. Ich habe Angst, dass dir etwas passieren könnte. Ich hab es ja geahnt, aber ich wusste nicht, dass es so schlimm werden könnte. Ich weiß nicht, wie viel Zeit noch bleibt.“
Was war das jetzt wieder? Das klang ja, als wenn ich irgendein Unglück ausgelöst hatte, nur dadurch, dass ich hergekommen war. Und Marion war...
Der Gedanke entglitt mir, ehe ich ihn festhalten konnte, und ich merkte, wie müde ich war.
„Was war das vorhin?“ fragte ich schläfrig. „Weshalb haben wir uns vorhin so gestritten?“
„Ich kann es mir nicht erklären“, erwiderte Marion. „Es ist unruhig.“
Sie brach ab und schien auf etwas zu lauschen.
„Marion?“ Sie reagierte nicht. Ich stand leise auf und ging schlafen.

Eine halbe Stunde lang saß die Frau auf ihrem Platz. Kein Beobachter hätte in diesem Moment vermutet, dass sie ein Zwiegespräch hielt. Schließlich war keiner im Raum.
„Was ist los? Sie darf es noch nicht wissen. Hüte dich.“
Erschöpft erhob sie sich und schwankte kurz, als sie das Zimmer verließ. Sie schien kurz von Licht umgeben zu sein. Dann sah sie wieder ganz gewöhnlich aus.

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