Schneekind Teil III
von Sabine Herzke (melody)

 

Marion
„Wo bist du?“
Sie horchte in den Raum hinein. Dann ging sie zum Spiegel.
„Du musst aufpassen“, murmelte sie. „Sie ist stark, ich glaube, sie merkt was.“
„Das ist gut.“
„Der Spiegel...“
„Das war Absicht, dass sie ihn findet. Du brauchst ihn noch.“
„Wann?“ fragte Marion leise. „Wie lange noch?“
„Warte bis Ostern. April. Es ist noch zu früh.“
Marion lauschte, aber sie war auf einmal wieder allein. Der Spiegel zeigte das Wohnzimmer.

Alicia
Ich verbrachte die verbliebenen Tage bis Silvester in merkwürdiger Unruhe. Ich konnte nicht zur Arbeit gehen, ich konnte auch nicht ganze Tage in Langenwege oder Neudorf herumhängen, aber das Haus war so nett und ließ mich weitgehend in Ruhe. Ich zog mich in mich zurück und wurde melancholisch. Marion bekam genau in dieser Zeit Urlaub, und obwohl ich lieber für mich geblieben wäre, genoss ich ihre Aufmerksamkeit. Sie bemutterte mich von vorne bis hinten. Sie sorgte dafür, dass ich rauskam. Ich fuhr mehrmals mit Caro nach Hamburg zum Shoppen.
Abends war ich so oft wie möglich bei ihr und der Clique. Sie lenkten mich ab. Sie redeten über ganz andere Dinge, und nur Caro wusste, was los war, und sie hielt dicht.

Glaswerkstatt
Keiner konnte sich erklären, was dort in den Tagen zwischen den Jahren passierte. Sie kehrten aus der Mittagspause zurück und die zuvor sorgfältig abgedeckte Esse glühte. Der Ofen knackte vom Abkühlen. Paul war der erste gewesen, der die Mit-tagspause dageblieben war.
„Ich war das nicht“, sagte er. „Ich hab die Esse noch nie angerührt, das wisst ihr doch. Und ich schwöre, ich habe hier niemanden gesehen!“
Manches Mal war genau dasselbe Bild am Morgen, wenn sie die Werkstatt auf-schlossen.
„Hat einer von euch die Pause durchgearbeitet?“ fragte Paul.
„Ich nicht.“ – „Ich auch nicht.“ Sie sahen sich an, zuckten mit den Schultern.
„Der Ofen ist heiß. Der Sack da ist nicht ganz zu.“
„Schaut mal“, sagte Elke da schon und zeigte zum Fenster.
Die Sonne fiel flach direkt durch dieses Fenster in die Werkstatt. Auf der Fenster-bank standen Figuren aus klarem Glas und eine aus mattem in der Mitte.
„Zeig mal her.“
Sie drängten sich um Elke, nahmen ihr die Figuren aus der Hand, ließen sie herum gehen.
„Habt ihr schon einmal so eine feine Arbeit gesehen?“
„Ja sicher, aber nicht hier.“
„Was denn?“ fragte Paul und gab die Figur weiter. „So was findet man doch öfter mal.“
„Aber nicht das hier. Seht euch die Figuren mal an.“
„Die hier sieht aus wie Alicia.“
Elke hatte die matte Figur genauer angesehen.
„Du machst Witze.“
Elke gab die Figur an Lukas, der gerade erst hereingekommen war.
„Was ist hier los?“
„Keiner von uns war es und jetzt stehen hier diese Figuren.“
Er nahm die matte Figur entgegen, hielt sie gegen das Licht, prüfte sie.
„Aus unserem Ofen?“
„Von uns hat aber keiner die Pause durchgearbeitet.“
Lukas musterte sie der Reihe nach. Dann prüfte er die Figur erneut.
„Eins stimmt aber“, sagte er. „Sie sieht genauso aus wie Alicia.“
„Alicia ist doch freigestellt.“
„Vielleicht eine Art Drohung an uns? Erinnert ihr euch an die Sache mit der vergessenen Kelle? An die Bestellungen?“
Schweigen.
„Holt einen Karton“, sagte Lukas. „Ich weiß nicht, ob wir sie noch mal brauchen. Ich deponiere sie in meinem Büro.“

28. Dezember
Paul fand die Figuren um sieben Uhr morgens auf Lukas‘ Schreibtisch. Er bekam einen Anfall, als er sie erkannte. Vier bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Figuren, die Lukas und seine Familie zeigten. Lukas blieb gefährlich ruhig.
„Wir unternehmen noch nichts“, sagte er.

31. Dezember
„Guten Rutsch, Leute, kommt gut rein!“ Lukas war der Letzte, er schloss die Werkstatt ab und schaltete gewohnheitsmäßig die Alarmanlage ein. An jedem Tag waren neue Figuren aufgetaucht. Sie arbeiteten mit erhöhter Wachsamkeit, begannen sich gegenseitig zu bespitzeln und überwachten das Haus auf der Wurt. Aber von Alicia war keine Spur zu sehen und in der Werkstatt trafen sie niemals jemanden an. Und trotzdem standen da neue Figuren.

Alicia
Cora holte mich um sieben Uhr abends ab. Wir fuhren nach Neudorf zum Feiern. All unsere Kollegen kamen aus Langenwege. Neudorf war neutrales Terrain und ich genoss es herauszukommen. Wir mieden die Scheune und feierten etwas außerhalb des Dorfs. Auf einer großen Weide in der Nähe des Flusses war ein Partyzelt aufgestellt worden.

Neujahr 2009
Ich verabschiedete mich gegen vier Uhr morgens von den anderen am Kirschbaum. Wir hatten alle reichlich getrunken und ich sah an den Spuren im Schnee, dass ich nicht mehr geradeaus gehen konnte.
„Bis nächs‘ Jahr“, lallte ich, umarmte Caro und stolperte zum Haus. Ich kam nicht weit. Als das Haus in Sicht kam, sah ich den milden Lichtschein der Türlampe und darunter Wilhelm, der mir zuwinkte. Das musste eine Sinnestäuschung sein. Ich drehte mich um. Meine Freunde standen völlig erstarrt dort, wo ich sie verlassen hat-te. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Ich war wohl betrunkener, als ich dachte.
Direkt vor dem Haus war es still. Wilhelm stand still unter der Lampe. Er sah be-sorgt aus und irgendwie krank.
In dem Moment dachte ich nicht einmal darüber nach, dass es etwas komisch war, dass ich einen Geist für voll nahm und mir über seinen Gesundheitszustand Gedanken machte. Das letzte Mal hatte er aber wirklich besser ausgesehen.
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte er.
Es war das erste Mal, dass ich ihn sprechen hörte. Er hatte eine normale Kinderstimme, was mich erstaunte. Ich überlegte, woher ich die Stimme kannte. Ich hatte sie in meinem Traum gehört. Und es war die gleiche Stimme, die mir am Kirschbaum an Heiligabend „Frohe Weihnachten“ zu gehaucht hatte.
„Wieso das denn?“ fragte ich überrascht.
„Sie hören mich nicht“, antwortete er, was mir ja wirklich viel weiterhalf.
„Wer hört dich nicht?“
„Du musst sie warnen, dich werden sie hören. Wenn es soweit ist, gib ihnen das hier.“
Ich nahm das Stück Papier an und sah ihn unverwandt an. Er sagte nichts weiter. Im nächsten Moment war er verschwunden. Ich hörte meine Freunde am Baum lachen und reden.
„Hey Alicia“, rief Jens, „du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“
Die anderen lachten mit. Ich grinste schwach und tat so, als sei ich immer noch total betrunken.
„Glaub, ich bin zu besoffen!“
Ich dachte darüber nach, was mir passiert war. Warum waren die anderen erstarrt, während die Zeit für mich weitergelaufen war? Und woher war diese Kälte gekommen? War ein Geist kälter als die Umgebung? Es war ein eisiger Hauch gewesen, als sei damit auch alles eingefroren, was außerhalb seines Umkreises lag.
„Alicia!“
Ich sah sechs besorgte Gesichter über mir. Ich merkte, dass ich im Schnee lag.
„Du bist einfach umgekippt!“
„So?“ murmelte ich und stützte mich auf die Ellbogen. „Ich glaub, ich habe zu viel getrunken.“
Sie halfen mir wieder hoch und stützten mich. Caro sah mich besorgt an.
„Bist du sicher? Soll ich noch mit reinkommen?“
„Nein, danke, das geht schon.“
Ich fummelte den Schlüssel aus meiner Tasche und Schloss die Haustür auf.
Im Wohnzimmer war Licht. Ich trat ein. Marion wartete dort auf mich.
„Ich habe es mitbekommen“, sagte sie.
„Er hat mit mir gesprochen“, sagte ich.
„Was hat er gesagt?“
„Er braucht meine Hilfe.“
„Hat er dich berührt?“
„Ganz kurz. Es fühlte sich an wie Eis...“
„Kälter“, sagte sie.
Kälter, kälter, kälter. Ich holte mir noch zwei Wolldecken, als ich ins Bett ging.

Marion
„Hast du sie berührt?“
„Nur ganz kurz. Ein paar Sekunden lang. Ich habe ihr nur soviel genommen, dass es bis zum Frühjahr reicht.“
„Ich glaube, sie weiß Bescheid.“
„Beantworte ihre Fragen und hilf ihr, aber den Weg muss sie selbst finden.“

Alicia
Ich sah nicht auf die Uhr am nächsten Morgen. Ich tat so, als sei nichts gewesen außer einer ziemlich lustigen Silvesterfeier, duschte ausgiebig und zog mich an. Das Zeug von gestern stank nach Zigaretten und Alkohol. Ich steckte es in die Wäsche. Dabei knisterte etwas in der Hosentasche. Ich zog es raus. Da fiel mir wieder ein, dass ich heute Morgen Wilhelm begegnet war. Jetzt sah ich es mir genauer an. Es war ein alter Brief. Ich entzifferte mühsam die verblasste Adresse: Herrn Gemeinderat Thomas Heycken, Neudorf.
Damit kam ich der Sache schon näher. Aus der Geschichte erinnerte ich mich an das Ehepaar, Onkel und Tante von Wilhelm, die ihn erwartet und gefunden hatten. Er war Gemeinderat. Also schien ich hier den Originalbrief in den Händen zu halten, den Wilhelm damals überbringen sollte. Was hatte er doch gleich gesagt? – „Ich brauche deine Hilfe. Sie hören mich nicht. Dich können sie hören. Gib ihnen das hier.“
Er hatte den Brief gemeint. Ich wollte ihn auch nicht öffnen, obwohl das Siegel schon brüchig war, und es stand nicht darauf, an wen der Brief damals gehen sollte. Vielleicht wusste Marion Rat.
Beim Frühstück konnte ich aber nicht darüber reden und später vergaß ich es.

Marion
Sie ging nach hinten und lüftete Alicias Zimmer aus. Die Sachen, die ihre Nichte am Vortag getragen hatte, waren schon in der Wäsche, aber das ganze Zimmer roch nach Kneipe. Als sie das Kissen aufschüttelte, fiel ein Zettel vom Bett. Sie hob ihn auf. Das Blatt war gefaltet und vergilbt, die beschriebene Seite nach innen. Marion seufzte leise. Sie erkannte es. Soweit war es also schon gekommen, Dinge gingen durch die Zeit und tauchten in einer anderen wieder auf. Sie konnte sich denken, wie Alicia an den Brief gekommen war.

Alicia
Ich machte einen Spaziergang, stand meiner Tante im Weg herum und war im Üb-rigen zu nichts nutze. Nach dem Mittagessen verschwand ich wieder und nahm noch eine Mütze Schlaf.
Ich hob mein Kissen an und sah nach, ob der Brief noch da war. Er lag an einer anderen Stelle. Ich legte ihn vorsichtshalber in die Schreibtischschublade und ging schlafen.

Sie sprach mich beim Tee von selbst darauf an.
„Ich habe dein Zimmer heute morgen aufgeräumt“, sagte sie.
Ich wartete. Sie würde schon zum Kern kommen.
„Merkwürdiger Brief, der unter deinem Kopfkissen, findest du nicht?“
Ich verdrehte die Augen. „Ja und? Hier spukt es, das ist doch klar. Und du weißt ganz genau, was das für ein Brief ist. Erzähl mir lieber, an wen der Brief gehen sollte und wieso er nie angekommen ist.“

1791
Inzwischen hatten sie Wilhelm aufgebahrt, wegen des tiefen Schnees und erneuter Stürme war ein Transport unmöglich.
Thomas sah nur kurz bei den Frauen herein, die diese Aufgabe erledigten, dann ging er in sein Arbeitszimmer und nahm den Brief, der bei Wilhelm gelegen hatte. Er Schloss die Tür hinter sich ab. Jetzt wollte er lieber nicht gestört werden.

2009
„Ob er nie ankam, weiß man nicht genau.“
„Es steht so in dem Buch, das du mir zu Weihnachten geschenkt hast.“
„Es ist eine Version“, sagte sie. „Ich habe aber auch gehört, dass der Brief doch ankam."
„Dann erklär mir mal, wieso ich einen original versiegelten Umschlag bekommen habe.“
„Vielleicht ist er leer. Betrug...“
„Ich werde ihn auf keinen Fall öffnen!“ sagte ich energisch. „Ich soll ihn demnächst irgendwo abliefern und das werde ich machen – und zwar den ganzen Brief!“
„Habe ich etwas von öffnen gesagt?“
„Hast du nicht“, gab ich zu.
„Bewahre ihn gut auf, und bitte, wenn möglich, nicht mehr unter deinem Kissen.“
„Ich habe ihn schon woanders hingelegt.“

Am Abend saßen wir noch eine Zeitlang zusammen im Wohnzimmer. Marion hatte den Kamin angemacht, das Licht brach sich leicht im Spiegel. Draußen klatschte der Regen an die Scheibe. Ich hatte mir den Heimatband zum Lesen geholt, aber viele Seiten waren es nicht mehr, die mir noch fehlten.

1851
Sie lehnte sich zurück und nahm das Buch vom Beistelltisch, in dem sie gestern Abend aufgehört hatte zu lesen. Nach einer Weile schaute sie zerstreut auf und blickte beiläufig zum Fenster.
Catarina blinzelte. Erst dachte sie, es handelte sich um eine Täuschung oder eine Spiegelung im Fenster. Aber das Bild ließ sich nicht wegblinzeln.
Kein Zweifel, dort saß ein Mädchen in einem Sessel ungefähr in ihrem Alter in überaus merkwürdiger, fremdartiger Kleidung und las ebenfalls. Dann klappte sie das Buch zu, stand auf und kam genau auf Catarina zu.
Gebannt und erschrocken starrte sie sie an.

2009
Ich streckte mich, bis die Knochen knackten und stand auf.
Ich hatte mir schon vor ein paar Tagen etwas vorgenommen und jetzt endlich Zeit und Ruhe, es zu tun: ich holte mir den Karton mit den losen Fotos und leere Alben, um sie einzukleben.
Sie lagen im Schrank im Wohnzimmer neben der Tür. Als ich an Marion vorbeiging, fröstelte ich. Dabei war im Kamin ein Feuer an, es war der wärmste Platz im Haus! Es fühlte sich wie die Eiseskälte von Wilhelm an, aber es war nichts zu sehen.
Ich holte die Fotos und ging den gleichen Weg zurück. Marion beobachtete mich. Die eisige unsichtbare Berührung wiederholte sich.

1851
Catarina schnappte nach Luft, als das Mädchen geradewegs auf sie zukam und durch sie hindurch ging! Eiseskälte lähmte sie. Auf dem Rückweg der fremden wiederholte es sich.
Catarina blickte ihr aufmerksam entgegen, behielt sie im Auge, sah ihr Gesicht an, als sie sich umdrehte. Sie kam ihr bekannt vor. Wenn sie nur wüsste, wo sie dieses Mädchen schon einmal gesehen hatte, außer vor ein paar Sekunden.
Das Mädchen hatte einen abwartenden, neugierigen, leicht angespannten Gesichtsausdruck. Sie blickte genau dorthin, wo Catarina saß. Sah sie sie etwa? Hatte sie auch etwas gespürt?
Catarina legte ihr Buch weg. Sie beobachtete die Fremde.
Nach einer Weile merkte sie, dass das Mädchen sich nicht mehr im Fenster spiegelte, sondern im zweiten Sessel zu sitzen schien. Catarina nahm ihren Mut zusammen. Sie stand auf und sah ihr über die Schulter. Sie brauchte eine Weile, bis sie begriff, was das Mädchen tat. Sie hatte ein Buch auf einem niedrigen Tisch vor sich liegen. Daneben stand eine Schachtel. Auf dem Tisch lagen viele kleine Bilder verstreut, die das Mädchen vorsichtig in dem Buch befestigte. Sie schaute genauer hin, was darauf zu sehen war.
Catarina dachte, sie wird verrückt. Ihre Wahrnehmung spielte ihr einen Streich.
Auf den kleinen Bildern sah sie sich selbst, ihre Eltern, das dort war Tante Ellen und Onkel Carl. Sie kannte das Foto, es war erst vor einem halben Jahr gemacht worden, aber in der Hand der Fremden war es vergilbt, als sei es schon hundert Jahre alt.
Wie kam dieses Mädchen an das Foto?
Catarina bekam eine Gänsehaut. Sie ging ein paar Schritte rückwärts, drehte sich um und verließ fluchtartig die Stube.
Sie ging früh zu Bett, in der Hoffnung, dieses Gespenst verscheuchen zu können.

2009
Ich öffnete zunächst ein Album, in dem schon ein paar Fotos klebten. Als ich mir das Familienbild ansah, hatte ich ein intensives Gefühl, beobachtet zu werden. Jemand schaute mir über die Schulter.
Ich sah vorsichtig nach hinten. Es war keiner da. Woher auch?
Wilhelm, schimpfte ich in Gedanken, lass die Faxen.
Wenn es denn Wilhelm gewesen war.

7. Januar 2009
Noch immer im Zwangsurlaub, kehrte ich ungefähr eine Woche später von einem Spaziergang in der Dunkelheit aus Langenwege zurück.
Im Wohnzimmer brannte Licht. Marion hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Man konnte quer durchs Haus sehen. Im Kamin brannte ein Feuer, zwei Männer standen mit dem Rücken zum Fenster. Die Tür öffnete sich, und es trat noch jemand ein.
Zunächst glaubte ich, wir hatten Besuch bekommen, aber das erwies sich als Trug-schluss. Die Frau, die eintrat, war Catarina.
Ich rannte zum Haus. Ich musste einfach wissen, was da vor sich ging. Entweder war ich in der Vergangenheit gelandet, oder das Fenster hatte sie mir wie einen Film gezeigt.
Als ich das Wohnzimmer betrat, war es leer. Marion war da, aber keiner von den Personen, die ich durchs Fenster gesehen hatte.
Marion nahm es gelassen auf, als ich ihr davon erzählte.
„Das wundert mich gar nicht“, war ihr Kommentar.
Natürlich, klar! Es ist völlig normal, in ein Wohnzimmer von vor 150 Jahren zu blicken.
Wenn mir das mit dem Spiegel passierte... schön, das Haus hier war sowieso ein Spukschloss. Aber nicht das hier.
„Wieso nimmst du das so auf?“
Sie seufzte, schüttelte den Kopf und erklärte es mir, wie man einem Erstklässler beibringt, wieso eins plus eins nicht drei sein kann.
„Weil... du stellst vielleicht Fragen.“ Sie überlegte eine Weile. „Du musst die Zeit wechseln.“
„Wie? Ich muss – nach 1851? Ich dachte, ich soll zu Catarina keinen Kontakt auf-nehmen!“
„Bisher solltest du es nicht, weil die Zeit noch nicht gekommen war“, sagte Marion. „Das ändert sich jetzt.“
Bis jetzt hatte ich immer noch gehofft, es sei alles ein schräger Scherz gewesen. Dann hatte ich im Haus durchs Fenster etwas gesehen, das über hundert Jahre Vergangenheit war und jetzt Marion. Sie war zu ernst für einen platten Witz.
Ich fröstelte und sah Wilhelm vor mir, wie er sich durch den Schnee kämpft, hinfällt, sich mit dem puren Willen vorwärts kämpft und liegen bleibt.
Da war etwas, eine Nachricht. Etwas, das ich vergessen hatte, aber es wollte mir nicht mehr einfallen.
Ich ging spät schlafen und wachte bald wieder auf. Ich wälzte mich auf die Seite und sah auf die Uhr. Es war fast Mitternacht. Ich stöhnte leise, machte das Licht an und nahm mir eine Zeitschrift vom Stapel, um auf andere Gedanken zu kommen. Am nächsten Morgen wachte ich mit brennendem Licht auf. Das Heft lag aufgeschlagen neben meinem Kopfkissen. Beim Frühstück fragte ich Marion, was gestern Abend passiert war. Warum ich so einen Durst hatte. Ich trank fast zwei Liter Wasser, nur beim Frühstück. Es war, als war mir nachts die ganze Flüssigkeit entzogen worden.
Marion holte eine Wasserflasche nach der anderen, ohne ein Wort zu sagen.
In der nächsten Nacht bekam ich auch keine Ruhe. Wilhelm wurde zu einem Plagegeist. Als ich endlich schlief, erschien er mir und sprach auf mich ein, er versuchte es wieder und wieder, aber ich verstand nicht, was er sagte. Ich schrie ihn im Traum an, er solle deutlicher sprechen und drohte zuletzt, wenn er mich nicht schlafen ließe, würde ich den Brief ins Feuer werfen, und er könne sich seine Assistenten auf dem Mond suchen.
Das half. Er verschwand und ich konnte endlich wieder schlafen.
Ich wachte erst mittags wieder auf. Marion war anscheinend auch jetzt erst aufge-standen, jedenfalls stellten wir uns einen Brunch zusammen und ließen das Mittagessen ausfallen.
„Wer darf sich seine Helfer auf dem Mond suchen?“ fragte Marion und goss mir Kaffee ein.
Ich hatte endlich wieder Hunger, einen richtigen Kohldampf. Ich erinnerte mich schwach, zwei Tage nichts gegessen zu haben und schnitt mir ein Brötchen auf.
„Oh, habe ich im Schlaf geredet? Bist du davon wach geworden?“
„Nein“, sagte sie“, ich konnte auch nicht schlafen. Das muss wohl am Wetter liegen.“
„Glaube ich auch.“
Ich gab Milch und drei Löffel Zucker zum Kaffee. Ich brauchte etwas Süßes. Ich glaubte Marion kein Wort. Ihr Schlafzimmer lag auf der anderen Seite vom Flur.
Was ich lieber für mich behielt, war übrigens, dass ich Marion schon lange nicht mehr als meine harmlose Tante ansah. Ich glaubte nie und nimmer daran, dass sie eine normale Frau war, genauso wie dieses Haus kein normales Haus, sondern ein Spukhaus war. Seit ich in diesem Haus wohnte, hatte ich für solche Sachen einen merkwürdigen, sicheren Sinn entwickelt, und ich hatte so manches Mal am Morgen, wenn ich eher als Marion aufgestanden war, etwas fremdes in unserem Wohnzimmer festgestellt. Ich war sicher, dass es mit mir zu tun hatte.

Es war ein Mittwoch, ein paar Tage nach meiner „Starre“. Marion war nach Lan-genwege zum Einkaufen gefahren und brachte für gewöhnlich auch immer Neuigkeiten mit. So auch heute.
Ich kam in die Küche. Sie packte die Einkaufstaschen aus und legte das Gemüse zur Seite.
„Machst du bitte den Salat?“
Ich nahm ihn und putzte ihn. Marion holte Kartoffeln und fing an, sie zu schälen.
„Das Kind ist wieder aufgetaucht, unten im Dorf.“
Ich sah erschrocken auf. „Schon wieder?“
„Am Siel“, sagte Marion.
Auch das noch. Ich schaute auf die Uhr. Die Zeit langte gerade noch. Meinte Tante wunderte sich, als ich zum Fernseher stürzte und ihn einschaltete. Ich hatte es gut abgepasst zum Wetterbericht nach den Nachrichten.
Ich dachte daran, dass ich früher gerade beim Wetter immer abgeschaltet hatte.
Es gab schon wieder eine Sturmwarnung.
„Das nimmt diesen Winter ja gar kein Ende mehr“, seufzte ich, „was für ein Wetter.“
Aber diese Wettervorhersage bestätigte meinen Traum von heute Nacht. Ich schal-tete den Fernseher wieder aus.
„Ich habe heute Nacht geträumt, ich glaube, Wilhelm war hier.“
„Was hat er denn gesagt?“ fragte Marion mit angespannter Stimme.
„Es wird dieses Mal richtig schlimm. Die Flut kommt nicht bis zur Wurt, aber die Dörfer bekommen etwas ab.“
Marion legte ihr Schälmesser weg und nahm mich in den Arm. „Komm, ich mach uns eben Tee mit Rum, der baut dich wieder auf.“
Ich saß wenig später in meinem Sessel, die Beine angezogen, eine Tasse heißen Tee in der Hand, knabberte an einem Keks und dachte darüber nach, wer für all das hier bloß verantwortlich war. Irgendwie musste der Wahnsinn sich doch aufhalten lassen.
„Noch etwas“, sagte Marion. Sie hielt eine Schachtel in der Hand, setzte sich und öffnete sie vorsichtig. „Ich war auch in der Werkstatt.“
Ich setzte mich auf. „Warum?“
„Um zu hören, was da so los ist. Und da ist eine ganze Menge los.“
„Was denn?“ fragte ich beunruhigt.
„Hier.“ Sie wickelte vorsichtig eine Figur aus Glas aus Papier und reichte sie mir.
Ich nahm sie entgegen und schaute sie mir genau an.
„Das gibt’s ja nicht. Die sieht aus wie ich.“
„Hübsch, oder? Sie haben sie mir so überlassen, sie wollten kein Geld dafür haben. Es ist nicht die einzige Figur, es gibt mittlerweile zwei Dutzend.“
„Und was ist damit? Dann haben sie eben ihr Programm erweitert. Wer stellt die Figuren her?“
Ich schaute auf und sah einen undefinierbaren Gesichtsausdruck an Marion.
„Sie wissen es nicht. Jeden Morgen und manchmal auch nachmittags nach der Pause ist der Ofen warm, manchmal liegt Werkzeug woanders – und es stehen neue Figuren da. Sie haben nicht die geringste Ahnung, wer sie herstellt.“

1851
Catarina musste an jenem Tag unten im Dorf einkaufen. Sie holte sich ihre Sachen und ging nach Langenwege. Das Wetter war aufgeklart, es war kalt, aber trocken.
Alle in dieser Gegend waren zurzeit froh, dass die Stürme aufgehört hatten. Selbst die Ältesten konnten sich nicht erinnern, je einen Winter mit so merkwürdigem Wet-ter erlebt zu haben.
„Guten Tag, Catarina!“
Sie drehte sich um und lächelte dem Mädchen zu, dass hinter ihr ging. Es war ihre ehemalige Klassenkameradin Meta. Sie wartete auf Meta und hakte sich bei ihr ein.
„Musst du auch einkaufen?“
„Ja, ich komm dann gleich mal mit. – Hast du schon gehört? Das Kind ist wieder gesehen worden!“
Die Mädchen gingen über die Straße zum Fleischer.
„Wirklich? Wo das denn?“
„Nicht hier im Dorf. Oberlehrer Meents aus Neudorf hat es gesehen, als er auf dem Weg nach Langenwege war. Er sah zu Tode erschrocken aus, als er hier ankam. Ist er bei euch nicht eingekehrt?“
„Nein. Vielleicht ist es ihm erst hinter unserem Hof begegnet?“
„Muss wohl“, stimmte Meta zu. „Jedenfalls saß er im Krug und bestellte gleich drei Klare – ich meine, der Oberlehrer!“
Catarina musste lachen und schüttelte den Kopf. „Ich kann mir das gar nicht vorstellen!“
„Eben!“ stimmte Meta zu. „Aber er konnte noch mehr erzählen, er brauchte erst zwei Schnäpse, vorher hat er so gezittert, dass er fast vom Stuhl gefallen wäre.“
„Jetzt erzähl schon!“
„Schnee war ja keiner da, aber es ging geradewegs rüber zum Fluss und sprang aus-gerechnet an der reißenden Stelle hinein. Er wollte es nicht beschwören, aber das sah alles gar nicht gut aus. Der Oberlehrer sagte, da steht uns bestimmt eine Sturmflut bevor!“
„Die kann uns gestohlen bleiben!“ sagte Catarina, als sie den Fleischerladen betra-ten.
„Na, was möchtest du denn heute haben?“
Die Fleischersfrau amüsierte sich über Catarinas Gesichtsausdruck, die reichlich erschrocken war, weil sie wusste, dass Frau Coopman den letzten Satz gehört hatte.
Catarina gab ihr die Liste und wartete dann darauf, dass die Frau ihre Bestellung zusammenstellte.
Draußen konnten sich die Mädchen nicht mehr beherrschen und lachten schallend.
„Sie hat ja ein Gesicht gemacht, als ich das sagte mit dem Kind!“
„Und wie! Komm, lass uns die Einkäufe beenden und dann gehen wir in der Bäcke-rei noch einen Tee trinken“, schlug Meta vor.
„Das ist eine gute Idee!“

„Habt ihr schon gehört?“ fragte sie, als sie wieder zu Hause war. Sie räumte die Einkäufe ein. „Der Oberlehrer Meents hat das Kind gesehen!“
„Ja – und?“ fragte Robert.
„Nun, er war so erschrocken, dass er hier erst mal auf’n paar Klare in den Krug ging“, erzählte Catarina. „Ich weiß es von Meta. Sie meinte, der war völlig erschöpft, konnte kaum noch laufen!“
„Meta, die Tochter vom Wirt? Na dann wird’s wohl seine Richtigkeit haben.“
„Und Meents meinte, das hätte er sein Lebtag noch nicht gesehen; das Kind hat sich im Knick in den Fluss gestürzt. Er hat gesagt, das gibt eine Sturmflut.“
Robert sah sie nachdenklich an, wirkte nun doch beunruhigt. „Im Knick“, murmelte er. „Da ist der Deich schon einmal gebrochen, 1807.“
„Hast du das miterlebt?“ fragte Catarina und fing an zu rechnen.
Ihr Vater lächelte. „Nein, ich nicht, aber Vaddern. Musst ihn mal fragen, der erzählt dir bestimmt eine Menge.“
Nach dem Mittagessen ging Catarina zu ihrem Großvater und fragte ihn danach. Sie bekam verblüffende Antworten.
Da war nämlich so manches nicht mit rechten Dingen zugegangen. Als der Knick brach, stellte sich heraus, dass das eine alte Bruchstelle war. Der Deich brach nachts. Am nächsten Morgen fuhr man mit Booten hinaus, weil das Wasser für andere Überwegungen noch zu hoch stand. Sie stellten fest, dass der Deich an dieser Stelle schon seit Jahrzehnten offen war, und das bisher nur niemand gemerkt hatte, oder aber, dass diese Stelle schon mehrfach gebrochen war, man sie nach jedem Bruch geflickt hatte und bei jeder Flut das Flickwerk mit dem Wasser und dem Schlamm ins Landesinnere gerutscht war.
„Kann das denn passieren?“
Er lächelte in sich hinein.
„Der Deich ist an dieser Stelle seit 1795 wohl 20 Mal gebrochen.“
„Zwanzig!“
„Jedes Mal in einer Zeit, in der die Unwetter sehr zahlreich und heftig waren, und jedes Mal sah man vorher das Kind, obwohl den Zeugen das lange nicht geglaubt wurde. Die meisten wurden einfach ausgelacht, drei oder vier landeten in der Irrenanstalt, und einer ging sogar selbst ins Wasser.“
Catarina drückte sich in ihren Sessel. „Das denkst du dir jetzt aus!“
„Aber nein. Und jedes Mal war es so, dass die Leute gut daran getan hätten ihnen zu glauben. Nie zuvor kamen bei Fluten so viele ums Leben wie bei denen, wo vorher das Kind aufgetaucht war.“
Catarina ließ das auf sich wirken und beschloss, dann doch die Frage zu stellen, die ihr seit Tagen auf der Seele brannte: „Weißt du, ob das Kind allein ist? Oder gibt es noch jemanden zweites, einen anderen Geist?“
Robert zog die Augenbrauen hoch. „Das ist mir neu. Wie kommst du darauf?“
Sie erzählte ihm von der Erscheinung.
„In unserer Stube?“ fragte er. „Das muss etwas anderes gewesen sein. Bist du si-cher, dass du da jemanden gesehen hast?“
„Denkst du, ich sehe Gespenster?“
„Eine solche Erscheinung... das Kind ist ein Geist, da wollen wir gar nicht streiten. Aber alles andere ist damit nicht erwiesen.“
Damit war das Thema für ihn erledigt. Catarina stand empört auf und verließ wütend das Zimmer.
Und sie hatte das Mädchen doch gesehen!

24. März 1851
In jener Nacht, nach dem unergiebigen Gespräch mit Vaddern Heinrich wurden die Bewohner vom Wurthof von lautem Krachen geweckt.
„Papa, das Vieh bricht aus“, murmelte Markus schlaftrunken. Catarina hatte einen sehr guten Schlaf und hörte erst mal gar nichts.
Dafür hörte Robert umso mehr. Auch deswegen, weil sein Schlafzimmer in der Richtung lag, aus der das Donnern kam.
Es donnerte und rauschte jetzt, zwischendurch lautes Getöse und dazu das Heulen des Sturms. Angespannt lag er in seinem Bett und lauschte. Er war nicht ganz wach und brauchte etwas Zeit, bis er herausfand, was da dieses Getöse verursachte!
„Anna!“ Er drehte sich um und rüttelte seine Frau an der Schulter. „Anna! Wach auf!“
War diese Frau denn gar nicht wachzukriegen!
„Hm?“ Anna blinzelte, drehte sich um und wollte weiterschlafen. Da stürzte Markus herein und stockte im Türrahmen. „Du bist ja schon wach! Das Vieh...“
„Psst! Nicht das Vieh. Das...“
„Das Wasser!“ flüsterte Markus, „der Deich ist gebrochen!“
„Noch nicht. Aber es ist kurz davor. Weck Vaddern und Catarina. Wir müssen sehen, wie es steht und retten, was noch zu retten ist.“
Anna war von dem Gespräch wachgeworden. „Was ist?“ murmelte sie und gähnte.
„Schnell, zieh dich an!“
„Aber warum denn? Es ist mitten in der Nacht und...“
„Wir haben eine Sturmflut. Wer weiß, ob die Deiche halten und vor allem die Stelle im Knick!“
Anna war schnell auf den Beinen. Etwas kaltes Wasser vertrieb die letzte Müdig-keit.
„Gut möglich, dass wir hier noch gut stehen. Die Dörfer liegen tiefer, die sind bestimmt schon halb unter Wasser.“

Catarina war schneller wachzubekommen. Sie hatte längst gemerkt, dass etwas nicht stimmte und schoss hoch, kaum dass Markus sie angesprochen hatte.
Sie zog sich an und flog förmlich am ganzen Körper vor Nervosität.

Sowohl von Langenwege als auch von Neudorf und noch weiter hinaus läuteten die Sturmglocken. Es war Vollmond; das Licht, das aus dem Hause schien, tat sein Üb-riges.
Fast gespenstisch rollte das Wasser heran. Einen Bruch gab es bereits. Die Männer suchten mit allen verfügbaren Leuten, Licht und Booten danach. Es war höchste Zeit. Catarina blieb daheim und hielt verzweifelt nach ihnen Ausschau. Es durfte einfach nicht sein. Doch sie kamen bald zurück von ihrem Rundgang. Sie waren in höchster Aufregung.
„Es ist nichts zu sehen, aber in Richtung des Knicks hat das Wasser die stärkste Gewalt“, berichtete Robert. „Der Bruch wird an der alten Stelle sein. Wir fahren morgen hinaus. Im Moment können wir nichts tun. Ich bin sicher, wir finden dasselbe vor wie die anderen vor uns: einen alten Bruch, der nie geschlossen wurde oder nur schlecht geflickt.“
Von Catarina kam ein erstickter Laut. Ihr war gerade etwas eingefallen. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und atmete tief durch.
„Catarina?“ fragte ihr Vater. „Geht es dir nicht gut?“
„Nein, nein, es geht schon... mein Gott“, flüsterte sie. „Ein Bruch im Knick. Diese Sturmflut wird furchtbar enden, ich weiß es.“
Die Familie schaute sich an. Robert legte den Finger an die Lippen und beugte sich zu ihr vor.
„Was hast du gesehen?“
Sie rang nach Luft. „Noch gestern Mittag habe ich euch doch erzählt, was der Me-ents gesehen hat... das Kind, das sich ins Wasser stürzt, und niemand hat die Vorzeichen erkannt!“

Schon kamen von Langenwege herauf schwankende Lichter, die sich beim Näherkommen als Laternen entpuppten, die die Männer trugen. Sie waren in Booten unterwegs und hatten schon die ersten Flüchtigen bei sich.
„Hält die Wurt?“ rief einer hinüber und legte an.
Sie halfen mit vereinten Kräften ein paar Alten und Kindern an Land.
„Kommt schnell ins Haus!“ sagte Anna, die die Leute in Empfang nahm. Catarina wartete schon in der Halle und half dort mit. Sie zeigte in dieser Nacht, was sie konnte, und ihre Mutter nahm es schweigend zur Kenntnis.
In dieser Nacht schlief niemand mehr. Gegen sechs Uhr morgens betrat Markus den Stall, der zur Hälfte ihren Flüchtlingen als Schlafstatt zur Verfügung gestellt worden war und entdeckte seine Schwester, die, halb in einen Heuhaufen vergraben, tief schlief.
Eine junge Frau rückte ihren Säugling über der Schulter zurecht und winkte ihm zu; sie kümmerte sich um Catarina.
Markus verließ erschöpft den Stall und ging ins Haus, um noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.

Weil der Wind aus Nord/Nordost kam und das Wasser ohnehin in diesen Tagen schon ungewöhnlich hoch stand, war die Flut dieses Mal schlimmer als sonst.
Als die Sonne aufging, hatte sich der Orkan noch nicht gelegt, und das aufgewühlte Wasser schlug hohe Wellen. Sie mussten bis zum späten Nachmittag warten, ehe es weit genug abgeflossen war, um den Schaden erkennen zu können.
Familie Reuther machte sich sofort auf den Weg nach Langenwege. Neudorf war immer noch völlig abgeschnitten.
Ein Kind weinte.

2009
In der Nacht erreichte uns der Orkan mit voller Wucht. Ich wachte plötzlich auf, von einem Moment auf den anderen, und saß kerzengerade im Bett. Hatte ich eben ein Kind weinen gehört? Schreie?
Blödsinn. Ich hörte das wütende Heulen des Sturms an den Hausecken und fernes Donnern. Also war der Deich doch gebrochen.
Ich glaubte nicht, dass ich diese Nacht noch Schlaf finden würde. Also zog ich mich warm an und ging leise ins Wohnzimmer.
Marion war auch wach. Sie stand am Fenster und schaute hinaus ins Dunkle.
Ich warf einen Blick zum Spiegel. Hatte der nicht gerade noch geleuchtet?
„Der Deich ist gebrochen“, sagte Marion ohne sich umzudrehen, „wahrscheinlich im Knick.“
Ich kniff die Augen zusammen. In mir machte sich ein starkes Déjà-Vu-Gefühl breit. Wo hatte ich nur wieder...
„Es wiederholt sich“, sagte ich leise.
„Was meinst du?“
Ich wies nach draußen, dann auf den Spiegel.
„Mach mir doch nichts vor.“ Ich fühlte die vertraute Wut in mir aufsteigen, gegen die nur das Verlassen des Grundstücks half. Bei diesem Wetter war das unmöglich. Ich biss die Zähne zusammen und atmete tief durch.
„Wenn du glaubst, ich wüsste nicht, dass du das Ding zum Fernsehen benutzt, dann irrst du dich. Und ich kann dir hundertprozentig erzählen, was du gerade gesehen hast.“
Ich holte tief Luft.
„Ach?“ fragte sie ruhig. „Das würde mich jetzt wirklich interessieren.“ Aber ihre Hände verkrampften sich wie kurz zuvor meine, und ihr Blick irrte unstet zwischen mir und dem Spiegel hin und her.
„Catarina, habe ich Recht?“ fragte ich nach einer Zeit, die mir endlos vorkam. „Bei ihr ist heute Nacht auch der Deich gebrochen.“
Ich hatte Recht. Marion brauchte es gar nicht zu bestätigen.
„Woher weißt du das?“
„Ich hab’s geträumt. Ich wollte es nicht, es ist einfach passiert.“
„Du hast gelauscht“, sagte sie tonlos. „Und zwar nicht an der Tür.“
Ich fühlte mich erwischt. „Ich hatte doch keine Ahnung! Woher soll ich denn wis-sen, dass ich das kann, lauschen? Glaubst du, ich mache so etwas mit Absicht?“
„Nein! Und es liegt auch nicht allein an dir. Die Wand wird dünner.“
Aha. Wieder so eine Erklärung, dass etwas so war, weil es eben so war. Dieses Mal merkte sie selber, wie blöd der Satz war und lenkte ein.
„Ich hatte dir doch schon gesagt, dass du da am Wenigsten für kannst. Aber du bist die Hauptperson in diesem ganzen verdammten Spiel, und irgendwie musst du da herangeführt werden!“
Ich begriff plötzlich. „Der Brief! Jetzt weiß ich, wem ich ihn geben soll!“
Es war alles so einfach. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte es die ganze Zeit direkt vor mir gehabt. Ich hatte Catarinas Geschichte verfolgt, manchmal unbeabsichtigt, meistens aber voller Interesse. Alles war nach Plan verlaufen. Ich sollte Catarina und ihre Zeit gut kennen lernen, weil ich Catarina bald begegnete.

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