Schneekind VI
von Sabine Herzke (melody)

 

Alicia
Mein drittes Erwachen war schon viel schmerzloser. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was passiert war, oder wo ich mich eigentlich befand. Dafür konnte ich mich endlich wieder bewegen und erkundete langsam meine Umgebung. Mein Körper hatte sich umstellt. Das Taubheitsgefühl war keines, sondern kam einfach daher, dass ich schwebte. Es gab keine Schwerkraft. Das zumindest war mein erster Eindruck.

„Du bist wach.“ Das war Wilhelm. Ich drehte vorsichtig den Kopf.
„Wie fühlst du dich?“
„Ich weiß nicht. Ich kenne die Umstände nicht.“
„Du bekommst deine Erklärungen. Kommst du mit?“
Ich sah ihn skeptisch an. „Wohin in diesem Nichts?“
„Komm einfach mit.“
Er drehte sich schon um und schwebte davon, dabei kam er mir hier stofflicher vor als früher in der Gegenwart.
Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Meine ersten Schritte in einer un-bekannten Welt. Dann schlug ich der Länge nach hin. Ich war gewissermaßen im Vakuum gestolpert.
„Wilhelm!“
Er drehte sich um und bog sich vor Lachen.
„Das ist nicht komisch!“ Ich sah ihn wütend an und musste dann selber lachen.
„Ist er taub? Dein Körper?“
„Was sonst?“
„Hatte ich völlig vergessen. Ich habe mich schon so daran gewöhnt.“
„Was? Du willst behaupten, dass das normal ist?“
„Für Geister schon. Nach einer Weile gewöhnst du dich daran.“
Da fiel bei mir der Groschen. Ich hatte es monatelang vor Augen gehabt und er-kannte die Anzeichen nicht an mir selbst.
„Also, ich fühle mich gut, danke der Nachfrage. Ich habe nur über Nacht irgendwie das Laufen verlernt.“

Zeitrat
Er hatte mir auf meine Frage, wo wir hingingen, keine Antwort gegeben, also folgte ich ihm einfach, nachdem ich mich an die neue Art des Fortbewegens gewöhnt hatte. Ich war auch viel zu sehr damit beschäftigt, über das zu staunen, was uns auf dem Weg begegnete.
Die ganze Umgebung befand sich in einem ständigen Wandel. Sie floss langsam in alle möglichen Richtungen. Die Farben waren wohl nicht für menschliche Augen gemacht. Ebenso wie die Gerüche, die in der Luft lagen und die Musik, die ich aus der Ferne hörte, aber ich konnte die Richtung nicht ausmachen. Es war überraschend angenehm, diese ganzen neuen Eindrücke. Nach der langen Stille und Taubheit eine Massage fürs Gehirn.
So merkte ich es gar nicht, dass wir uns jetzt in einer großen Halle befanden. Auch in dieser Halle waren alle physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt, aber ich konnte jetzt schon die Raumbegrenzungen ausmachen.
In der Mitte befand sich etwas, das nach diesen Maßstäben ein Tisch war. Zwei endlose Reihen von weißen Gesichtern. Wir blieben am Kopfende stehen.
„Und das, Alicia, ist der Rat der Wächter der Zeit.“

Alicia
Nachdem ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, stellte ich ihnen endlose Fragen. Wo war ich hier? Was war passiert? Was sollte ich hier?
Sie gaben mir alle Antworten. Ich konnte alles fragen, mir wurde keine Information verweigert. Ich erfuhr, was in den letzten Stunden vor meinem Tod passiert war. Zuletzt wurde ich in meine neue Aufgabe eingeweiht.
„Du befindest dich in der Welt zwischen den Zeiten“, sagten sie. „Dir wurde eine besondere Aufgabe übertragen. Die Welt gerät aus den Fugen, in deiner Zeit, in Catarinas, aber auch in anderen, zu denen du keinen Zugang hast. Wilhelm starb, bevor er den Brief übergeben konnte.“
Es durchfuhr mich kalt.
„Was du vielleicht noch nicht wusstest, ist, dass es eine Nachricht gab. Sie war nur kurz und banal, aber sie ist entscheidend. Der Brief kam an, aber die mündliche Nachricht ging verloren.“
„Sie wird nirgendwo erwähnt.“ Ich fror immer stärker. Konnten sie nicht endlich zum Ende kommen?
„Alicia.“ Der Sprecher zögerte. „Es ist sehr wichtig, dass du die ganze Geschichte verstehst. Du bist in gewisser Weise Catarina, so wie Marion Anna ist…“
„Marion ist Anna? – Moment, das Foto? Ihr wisst davon?“
Eine Welle der Heiterkeit lief um den Tisch. „Vergiss nicht, dass wir Zeitenwächter sind. Wir sehen alles.“
„Was soll ich jetzt tun?“
„Du sollst den Brief wiederbeschaffen und ihn gemeinsam mit der Nachricht der Familie Reuther überbringen.“
„Aha“, sagte ich trocken. Langsam wurde es zu verrückt.
„Du bekommst vorher natürlich noch einige Informationen“, ergänzte der Wächter hastig. Ich schien diesen merkwürdigen Blick immer noch zu haben, er war zusammengefahren, als ich ihn ansah.
„Und wir haben vorher noch eine andere Aufgabe für dich. Du kannst dich jetzt am besten über den Spiegel durch die Zeiten bewegen. Wir zeigen dir zuerst einmal des-sen Entstehungsgeschichte, denn du musst ihn in- und auswendig kennen, um ihn richtig nutzen zu können.“
„Das geht mir jetzt alles etwas zu schnell.“
„Wir holen dich ab, wenn es soweit ist. Ich glaube, du kannst eine Pause gebrau-chen.“
Das war typisch für alles, was bis jetzt geschehen war, und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, in was für einem Irrenhaus ich eigentlich gelandet war.
Wilhelm brachte mich in den Raum zurück, in dem ich erwacht war. Ich schlief so-fort ein.

Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr, als Wilhelm mich zu meiner ersten Reise abholte. Es ging wieder durch endlose Gänge, einer wie der andere, aber nicht in den Saal, sondern in eine kleine Kammer, in der ich den Spiegel vorfand.
„Ist die Überraschung gelungen?“ fragte Wilhelm.
Ich brauchte ein paar Sekunden. „Das kann man wohl sagen“, brachte ich heraus.
Einer der Wächter trat aus dem Schatten auf uns zu. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie da waren.
„Es ist nur ein Abbild des Spiegels“, sagte er. „Das, was er wirklich ist, könnte keiner ertragen, Wilhelm nicht, du nicht, nicht einmal wir.“
„Was nicht ertragen? Was ist der Spiegel denn?“
Sie wichen mir aus. Ich seufzte. „Und was muss ich tun?“
„Wir haben das Tor schon eingestellt. Du wirst in der Entstehungszeit des Spiegels ankommen, um ihn verstehen zu lernen. Viel Glück.“
Ich sah Wilhelm an, aber er wies nur auf die glatte Scheibe des Spiegels. Also holte ich tief Luft und stürzte mich einfach in ihn hinein.

1348
Kälte. Regen. Die ersten Eindrücke, die ich von der Zeit gewann, in der ich gelandet war, waren nicht sonderlich angenehm. Ich schüttelte mich. Meine Zähne klapperten vor Kälte, und ich war durchnässt, ich trug altertümliche Kleidung aus Wolle und musste hier schon eine ganze Weile gesessen haben. Ich erhob mich von der kleinen Mauer vor einer Kirche, auf der ich gesessen hatte und sah mich erst einmal gründlich um. Ich hatte keine Ahnung, in welchem Jahr ich gelandet war oder zu wem ich gehen sollte.
Auf der anderen Seite des Platzes befanden sich mehrere Planwagen, davor hatten die Leute kleine Stände aufgebaut. Trotz des Regens waren mehrere Frauen unterwegs, die mit den Händlern feilschten und ihre Einkäufe erledigten. Ich schüttelte meinen Rock aus und mischte mich unter sie. Es war ungewohnt, wieder in der normalen Welt zu sein. Mein Magen knurrte, als hätte ich seit Stunden nichts zu essen bekommen. Von einem der Stände schlug mir der Duft nach Gebratenem entgegen. Ich hatte vergessen, dass man Hunger haben konnte. Seit ich erwacht war, hatte ich an so irdische Dinge keinen Gedanken verschwendet. Ich fand in einem Beutel ein paar Münzen und ging zu dem Händler mit dem Fleischangebot.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich mit meiner Suche anfangen sollte. Am besten fing ich bei den Händlern an.

Stunden später
Ich war schon fast durch bei den Händlern und einigen der Leute, die sich auf dem Markt aufhielten und allmählich war kaum noch einer bereit, sich meine Fragen anzuhören. Aber dann geriet ich an einen Wollhändler ganz am Ende des Marktes, der mir von einer Prophezeiung erzählte. Ich merkte darüber nicht einmal, dass es auf-hörte zu regnen. Die Geschichte war kurz vor Weihnachten aufgekommen. Es ging um ein junges Mädchen oder einen jungen Burschen, man wisse es nicht genau, das den Fahrenden aus Russland aufsuchen werde.
Ich hakte nach, wo ich diesen Fahrenden finden könne?
Der Händler wurde unruhig, er zog sich in die Tiefen seines Wagens zurück. Ich folgte ihm.
Der Fahrende sei mal hier, mal dort, wie es ihm entspreche, aber niemand wisse je genau, wo er sich befinde. Es werde gemunkelt, er sei ein Zauberer. Aber er könne mir vielleicht mit der Auskunft helfen, dass man von ihm das letzte Mal von ihm vor drei Tagen gehört habe, in einer Stadt drei Orte nach Süden.
Und dahin machte ich mich nun auf den Weg.

Drei Tage später, 3 Orte weiter südlich
Ein Lokal des Weges, welche Wohltat! Nachdem ich größtenteils unter freiem Himmel geschlafen und kaum etwas gegessen hatte, seufzte ich aus tiefstem Herzen auf, als ich das Herbergsschild sah. Auf einem Feld in einigem Abstand zu dem Haus befand sich eine Planwagenburg auf einer Wiese.
Ich stieß die Tür auf. Der Raum war voller Menschen, ein paar schauten kurz auf, aber ich unterschied mich vom Aussehen nicht mehr im Geringsten von ihnen, und so wandten sie sich bald wieder ihren Beschäftigungen zu. Hinter dem Spiegel schien man größten Wert auf Unauffälligkeit zu legen.
„Hierher Mädel!“ dröhnte plötzlich ein kräftiger Bariton aus einer Ecke.
Ich blinzelte, schaute mich um, aber keine der anwesenden Frauen war noch jung genug, um als Mädchen bezeichnet zu werden. Ich musterte den kräftigen Mann, der da aufgestanden war und drängte mich durch die Leute zu ihm durch. Wir saßen voreinander und musterten uns. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig, musste meinen Eindruck aber im Laufe des Gesprächs nach unten korrigieren. Er war eher Anfang zwanzig. Die aschblonden Haare trug er zurückgebunden, sie reichten bis zur Rückenmitte. Er hatte ein markantes Gesicht und tiefliegende Augen. Über seine linke Wange zog sich eine weiße Narbe. Er trug unauffällige Kleidung, grobes Leinen- und Wollzeug, neben sich hatte er einen Hut liegen.
Der Ausdruck in seinen Augen irritierte mich für einen Augenblick, sie waren wie tiefe Seen von Weisheit und noch etwas, das ich nicht einordnen konnte, sie glichen darin meinen.
„Danke, dass Ihr mir den Platz freigemacht habt.“
„Für ein schönes Mädchen tut man diesen Gefallen gern.“
Für einen Moment hatte ich den Eindruck, einem alten Mann gegenüber zu sitzen, aber das war schnell vorbei.
Er winkte einem Mann, der mir einen Bierkrug, Brot und Fleisch hinstellte. Ich merkte erst jetzt, was für einen Hunger ich hatte. Er hatte seine Mahlzeit beendet, winkte nach einem frischen Bier und stopfte seine Pfeife, rauchte gemächlich, während ich aß.
Ich bestellte mir noch ein Bier und schob schließlich meinen Teller weg, gesättigt und aufgewärmt.
„Wen sucht Ihr?“ fragte er mich.
„Sehe ich so aus, als suchte ich jemanden?“
„Auf viele Meter“, sagte er. „Ich habe von euch gehört, Ihr habt die Händler nach der Sage gefragt.“
„Ihr wisst zu viel.“ Ich wurde misstrauisch. „Wer seid Ihr?“
Er zog an seiner Pfeife und musterte mich mit einem Anflug von Schalk.
„Ich bin jemand, der die Sage kennt. Ich könnte Euch helfen. Mir wurde gesagt, dass ein Mädchen kommen wird, das Fragen stellt.“ Er musterte mich, reglos bis auf die Augenbewegungen. „Es passt auf Euch.“
„Eine Frau, von der keiner weiß, woher sie kommt oder was sie will?“
„Genau. Und der Mann, den sie sucht, besitzt eine Glasscheibe, die er geschenkt bekam und in Ehren hält, der weit gereist ist. Er hat seit Jahren auf dieses Mädchen gewartet, weil sie ihm sagen wird, was er mit der Scheibe tun soll.“
„Habt Ihr euch diese Geschichte ausgedacht, um mich zu ködern, weil ich zufällig jemanden suche?“ Er regte mich auf. „Verdammt nochmal, hört auf, so zu grinsen, was zum Teufel wollt Ihr von mir?“
„Dass Ihr aufhört zu fluchen“, sagte er leise und machte mich mit einer schnellen Augenbewegung auf ein paar Männer in Kutten aufmerksam, die in einer dunklen Ecke der Schenke saßen.
„Oh“, sagte ich und behielt sie von nun an im Auge. „Aber vielleicht habt Ihr euch diese Geschichte ja nur zu Eurem Vorteil ausgedacht und bindet sie nun einem Mädchen auf die Nase?“
„Warum sollte ich das tun?“ fragte er. „Ich hörte die Sage das erste Mal, als ich vor vielen Jahren in die Gegend kam. Sie machten um mich einen hohen Bogen. Sie verweigerten mir den Zutritt in ihre Kirche. Erst als ich mich bereiterklärte beim Bau der neuen Kapelle auf der anderen Seite der Stadt zu helfen und die Beichte abzulegen, all diese Dinge, ohne die ein rechtschaffener Mann in dieser Stadt nicht leben kann, nahmen sie mich in ihrer Mitte auf. Seitdem habe ich gewartet, dass dieses Mädchen erscheint. Seid Ihr es?“
Ich erzählte ihm alles. Er nickte, als ich geendet hatte. „Es passt alles zusammen. Mögt Ihr mich auch für einen Schwindler halten, ich habe Euch einen Platz angeboten und die Lösung Eures Problems. Wenn Ihr mir vertraut, kommt mit hinaus und begleitet mich auf Tag und Nacht und seht selbst, dass ich nichts zu verbergen habe. Und ich zeige Euch die Scheibe.“
Ich zögerte, wie wohl jedes Mädchen gezögert hätte, aber ich hatte nichts zu verlieren.
„Ich komme mit Euch“, sagte ich und stand auf.

Sein Planwagen stand vor der Tür. Ich stieg hinein.
„Heute Nacht werde ich nicht mehr fahren. Hier habt Ihr Decken, macht es euch in einer Ecke gemütlich.“
Der Wagen war voll von Dingen. Ich konnte mich nicht sattsehen, auch wenn kaum etwas zu erkennen war, es war inzwischen vollkommen dunkel geworden.
„Morgen bei Tageslicht könnt Ihr euch umsehen“, erklang seine amüsierte Stimme. Er schien sich blind in seinem Wagen zurechtzufinden.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, durch winzige Ritzen kam doch etwas Licht von den Feuern draußen herein. Ich schaute meinem Gastge-ber zu, wie er durch den Wagen ging, dann hörte ich ein gedämpftes „Wusch“ und sah zu, wie er ein paar Lichte in Tonschalen anzündete.
Jetzt hätte ich Licht gehabt um mir den Wagen anzusehen, aber mein Blick blieb an meinem unbekannten Gastgeber hängen. Er zog sich gerade das Hemd aus und hängte es über einen Pfosten. Schwere Arbeit hatte seinen Körper über die Jahre geformt, besser hätte er es in keinem Fitnessstudio hinbekommen. Wenn ich an die Jungs dachte, mit denen ich zu Hause auf dem Schulhof und in der Firma gearbeitet, diskutiert und früher auch gerauft hatte…das war gar kein Vergleich!
„Wie heißt Er eigentlich, bei wem bin ich hier?“
Er hielt inne bei der vertraulicheren Anrede und um seinen Mund zuckte es, als er meinen Blick auf sich ruhen sah.
„Ich bin Philipp.“
Er lächelte weiter, aber er fragte mich nicht nach meinem Namen.
„Ich könnte Euch vor dem Einschlafen noch erzählen, wie ich an die Scheibe gekommen bin.“
Ich lächelte. „Sehr gern.“
Er erzählte mir seine halbe Lebensgeschichte.

Philipp
Im Jahre des Herrn 1338 kam ich im Verlauf meiner zahlreichen Reisen nach Russ-land. Die Weiten dieses gewaltigen Landes, tagelange Fahrten, ohne einer Menschenseele zu begegnen, nicht einer Hütte, nicht einem Bauernhof. Manchmal hörte ich Wölfe, ich fand Ebenen und Wälder. Es hatte einen ganz eigenen Reiz, dem ich hoffnungslos verfiel. Ich war zu diesem Zeitpunkt zwanzig Jahre alt, hatte zu Hause unter dem Schutz der Gilde eine Lehre als Zimmermann gemacht und war danach auf Wanderschaft gegangen. Doch hielt ich es nicht lange aus, als ich wieder in meinem Dorf war. Also packte ich ein Jahr später wieder meine Sachen und ging erneut auf Wanderschaft, dieses Mal für immer. Es hielt mich nichts mehr, es gab keine Werkstatt, die mir genügt hätte, kein Mädchen, das mir gefallen hätte.
Ich kam von Köln und ging einfach Richtung Osten. Es trieb mich immer weiter, mit keiner Marschleistung war ich zufrieden, bis ich irgendwann Russland erreichte, natürlich ohne dass ich es wusste. Ich ging von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, die Sprache und die Menschen änderten sich. Ich brauchte ein Jahr, bis ich Moskau er-reichte. Es war Winter, als ich dort ankam.“
Er hielt inne und erinnerte sich an etwas.
„Vor zwei oder drei Monaten traf ich einen, der gerade aus Russland kam. Wir tauschten Erfahrungen aus. Das Russland, das er sah, habe ich nie kennengelernt.“

Als er die Stadt erreichte, war er erschrocken, wie sie aussah. Es hatte sich schon lange vorher angekündigt, in den Dörfern qualmte es, die Menschen hatten angefangen, in den Ruinen neue Häuser aufzubauen. Die wenigsten waren stehengeblieben. Es herrschte größte Not. Philipp versuchte zu helfen, wo er konnte, aber auch seine bescheidenen Mittel waren bald aufgebraucht. Er fragte die Menschen, was geschehen war, und erst im dritten Dorf bekam er eine Antwort:
Im vorigen Jahr, erzählte ihm ein alter Mann, seien sie gekommen, barbarische Heere, mordend und brennend, querfeldein, jeder Widerstand sei niedergeschlagen worden, bevor man sich richtig erhoben habe. Zu guter Letzt sei die Seele des Landes gefallen: sie nahmen Moskau ein.
Da wusste Philipp, was der alte Mann meinte. Es hatte schon zehn Dekaden zuvor begonnen, da waren sie eingefallen und dann trat ein anderer Mann vor und flüsterte es ihm zu: die Tartaren, um Gottes Willen, sprecht nicht davon, wenn euch Eurer Leben lieb ist, hier nicht, und in Moskau erst recht nicht. Keiner will daran erinnert werden, was geschehen ist, wir versuchen alle nur zu überleben.
Philipp fröstelte. Er dankte den Männern und zog noch am gleichen Tag weiter. Sein Nachtlager schlug er weit nach Einbruch der Dunkelheit im Schutz von Mauerresten des nächsten verlassenen Dorfes auf.

Moskau war eine Wüste. Es stank schlimmer als viele Städte, die Philipp bisher besucht hatte. Menschen mit Karren und Tüchern vor den Gesichtern eilten vorbei. Er vermisste die Händler, die sonst allgegenwärtig waren. Es herrschte eine unheimliche Stille. In einem Hauseingang saß eine Frau, jung, aber als sie sich das Tuch vom Gesicht zog, sah er, dass das Leid tiefe Furchen gezogen hatte.
„Ihr seid fremd hier“, flüsterte sie. „Was hat Euch hierher verschlagen? Was tut ihr in dieser verfluchten Stadt? Verlasst sie lieber so schnell es geht.“
Er konnte nicht weitergehen. Etwas an der Frau zog ihn an. Philipp wollte sie nicht zurücklassen.
„Ich komme von sehr weit aus dem Westen“, sagte er stockend in der Sprache des Landes.
„Du Narr“, sagte sie hustend. „Es hat bisher jeden Reisenden erwischt, ohne Ausnahme, und Euch wird es auch nicht anders ergehen!“
„Von was redet Ihr?“ Er konnte den Blick nicht von dieser Frau abwenden, die ihn mit allen Mitteln bewegen wollte, die Stadt wieder zu verlassen.
Sie antwortete nicht, auch nicht, als er sie vorsichtig hochhob. Sie leicht wie eine Feder, wenig mehr als Haut und Knochen.
„Was habt Ihr vor?“
„Ich werde Euch am Leben erhalten“, sagte er und legte sie in seinem schmalen Wagen hinten unter Decken. Ihre Zähne begannen zu klappern, sie glühte jetzt.
„Ihr habt Fieber“, stellte Philipp fest. „Und Ihr braucht etwas zu essen.“
Sie lachte rasselnd. „Versucht einmal in dieser Stadt etwas zu essen zu finden!“
Ein heftiger Hustenanfall schüttelte sie. Philipps Besorgnis verstärkte sich. Er hatte im Laufe der Jahre auch medizinische Kenntnisse erworben, hatte sich oft beim Heilkundigen etwas abgeschaut. Er hörte, dass ihre Lungen nicht in Ordnung waren und jetzt war auch noch das Fieber dazugekommen.

„Die Burg…“ Es war das erste, was sie nach vielen Stunden sagte.
„Von welcher Burg sprecht Ihr?“
„Bringt mich auf die Burg.“ Sie kroch zu ihm zum Kutschbock und deutete nach Westen.
Er schaute genauer hin. Die Burg lag auf keinem Berg, sie lag hinter einer roten Mauer. Er hatte von der Mauer schon auf den Dörfern gehört. Es hatte angefangen stärker zu regnen, aber er zog stärker an den Zügeln und schickte die Pferde mit raschem Tempo durch den Schlamm um nicht steckenzubleiben.
„Den treibt’s, als hätte er Feuer unterm Hintern!“ rief ein erboster Mann, dessen Frau beim Sprung in Sicherheit ausgerutscht war.
Es kümmerte Philipp nicht. Alles, an was er jetzt denken konnte, war die Frau hinten in seinem Wagen.

„Tatjana ist jetzt seit über einer Woche fort“, sagte der Fürst besorgt zu seinem Kanzler. „Ich hätte sie nicht fortlassen dürfen in diesen Tagen!“
„Sie wusste, was sie tat“, sagte der Kanzler.
„Aber keiner weiß, wie schlimm es draußen wirklich ist! Sie setzt sich einfach der Gefahr aus, noch dazu als Frau...“
Krylow sah auf einen Blick, dass es dem Fürst schon wieder schlechter ging. Er stellte beunruhigt fest, dass es dasselbe war wie immer, wenn Tatjana Rasumena für mehrere Tage außer Haus war. Der Fürst verfiel in Trübsal und bekam früher oder später ein Fieber, das ihn auf Tage handlungsunfähig machte.
Er trat ans Fenster und schaute hinaus auf den Innenhof. Gerade war ein Planwagen angekommen. Der Mann auf dem Bock war dünn und schmutzig, aber er sah längst nicht so heruntergekommen und krank aus wie die meisten in der Stadt in diesen Tagen. Vielleicht war er ein Händler, von denen wahrlich selten genug einer herein-kam, seit sich das Schicksal der Stadt herumgesprochen hatte.
Der Mann stieg ab und hob die Plane, die den Wagen hinten verschloss. Als er sich wieder aufrichtete, hob er eine Gestalt heraus. Sie hing reglos in seinen Armen.
Er spürte durch einen Luftzug, dass der Fürst neben ihn getreten war.
„Tatjana.“ Die Stimme Alexander Sokolows brach.
„Nicht, bleibt hier, Ihr seid selber krank…“ Wolkow versuchte vergeblich, ihn auf-zuhalten. Doch Sokolow streifte ihn ab und stürzte aus dem Raum.

Sie war bewusstlos, als Philipp sie aus dem Wagen holte. Er war erschrocken, wie schnell sich ihr Zustand verschlechtert hatte. Sie waren nur wenige Stunden unter-wegs gewesen. Als sie durch das Tor in der roten Mauer fuhren, stürzten Frauen und Kinder auf den Wagen zu, als er die Frau aus dem Wagen hob, kamen Männer hinzu, die Platz für ihn machten. Sie trugen Leder und Waffen, eine Art Wache. Er ging durch die Gasse zum Tor und schaute erst auf, als ein Mann direkt vor ihm stehenblieb. Philipp wich einen Schritt zurück und richtete sich auf. Der Blick des Mannes ruhte auf ihm.
Philipp erkannte Macht, wenn er sie vor sich hatte. Er respektierte sie, aber er war sein eigener Herr. Er trat lediglich noch einen Schritt zurück, um den geziemenden Abstand zu wahren, aber er blieb aufrecht stehen.

Sokolow war ein erfahrener Mann. Er war zu diesem Zeitpunkt fünfunddreißig Jah-re alt und von Kindesbeinen an auf seine Stellung vorbereitet worden. Als man er-kannte, dass der Junge eine außergewöhnliche Begabung dafür hatte, das Besondere auch im gewöhnlichsten Menschen zu sehen, schickte man ihn zu befreundeten ausgesuchten Fürstenhäusern, damit er dieses Talent dort unter Anleitung entfalten konnte. Bald schon war er Berater auf Zeit, bis er schließlich auf die Burg seiner Vä-ter zurückkehrte.
Er durchschaute die Lügner, die inzwischen in höchsten Ämtern saßen, er schützte seinen Vater vor dem Mann, der seinen Tod geplant hatte, er war nur drei Tage vor dieser Nacht wieder nach Hause gekommen. Nur um dann festzustellen, dass sein Vater wahnsinnig geworden war. Er ertrug die Herrschaft seines Vaters mehrere Wochen. Dann ließ er einen der Mitverschwörer aus dem Turm holen. Der Anführer war gehenkt worden, doch die anderen saßen noch hinter Schloss und Riegel. Der Mann dachte, er würde ein weiteres Mal gefoltert werden und trat aschgrau im Gesicht in sein Arbeitszimmer.
„Bitte, wenn ich noch etwas wüsste, hätte ich es schon Euren Knechten gesagt“, bettelte er.
Sokolow ging vor ihm auf und ab, die Hände in seinem weiten Mantel auf dem Rücken verschränkt. Schließlich blieb er vor ihm stehen. „Ihr glaubt, ich möchte mit Gewalt etwas aus Euch herausbekommen?“
Der Mann schaute geradeaus, knapp an Sokolow vorbei.
„Also schön. Ich werde Euch nichts tun. Wenn Sie mir helfen. Kommt näher.“
Der Mann trat zu ihm. Der Sohn des Fürsten stand am Kaminfeuer.
„Was habt Ihr vor?“
„ich bitte um Verzeihung, was ich Euch angetan habe. Ich hielt es für angemessen, denn niemand kommt ungestraft davon, wenn der Fürst ermordet wird.“
„Was habt Ihr vor?“
Sokolow kam noch näher. „Ich will“, sagte er so leise, dass der Mann ihn kaum verstand, „dass Ihr Euer Werk vollendet.“
Der Mann erbleichte noch mehr, wenn das möglich war. „Was bekommen wir da-für?“
Der Graf zollte ihm in Gedanken Anerkennung. Der Mann war nicht auf den Kopf gefallen. Es ging bei ihm um Gefängnis und Freiheit, Leben und Tod.
„Ihr habt die Wahl“, sagte er. „Ihr seid auf jeden Fall schuldig, und das Volk wird mich lynchen und Euch auch, wenn ich Euch laufen lasse.“
Der Mann schluckte. Ein paar Schweißperlen liefen von seiner Stirn.
Dann entschied er sich. Was für ihn galt, galt auch für die anderen Männer.
Und so wurde ein zweites Attentat auf den Fürsten vorbereitet, dieses Mal unter den Augen seines Sohnes. Es gelang. Die Attentäter starben selber dabei. Alle, bis auf einen. Dieser Mann wurde zunächst wieder in den Turm gebracht, bis Alexander Sokolow als rechtmäßiger Fürst entschied, was mit ihm geschehen sollte.
Er begnadigte Michail Krylow nach einem Jahr Turmhaft und setzte ihn schließlich in seiner Schreibstube für Arbeiten ein, als sich herausstellte, dass der Mann gebildet war. Nach und nach sorgte er dafür, dass er in die täglichen Aufgaben mehr eingebunden wurde, bis er ihn schließlich zu seinem Kanzler machte. Als sich die Nach-richt herumsprach, wurden mehrere Attentate auf Krylow verübt, die sie im letzten Moment vereiteln konnten. Nachdem der letzte Mann gehenkt worden war, wagte es keiner mehr, gegen diese beiden Männer die Hand zu erheben.
Mit ihm kam seine Cousine auf die Burg. Tatjana war ein wunderschönes Mädchen, das es aber bald wieder in die Stadt hinaus zog. Keiner der beiden Männer konnte sie lang halten, und so zog sie von Haus zu Haus und half aus, wo es not tat. Krylow, der daran gewöhnt war, dass das Mädchen manchmal tagelang verschwunden war, sorgte sich nicht, sondern ging seinen täglichen Geschäften nach, doch er behielt seine Cousine und seinen Herrn im Auge. Tatjana verbrachte neuerdings sehr viel Zeit mit Rodin Sokolow. Sie hielt es ein paar Wochen in der Burg aus. Dann musste sie wieder hinaus. Jedes Mal, wenn sie für mehrere Tage fort war, litt Sokolow unter einer Unruhe, die durch keine Ablenkung zu beseitigen war, keine Jagden im Wald, keine Ausflüge, keine Feste in der Burg. Tatjana war in der Stadt, als die Tataren einfielen. Und seitdem war er ohne eine Nachricht von ihr gewesen.

Nun stand er vor dem Mann, der sie zurückgebracht hatte. Sie sahen einander schweigend an, umringt von den Bewohnern der Burg. Er hatte Tatjana einem ande-ren Mann überlassen. Sokolow streichelte kurz ihr Gesicht und befahl dem Mann dann, sie sofort hineinzubringen und zu versorgen. Der Fremde hatte die ganze Zeit ruhig dagestanden. Er war sich seiner selbst vollkommen bewusst und verhielt sich durchaus nicht wie ein einfacher Mann, der zu seinem Fürst kam. Sokolow konnte ihn nicht einordnen.
„Ich bin Alexander Rodin Sokolow“, sagte er mit einer Stimme, die den ganzen Hof füllte, „Herr über dieses Haus und die Felder, die dazugehören. Jetzt sagt mir, wer Ihr seid?“
Philipp hielt sich aufrecht trotz der Müdigkeit, die ihn auf einmal überfiel.
„Ich bin Philipp von Köln“, sagte er. „Ich bin fahrender Geselle und fand diese Frau in der Stadt. Sie lenkte mich zu Eurer Burg.“
„Philipp von Köln, ich bin Euch zu Dank verpflichtet, dass Ihr Tatjana Iwanowa Rasumena zurückgebracht habt.“
Also so hieß die Frau, die ihm in den letzten Tagen den Kopf verdreht hatte, wegen der er Tag und Nacht am Ende durchgefahren war, um sie zur Burg zu bringen. Er verbeugte sich.
„ich empfand es als meine Pflicht, sie nach Hause zu bringen, als ich sie dort auf dieser Türschwelle in der Stadt fand.“
„Woher wusstet Ihr von diesem Ort? Die wenigsten wissen, was hinter der roten Mauer liegt.“
„Sie hat es mir gesagt.“
Sein Blick schweifte kurz ab. Dann kam er zu einem Entschluss.
„Ihr habt eine lange Reise hinter Euch, und so, wie es in den Dörfern vor der Stadt aussieht, seid Ihr auch dort nirgendwo gut aufgenommen worden. Bleibt ein paar Tage. Seid mein Gast. Ich bin sicher, dass auch Tatjana Euch wiedersehe möchte, wenn es ihr besser geht.“
„Kann ich ihr noch helfen? Ich habe bei einem Heilkundigen gelernt…“
„Sie ist hier in den besten Händen.“
Philipp konnte seine Besorgnis und Unruhe nicht verbergen. Den scharfen Augen des Fürsten entging das nicht.
„Fühlt Ihr Euch zu ihr hingezogen?“ fragte er mit einem dünnen Lächeln.
„Nun ja… nicht auf die Weise, wie Ihr denkt, ich erhebe gewiss keinen Anspruch auf sie…“
Zu seiner Überraschung lachte Sokolow schallend.
„Ich nehme es Euch nicht übel“, sagte er. „Tatsächlich hätte es mich gewundert, wenn es nicht so gekommen wäre. Tatjana ist eine außergewöhnliche Frau.“
Philipp hatte das deutliche Gefühl, dass Sokolow etwas ganz anderes hatte sagen wollen. Er setzte an, ihn danach zu fragen, aber dann überlegte er es sich anders. Vielleicht erfuhr er mehr, wenn er die beiden beobachtete und für sich sprechen ließ.

Nach drei Tagen, in denen er sich von der Reise und vor allem den letzten Tagen erholte, sah er Tatjana das erste Mal wieder. Der Fürst hatte ihn zum Abendessen eingeladen. Als er das große Speisezimmer betrat, in dem er gesondert von den anderen Burgbewohnern aß, wenn besondere Anlässe gegeben waren, erlebte er eine Überraschung. Bisher hatte Philipp seine Mahlzeiten zusammen mit allen anderen Bewohnern in der großen Halle eingenommen.
Das Speisezimmer war lang und schmal, hatte an einer Seite Fenster und an einer Schmalseite fiel das Auge des Eintretenden sofort auf ein Gemälde. Die Frau darauf schaute den Betrachter direkt an, sie hatte den Kopf ein wenig gedreht und saß ent-spannt auf einem zierlichen Stuhl.
„Wer ist sie?“ fragte Philipp Fürst Sokolow.
„Sie ist meine Mutter“, sagte er.
Er hatte die Lippen zusammengepresst und sah das Gemälde nicht an, stattdessen eilte er auf die Frau zu, die bereits am Tisch saß. Sie erhob sich lächelnd.
„Tatjana.“ Er küsste ihr die Hand, dann auf die Stirn und den Mund, ehe er ihre Hand nahm und mit ihr auf Philipp zuschritt.
Er musste zweimal hinsehen, bis er sie wiedererkannte. Er hatte Tatjana nur drei Tage nicht gesehen, aber die hatten sie völlig verändert. Ausgeschlafen, offenbar gebadet und wunderschön. Dunkles Haar floss über ihren Rücken, kontrastierte mit dem weißen Kleid und wurde von all dem Schmuck unterstrichen, den sie trug. Tatjana lächelte nur ganz leicht, aber genau das war es, was Philpp anzog.
„Heilige Muttergottes“, entfuhr ihm.
Tatjana neigte vor ihm den Kopf. „Ich danke Euch dafür, dass Ihr mein Leben gerettet habt.“
Das zeigte ihm mehr als deutlich, auf welcher Stufe sie stand. Philipp riss sich zusammen und küsste ihr die Hand. „Euer Diener.“
„Nehmt Platz“, forderte Sokolow ihn auf und führte Tatjana an ihren Platz zu seiner Rechten und deutete auf den Platz zu seiner Linken.
„Ich danke Euch.“
Der Fürst musterte ihn und deutete auf die Speisen, die jetzt aufgetragen waren. „Bedient Euch.“
Einer der Diener schenkte einen sauren Wein ein.
„Ich erzähle Euch etwas über Tatjana und mich“, sagte er leise. „Und danach sagt Ihr mir, was Ihr alles erlebt habt.“
Philipp hob den Kopf und schaute direkt in Tatjanas Blick. Sie wandte ihn nicht von Philipp ab.
„Tatjana“, sagte Sokolow.
Sie senkte sofort den Blick, aber sie lächelte dabei in sich hinein. Philipp konnte wieder frei atmen.
Der Fürst lehnte sich zurück. „Dann werde ich beginnen.“
Philipp hörte gebannt zu. Zum Schluss fügte Sokolow noch einen Satz hinzu.
„Tatjana hat Euch kommen sehen. Nicht nur mir wurde mehrfach nach dem Leben getrachtet, sondern auch ihr. Ihr wisst doch, dass Hexen von der Heiligen Kirche verfolgt werden?“
Philipp atmete scharf ein. „Tatjana ist eine Hexe?“
Er sah die junge Frau jetzt mit anderen Augen an und lehnte sich unbewusst in seinem Stuhl zurück. Sie sah es, senkte den Kopf, ihre Schultern zuckten, auch wenn sie sich die Kränkung nicht ansehen lassen wollte.
„Tatjana ist keine Hexe in dem Sinne, wie es geschrieben steht“, sagte Sokolow. „Sie ist eine Seherin. Ich habe es selber nicht geglaubt, aber sie hat ihrem Cousin schon vorhergesagt, was passieren wird. Und vor Wochen schon sprach sie von einem Reisenden, der meine Burg aufsuchen wird.“
„Aber sie ist dann doch in Gefahr“, sagte Philipp. „Wie Ihr selber sagtet, als eine Frau mit solchen Fähigkeiten…“
„Hier wird ihr nichts geschehen“, sagte Sokolow. „Und sie hütet sich davor, in den Häusern der Menschen in der Stadt Prophezeiungen zu machen.“
Philipp konnte sich wieder entspannen.
„Ihr bleibt natürlich heute Nacht mein Gast. Ich habe bereits veranlasst, dass für Euch eine Kammer hergerichtet wird.“
„Ich danke Euch.“

Am folgenden Tage führte Sokolow Philipp durch die Burg. Gemälde und Stuckar-beiten, prächtige Pferde in den Stallungen, die Burg mitten in der Stadt war größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte.
„Natürlich haben die Herrscher der Stadt ein Auge auf mich“, sagte er lächelnd, „es gefällt ihnen nicht, dass es ein altes Geschlecht gibt, das hier genau solche Ansprüche hat, aber da ich meine Zahlungen leiste, lassen sie mich leben und walten.“
„Ich bin beeindruckt.“
„Ich vergaß, Verzeihung, dass Ihr ja nur ein einfacher Handwerker seid.“
„Seht Ihr in mir denn etwas anderes?“
Der Fürst musterte ihn. „Ihr seid selber aus einem Geschlecht. Irgendwo in Eurer Geschichte gibt es einen Fürsten, auch wenn Euch selbst nichts davon bekannt ist.“
„Es ist doch etwas anderes, erzählt zu bekommen, wie Ihr Euer Gegenüber durch-schaut, oder es zu erleben“, bekannte Philipp. „Mein Vater erzählte früher einst so eine Geschichte, dass es in unserer Familie einmal einen Fürsten gegeben hat, aber ich versuchte Näheres zu erfahren und stieß auf taube Ohren. Es erinnert sich niemand oder es will mir keiner erzählen, was es damit auf sich hat.“
„Eines Tages werdet Ihr dahinterkommen“, sagte der Fürst.
Sie verließen den Stall wieder und der Fürst führte Philipp zurück ins Haus.
„Ich zeige Euch jetzt etwas Besonderes“, sagte er. „Das habt Ihr sicher noch nir-gendwo gesehen.“
„Ich bin immer neugierig auf Neues. Es ehrt mich, dass Ihr mich in Eure Gemächer einlasst.“
Der Fürst öffnete eine Seitentür und führte ihn durch ein vollkommen schmuckloses steinernes Treppenhaus immer höher, bis sie am Ende eine einzige Tür erreichten.
„Wir sind hier im Erker, der nach Süden liegt“, sagte er. Er nahm einen massiven großen Schlüssel aus der Tasche und drehte ihn im Schloss.
„Hierher komme nur ich her und die Leute, denen ich Zutritt gewähre.“
Er stieß die Tür auf und ließ Philipp eintreten.

Im ersten Moment war er vollkommen geblendet. Das Turmzimmer hatte sechs geschickt angeordnete große Fenster. Das Tageslicht fiel ungehindert in den Raum ein und auf mehrere große Spiegel, die an den Wänden hingen oder mitten im Raum standen. Alle waren von kostbaren Rahmen eingefasst. dazwischen standen kleine Tische, auf denen blitzende Kristallfiguren standen, in denen sich das Licht tausend-fach brach und von den Spiegeln hin- und hergeworfen wurde. Philipp fehlten die Worte.
Der Fürst stand hinter ihm und wartete auf seine Reaktion.
„Himmel“, murmelte Philipp. Er machte einen Schritt in den Raum hinein. „Darf ich?“
Sokolow nickte. „Nur zu.“
Philipp verlor sich in dem Zimmer. Einmal warf er einen Blick aus dem Fenster und schaute hinaus in die Stadt, die unter ihm im Schatten lag. Dort kam die Sonne um diese Tageszeit nicht hin.
Als er sich umdrehte, blendete ihn das Licht, das von einem anderen Spiegel zu-rückgeworfen wurde.
„Wo habt Ihr all das her? So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagte Philipp. Er war überwältigt.
„Wart Ihr in einer unserer Kirchen?“
„Natürlich.“
„Aber nicht in Moskau. Unsere Kirchen haben die kostbarsten Ikonen, die Ihr Euch vorstellen könnt. Dieses Zimmer ist nur eine Liebhaberei von mir. Es kommt nicht annähernd mit unseren großen Kirchen mit.“
Der Fürst trat ein und ging langsam von Tisch zu Tisch, berührte ab und zu eine Figur, drehte sie, dass es nur so blitzte.
„Die besten Glaswerkstätten arbeiten für mich“, sagte er.
Er ging zu einer fast dreißig Zentimeter hohen Figur und drehte sie so, dass Philipp in ihr Gesicht sehen konnte.
„Diese Marienfigur ließ ich für Tatjana anfertigen.“
Philipp betrachtete sie. „Sie muss sehr wertvoll sein.“
„Unbezahlbar“, sagte er leise. „Tatjana ist die einzige, die dieses Zimmer ohne mich betreten darf.“
Er drehte die Figur wieder um und als er Philipp anschaute, war er wieder ganz gefasst.
„Ich – und auch Tatjana – möchte Euch etwas schenken. Ein Stück aus meiner Sammlung, das Euch bestimmt ist.“
Er ging zu einem Spiegel, den Philipp fast übersehen hätte. Der Spiegel stand hinter einem anderen und widerspiegelte keinen Lichtstrahl, man sah in ihm nur den Raum und sich selbst.
„Dergleichen habe ich noch nie gesehen“, sagte Philipp und ging ehrfürchtig darauf zu. „Er sieht aus wie die kleinen, die die Damen besitzen…“
„Er ist einmalig“, sagte der Fürst. „Mein Vater ließ ihn anfertigen, vier Männer waren notwendig, um die Glaskugel groß genug zu machen, um diesen Spiegel herzustellen.“
„Ich kann ihn nicht annehmen“, wehrte Philipp ab.
„Ihr werdet ihn noch brauchen“, sagte der Fürst. Er streichelte fast den Rahmen, so vorsichtig glitt seine Hand darüber.
Philipp sah sich die Scheibe genau an. Er fand keinen Makel. Auf seinen Wande-rungen hatte er schon von so reinem Glas gehört, dass man sich darin spiegeln kann, aber er hatte bis jetzt nicht ein einziges solches Stück gesehen, und dieser Mann hatte so ein einmalig großes!
„Ich werde ihn aus dem Rahmen lösen und in einen Holzrahmen einspannen lassen“, sagte Sokolow, „das ist für Euch gewiss besser, um ihn zu verstauen und zu transportieren, bis Ihr ihn benötigt.“
„Woher wollt Ihr wissen, dass ich einen solchen Spiegel einmal benötige?“ fragte Philipp.
Die beiden Männer waren schon wieder auf dem Weg nach unten. Dort kam ihnen im Flur Tatjana entgegen. Sokolow hob lächelnd die Schultern und für einen Moment sah er nicht mehr wie der ehrfurchtgebietende Fürst aus, der er war.
„Sie wusste es.“
Tatjana kam zu ihnen. Sie trug ein grünes Kleid, das in seiner Schlichtheit ihre Schönheit hervorhob.
„Ich wünsche Euch Glück auf Eurer Reise“, sagte sie. „Vielen Dank, dass Ihr mich aus der Stadt geholt habt. Und ich habe noch eine Nachricht für Euch.“ Sie veränderte ihre Körperhaltung, zeigte ihre Macht. „Eine Frau wird den suchen, der das Tor bei sich trägt und ihm dabei helfen, es sichtbar zu machen.“

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5353 Beiträge veröffentlicht!