Schneekind VII
von Sabine Herzke (melody)

 

Alicia
Ich hatte reglos der Erzählung zugehört, konnte förmlich die vornehmen Räume vor mir sehen, mit ihm durch das Moskau jener Jahre wandern…
Er stieß mich an. „Bist du noch wach oder habe ich dich einschlafen lassen?“
Ich rollte mich auf den Bauch und lächelte. „Wie könnte ich bei so einer spannenden Erzählung einschlafen?“ Ich hatte die Gestalt der Tatjana vor mir, diese wunderschöne junge Frau mit dem zweiten Gesicht.
„Hat Er sie geliebt?“
Er schmunzelte. „Nicht so, wie du es vielleicht denkst. Diese Frau musste man lieben, und ich machte da keine Ausnahme. Es gab keinen Mann, der ihr nicht verfiel.“
Ich war eifersüchtig und er merkte es. „Eifersüchtig? Das musst du nicht sein. Das war vor zehn Jahren! Ich habe niemanden von ihnen je wiedergesehen.“ Er umarmte mich. „Jetzt schlaf.“
„Gute Nacht“, murmelte ich und wickelte mich in meine Decken.

Ich erwachte mit dem ersten grauen Licht, das in den Wagen fiel. Zunächst wusste ich nicht wo ich war, bis ich hörte, dass Philipp sich regte und leise aufstand. Ich setzte mich auf, er drehte sich um und lächelte. „Du bist schon wach?“
„Mir ist kalt.“
„Hier, zieh dich an. Ich mache Feuer und Frühstück.“
Ich nahm die warme Kleidung, die er mir zuwarf und zog mich an und stieg aus dem Wagen. Es dämmerte gerade, im Osten konnte ich das schwache Morgenrot sehen. Der Platz lag still da.
Philipp hatte schon Wasser aus dem Brunnen geholt und entzündete ein Feuer in einem Korb.
„Bringst du das Brot und das Fleisch mit?“
Ich fand es in einem Korb neben dem Eingang. Er röstete das Brot und garte das Fleisch.
Ich hatte mich in eine Decke gewickelt, unter der ich die dicke Kleidung trug, die er mir rausgelegt hatte.
„Jetzt verstehe ich, was wirklich kalt ist“, sagte ich, die Kälte ging mir bis in die Knochen.
Philipp warf mir einen Blick zu. „Das hier ist gar nichts gegen russische Kälte.“
Ich nahm dankbar das heiße Essen entgegen. Wir aßen schweigend, schnell, dicht am Feuer. Ich half ihm, das Feuer zu löschen und den Wagen zu packen, alles musste festgeschnallt sein.
„Wann zeigt Er mir den Spiegel?“
„Nicht jetzt“, sagte er. „Alles zu seiner Zeit.“
Wir saßen über Stunden nebeneinander auf dem Kutschbock, keiner redete viel. Ich war froh, einen Begleiter gefunden zu haben, der mir Halt und Orientierung gab. Mir war nicht nach Reden. Viel mehr kuschelte ich mich in meine Decke und genoss die Landschaften, durch die wir kamen. Weite Felder, tiefe Wälder, so etwas kannte ich nicht aus meinem früheren Leben, irgendwo war immer etwas zugebaut. Ich wagte es auch nicht, die Stille zu durchbrechen. Manchmal stieß ein Vogel mit scharfem Schrei auf ein Feld hinab, Rehe flüchteten vor uns. Ab und zu warf Philipp mir einen Blick zu, aber er sagte auch nichts.
Ich ließ meine Gedanken schweifen. In meinem alten Leben hätte ich niemals einen Blick an die Landschaft verschwendet, ich war viel zu sehr mit der Arbeit beschäftigt, mit meinen Freunden, mit Feiern. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es im zwanzigsten Jahrhundert aussah, welche Geräuschkulissen dort herrschten und auf einmal merkte ich, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, was vor meinem Tod gewesen war. Mit der Erkenntnis kroch die Kälte unter meine Kleidung, ich schlug die Arme um mich, rang nach Luft, hatte das Gefühl zu fallen, durch mein Leben, durch die Zeit, ohne Halt, Schwindel.
„Alicia!“ Er hielt mit einem Ruck die Pferde an, stützte mich mit dem freien Arm, als ich fast vom Wagen fiel und langte nach einer versteckten Flasche Wein. Ich griff zitternd danach und trank sie halb leer. Das Kältegefühl ließ ein wenig nach, doch ich war erschöpft wie nach einem anstrengenden Lauf.
„Was ist mit dir?“ fragte er und hielt mich noch immer fest.
Ich lehnte mich an ihn. Für den Moment fühlte sich das richtig gut an, vor uns stampften die beiden Pferde auf den Boden und das Geschirr klirrte. Er drückte mich an sich, wir schwiegen wieder, bis sich mein Körper beruhigte und der Schwindel verging. Als ich wieder ruhig atmete, entspannte ich mich, blieb aber noch an ihn gelehnt sitzen. Schließlich richtete ich mich seufzend wieder auf.
„Es geht schon wieder.“
Philipp schaute mich aus seinen dunklen Augen an, aber ich hatte nicht die Absicht, noch etwas dazu zu sagen. Um uns herum war es jetzt so hell es eben sein konnte an einem verhangenen Tag. Er gab den Pferden einen Befehl und wir zogen wieder an.

Ich begleitete Philipp eine Woche lang. Später dachte ich, ich hatte niemals soviel erlebt wie in dieser einen Woche mit ihm, wo war ich nur gewesen?
Dann kam unser letzter Abend. Wir hatten uns in das Hinterzimmer eines Gasthofs zurückgezogen, in dem Philipp den Spiegel aufgestellt hatte. Ich hatte ihm – halb betrunken – vor zwei Tagen endlich erzählt, wer ich war und um was es ging. Er hatte der Prophezeiung geglaubt, aber die Geschichte ging doch etwas zu weit.
„Durch die Zeiten? Du warst tot und bist es doch nicht mehr?“
„Ja“, bestätigte ich. Er musterte mich. „Das ist kaum zu glauben.“
Ich lächelte schwach. „Manche Dinge sind nicht zu glauben und doch wahr.“
Ich ging auf den Spiegel zu. Kaum zu glauben, dass es derselbe war, den ich in meinem ersten Leben kennengelernt hatte. Jede Unebenheit war mir vertraut. Als ich noch nur ein Mädchen gewesen war, hatte ich mich immer gewundert, wie unsauber der Spiegel gearbeitet war. An einer Stelle wurde der Blick in tausend kleine Splitter gebrochen und man konnte sich dort im Dutzend sehen. Während ich den Spiegel neu entdeckte, stand Philipp ganz still hinter mir und legte mir nur den Arm um die Schulter. Ich fühlte mich geborgen.
„Du musst los, oder?“ Philipps Stimme klang gedrückt.
„Ich muss los.“ Ich schluckte die Tränen herunter.
Er umarmte mich. „Ich behalte dich in Erinnerung. Du bist etwas ganz Besonderes.“

Zeitrat
Der Spiegel schleuderte mich ins Vakuum. Ich kam direkt vor meiner Kammer her-aus. Der Gang war still, nicht einmal Wilhelm war da. Die Ruhe war mir willkommen. Ich glitt in meinen Raum, verbarrikadierte die Tür und sank in einen tiefen, unruhigen Schlaf. Ich träumte von Philipp.

Sie ließen mir die Zeit um mich zu erholen. Als der Wächter kam um mich zur Versammlung zu bringen, war ich wieder ausgeruht. Er brachte mich in die große Halle, die ich nur zu diesen Versammlungen betrat. Es gab eine Regel, die sie mir am ersten Tag schon gesagt hatten und die ich niemals brechen durfte. Mir stand das ganze Vakuum offen, jeder Raum, jeder Gang, jede Halle, außer dem großen Saal, den ich nur in Begleitung zu den Versammlungen betreten durfte und das Fensterzimmer.

Wieder zwei endlose Reihen gesichtsloser Wächter, am Kopfende Wilhelm.
Ich nahm meinen Platz ein. Wilhelm verlor keine Zeit.
„Hast du verstanden, was du erlebt hast?“
„Ich denke es“, erwiderte ich. „Ich glaube, dass ich diese Reise machen musste, um den Spiegel überhaupt erst zu finden und durch meinen Gang durch ihn ihm ihn zu einem Tor zu machen.“
Der Wächter neben mir bestätigte es. „Dafür haben wir dich dorthin geschickt.“
Es riss mich fast vom Sitz. Ich versuchte das Gesicht unter der Maske zu erkennen, irgendetwas in der Körperhaltung, das es mir bestätigte. Aber als ich ansetzte, etwas zu sagen, schüttelte der Wächter neben mir nur den Kopf.
Ich sank in meinem Sitz zurück und hörte nur noch halb hin, ich musste das verdauen. Der Wächter neben mir war Philipp. Warum hatte ich das in der ganzen Zeit nicht gemerkt, dass er ein Wächter war? Ich dachte, ich würde sie so gut kennen, dass ich jederzeit wissen würde, einem gegenüber zu stehen. Warum war ich dort auf ihn getroffen?
Wilhelm sprach mich direkt an und schüttelte leicht den Kopf. Ich riss mich zusammen.
„Es wird höchste Zeit. Der Brief ist immer noch nicht aufgetaucht. Wir haben schon August. Alicia, du bist die einzige, der wir diese Aufgabe übertragen können.“
„Ja gut, und was soll ich tun?“
Ich spürte, wie Philipp neben mir unruhig wurde. Was hatten sie sich jetzt schon wieder für mich ausgedacht?
Überrascht sah ich zu, wie Wilhelm rot anlief und kurz vor Verlegenheit kicherte, bis er von einem Wächter in die Seite gestoßen wurde. Er konnte es nicht. Ich beobachtete Wilhelm und sah zu, wie aus dem Marschall wieder der Neunjährige wurde, mit Flausen im Kopf, dem irgendetwas schrecklich peinlich war, das zu schlimm war, um es mir zu erzählen. Der Wächter neben ihm räusperte sich und wandte sich mir zu.
„Wir schicken dich in Wilhelms Zeit zurück. Wir brauchen diesen Brief. Und was der Schlingel dir hier nicht erzählen mochte… Nun, du wirst als Junge dorthin gehen.“
„Das ist nicht euer Ernst.“
„Wir würden dich niemals auf diese Weise reinlegen.“
„Ich lauf doch nicht als Kerl rum.“
„Ein Mädchen hat in der Zeit nicht die Möglichkeiten wie ein junger Bursche.“
„Dann schickt doch Wilhelm!“ rief ich aufgebracht. „Schickt ihn zurück!“
„Das geht nicht.“
Ich vergrub den Kopf in den Händen. Als Kerl rumlaufen. Früher hatte ich mit meinen Freundinnen Shopping-Touren unternommen. Andererseits… ich käme aus diesem Schwebezustand mal wieder heraus. Ich hätte festen Boden unter den Füßen, den man auch spürte, ich würde Tageszeiten und Jahreszeiten erleben und einen echten Körper haben.
„Und, Alicia, erinnerst du dich daran, wie du einst jeden Abend deinen Körper verflucht hast, als man dich bei den Jungs im Dorf ausgeschlossen hat? Du bist nicht immer ein Mädchen gewesen, das mit ihren Freundinnen Schminktipps austauschte und Pyjama-Partys veranstaltete.“
Ich hörte ihm zu und ich hatte die Bilder dazu im Kopf. Auf einmal erinnerte ich mich wieder. Wir hatten die Waldhänge direkt hinter unserem Dorf, wie oft kam ich zerkratzt und mit zerrissenen Jeans nach Hause, bettelte meine Eltern um ein Geländerad an und als ich es endlich hatte, donnerten wir die Hänge hinunter. Im Sportunterricht war ich beim Fußball und Geräteturnen ganz vorn. Das hörte von einem Tag auf den anderen auf, als wir nach der sechsten Klasse auf die höhere Schule verteilt wurden. Ich war jetzt zwölf und entwickelte erste zaghafte Rundungen, ließ mir die Haare wachsen und bekam üppige Locken. Auf einmal interessierten sich auch die Mädchen für mich, die mich immer geschnitten hatten. Wir kamen mit den Schülern der Kreisstadt zusammen und neue Freundschaften entstanden.
„Das hatte ich völlig vergessen“, sagte ich. „Warum habe ich mich nicht daran erinnert?“
„Weil du dein altes Leben vergessen wolltest“, sagte der Wächter. „Du warst so damit beschäftigt, dich anzupassen und glücklich zu werden, deine Familie glücklich zu machen und Erfolg zu haben, dass du vergessen hast, wer du gewesen bist.“
„Oh Gott“, flüsterte ich. Ich schlang die Arme um mich, als würde mir das gegen die Kälte helfen. Philipp berührte mich unterm Tisch leicht, beruhigend.
„Ich mach’s“, sagte ich.
Sie weihten mich in ihren Plan ein. Ich sollte als Laufbursche bei Thomas Heycken anfangen. Mein Name war nun Martin. In Heyckens Haus sollte ich herausfinden, wo sich der Brief befand und ihn dann stehlen.
„Ach ja, das ist alle?“ fragte ich. „Wunderbar. Und was passiert bitte, wenn sie mich erwischen?“
„Dir kann gar nichts passieren“, sagte Wilhelm im Brustton der Überzeugung.

15. August 1793
Ich trat also meinen Dienst im Hause Heycken an. Sie hatten mir eine gefühlte Woche Zeit gelassen um mich an meinen neuen Körper zu gewöhnen, hatten mich in einem Dorf in einem Gasthof versteckt, Philipp hatte mich auch dieses Mal begleitet und darauf geachtet, ob ich mich auch wirklich wie ein junger Mann verhielt.
Die ersten Tage kam ich nicht dazu, an meinen Auftrag zu denken. Mir schwirrte der Kopf von all dem Neuen, dem völlig anderen Leben in diesem Haus. Ich packte mit an, wo Hilfe gebraucht wurde, war ständig mit Depeschen unterwegs und fiel abends todmüde in meiner Kammer ins Bett.

Doch dann hatte ich bald eine gewisse Gewöhnung in meinem Alltag. Eine Routine kam hinein, ich duzte mich mit manchen Angestellten, wurde davor gewarnt, den Mädchen nachzustellen und ich kannte bald die meisten Adressen, zu denen ich oft unterwegs war. Ich machte mich auch im Haus zu schaffen, wo immer etwas zu tun war, und so kam ich ab und zu auch in stille, leere Räume. Offen gelassene Sekretäre, Bücherschränke… ich staunte, wie reich dieser Haushalt sein musste. Ich belauschte Gespräche, durchsuchte in unbeobachteten Momenten Papiersammlungen und Schriftstücke. Den Brief fand ich nicht.

Sie begannen über ihn zu reden. Natürlich fiel es auf. Er stecke seine Nase in alles, habe große Ohren und sei über alle Maßen neugierig.
„Wenn das ein ganz normaler Bursche ist, kündige ich meine Stelle“, erklärte der Sekretär von Herrn Heycken.
„Sag Er das nicht zu laut.“ Der Koch stimmte ihm zu. „Mir gefällt das auch nicht.“

4 Wochen später
Ich war aufgefallen. Sie trauten mir kaum noch. Es gab Räume, die ich nicht mehr allein betreten durfte, immer begleitete mich jemand mit irgendeiner Ausrede. Dann kam mir der Zufall zu Hilfe. An jenem Freitag sollte ich einen Brief zu einem guten Freund von Herrn Heycken bringen. Johann Tönnies wohnte eine gute halbe Stunde Fußmarsch entfernt.
Ich sollte mich sputen, da sei noch anderes zu tun! Mit diesem Zuruf verließ ich das Haus. Ich drehte mich nicht noch einmal um, sondern lief los.

„Ach ja. Er kommt von meinem Freund Heycken? Gib Er die Depesche einmal her…“
Ich nutzte die Gelegenheit mich unauffällig in dem großen Arbeitszimmer umzusehen. Den Schnitt des Hauses hatte ich mir eingeprägt, als ich hereingeführt worden war.
„Wart Er hier einen Moment.“
Tönnies ging zu seinem Schreibtisch, setzte ein paar Zeilen auf und reichte mir den Brief.
„Nimm Er das als Antwort mit.“

Der Diener, der mich eingelassen hatte, brachte mich zurück zur Tür. Er achtete da-rauf, dass ich auch wirklich das Grundstück verließ. Dann schloss er die Tür. Ich bog in die Querstraße ein. An das Haus schloss ein großer Garten an und das Arbeitszimmer lag nach hinten raus.
Ich sah mich um ob ich allein war und stieg dann über den Zaun. Auf der anderen Seite wuchsen dichte hohe Büsche, die mich ungesehen aufs Grundstück kommen ließen und einen langen Schatten warfen, in deren Schutz ich zum Haus schlich. Unter dem Fenster im ersten Stock wuchsen erneut Büsche. Ich schob mich vorsichtig hinein. Tönnies saß an seinem Schreibtisch. Ich wartete. Mir wurde kalt. Es wurde schon dunkel, ich weiß nicht, wie viele Stunden ich dort so gesessen hatte, bis er endlich das Zimmer verließ. Ich stand auf und schwang mich über ein paar Vor-sprünge zum Fenster hoch. Die Rahmen knackte ich mit einem Messer, die Ver-schlüsse auf der Innenseite waren lächerlich. Ich landete fast lautlos im Zimmer, zündete eine Lampe an und durchwühlte die Stöße von Papieren ein einem Kasten. Irgendwo da drin musste der Brief sein, wenn ich Tönnies im Gespräch mit Heycken richtig verstanden hatte. Das Papier kribbelte an meinen Fingerspitzen, als ich ihn fand. Ich bleib ein paar Sekunden breit grinsend im Raum stehen und genoss den Moment. Dann drehte ich ihn um. Das Siegel war offen. Ich entfaltete den Brief und überflog ihn.

20. September 1793
Lieber Freund,
dieses ist sehr wichtig, und ich bitte dich inständig, Stillschweigen darüber zu bewahren.
Jener Brief, den Du mir zukommen ließest, verbirgt mehr, als Du Dir je hättest träumen lassen. Ich versuche alles zu tun, um zu verhindern, dass dieser Brief weiter Schaden anrichtet. Habe Verständnis dafür, ich bitte Dich, Dich nicht weiter um die Sache zu sorgen und mir die volle Verantwortung und Handlungsfreiheit zu überlas-sen. Denn ich kenne die Geschichte und die Dinge besser als Du sie je kennen könntest. Der Zeitpunkt naht wieder, und ich werde es diesen Winter nicht wieder zulassen. Ich werde dagegen kämpfen, bis es geschafft ist.
Vertraue mir und denke daran, dass dieser Alptraum dann vorbei sein wird. Der Spuk vom Winterkind wird Legende werden.
Johann A. Tönnies

Ich hatte keine Ahnung, um was es darin ging, was die beiden beenden wollten, was sie da an sich gerissen hatten, aber es klang überhaupt nicht gut. Ich durchsuchte so schnell ich konnte die restlichen Papiere, ich musste einfach diesen Brief finden, wegen dem ich eigentlich hier war!
„He Kerl! Was tut Er hier?!“ So eine Donnerstimme hatte ich ihm gar nicht zugetraut, dachte ich.
Mit wenigen Schritten hatte er den Raum durchquert. Ich richtete mich auf, stand gefangen hinter dem Schreibtisch und schaute ihn an. Er zerrte mich zu einem Stuhl und drückte mich nieder. Dann schloss er das Fenster, klingelte nach jemandem und setzte sich auf seinen Schreibtisch. Von dort funkelte mich wütend an.
„Der Laufbursch meines besten Freundes. Das ist Er also. Was hat Er hier noch verloren?“ Seine Stimme war fast nicht mehr zu hören. Das Flüstern machte mir mehr Angst als das Herumbrüllen zuvor.
Ich sah ihm in die Augen und versuchte ruhig zu bleiben. Ich wollte nicht, dass er meine Angst sah. Ich schwieg.
„Ich frage noch einmal: Was hat Er hier verloren?“ Ich schwieg. Er ballte die Fäuste. Ich dachte an Wilhelm, an Philipp, ich dachte Hilfe, aber keiner kam. Ich war auf mich allein gestellt.
Die Tür öffnete sich, zwei livrierte Männer stürmten herein.
„Schafft ihn mir aus den Augen!“
Ich stand auf und streckte abwehrend die Arme aus.
„Ich geh ja schon…“
„Das nützt Ihm jetzt nichts mehr!“ Tönnies schaute von seinem Platz aus zu, wie sie mich packten und abführten. „Übergebt ihn den Bütteln.“
Sie schleiften mich durch das Haus, durch die Vordertür nach draußen, wo schon ein Wagen wartete. Ich landete unsanft darin und kaum war der Wagenschlag zu, raste der Kutscher los. Ich richtete mich vorsichtig auf und lehnte mich an die Wand. Aus. Vorbei. Ich war gescheitert, sie hatten mich erwischt. Langsam wurde ich sauer. Sauer auf den Rat, sauer auf Wilhelm, einfach auf alles. Sie schickten mich auf diese Mission, und als es wirklich brenzlig wurde, ließen sie mich allein. Ich zog die Beine an und wartete darauf, dass ich irgendwo hingebracht wurde.
Umbringen, dachte ich, konnten sie mich ja nicht mehr, aber das konnten sie nicht wissen.
Sie brachten mich in eine Art Gefängnis. Das Loch war winzig, hoch oben befand sich ein kleines Fenster, ein einziger Lichtstrahl fiel herein. Ich rollte mich in einer Ecke zusammen, und dann kamen mir die Tränen.

10. Oktober 1793
Sie verhörten mich einen Tag später. Ich hielt ihren Fragen stand, aber ich wusste, wenn ich nicht redete, würden mir vielleicht noch ganz andere Dinge bevorstehen. Was sie nicht wussten, war, dass sich dieser Brief immer noch in meiner Tasche befand. Keiner war auf die Idee gekommen mich zu durchsuchen.
Dem ersten folgten viele weitere Verhöre. Tönnies hatte da ohne Zweifel seine Finger im Spiel. Es war ihm wichtig, dass ich mit der Sprache herausrückte und er wollte, dass ich aus dem Verkehr gezogen wurde. An den Abenden kehrte ich erschöpft in meine Zelle zurück. Ich weiß nicht, wie ich die vielen Tage durchstand. Von den Wächtern kam kein Lebenszeichen.
An diesem Tag wachte ich von allein auf. Sonst weckten sie mich vor dem nächsten Verhör. Die Sonne schien höher zu stehen als sonst. Ich kaute noch am letzten Stück Brot meines schmalen Frühstücks, als ich auflachen musste. Schon kam der Wärter an um zu sehen, warum ich so guter Laune war.
Ich hatte Heycken kein Antwortschreiben auf seinen Brief gebracht. Das steckte noch in meiner Tasche. Tönnies dachte aber, dass ich getan hatte, und dass er mich hinterher erwischt hatte. Keiner von beiden wusste nun, woran er war. Wenn ich Glück hatte, war die Verwirrung damit komplett.

Erst verging die Zeit gar nicht, dann flog sie dahin und eines Morgens wurde ich in Ketten zum Court gebracht. Sie kamen mit mir kaum durch die Menschenmengen durch, die sich dort versammelt hatten. Es hatte sich herumgesprochen, dass sich da ein neuer Bursche bei einer der wichtigen Familien der Stadt eingeschlichen hatte, nur um das Vertrauen dann zu missbrauchen. Sie brachten mich zu meinem Platz, ich sah mich um. Wo ich hinschaute, sensationslüsterne Gesichter, Blicke, die auf einen Skandal aus waren, egal ob es Frauen oder Männer waren. Hier war ein Gerichtstag ein Erlebnis, da gingen alle hin, die Zeit hatten.
Als die Richter erschienen, stieß mir einer meiner Bewacher in den Rücken. Ich stand auf. Heycken saß auf der anderen Seite des Platzes und dann sah ich sie, sie saß schräg hinter ihm.
Unsere Blicke trafen sich. Ich kannte sie nicht, aber ich hatte ein Gefühl.
„Sag den Wächtern Bescheid!“ brüllte ich. „Lauf!“
Meine Worte lösten einen Aufruhr aus. Tönnies, der mit diesem Begriff sehr wohl etwas anfangen konnte, sprang auf, überwand die paar Meter zu ihr, drängte sich rücksichtslos durch die Menge und versuchte sie noch am Verschwinden zu hindern. Die Zuschauer waren jetzt nicht mehr zu halten, hier passierte etwas, das so absolut nicht vorgesehen war.
Und dann löste die Frau sich in Luft auf. Heycken hatte den Zusammenhang noch nicht hergestellt, aber dafür Tönnies. Er verfehlte sie um einen winzigen Augenblick und verfärbte sich vor Wut rot. Ich stand reglos da, darauf gefasst, dass er sich jetzt auf mich stürzen würde.
Die Zuschauer riefen laut durcheinander, jeder stellte Vermutungen an, ich hatte selber unwillkürlich einen Satz nach vorn gemacht an die Brüstung von meinem Podest. Meine Aufpasser packten mich und warfen mich auf die Bank zurück. Ich stemmte mich wieder hoch, einer der Männer sprang auf mich zu und ich trat zu. Er krümmte sich, als ich ihn sauber zwischen den Beinen traf, verlor alle Farbe und landete auf dem Boden. Dasselbe machte ich mit einem zweiten, als er sich auf mich stürzte, dann flankte ich über das Geländer, erreichte unbehelligt die Tür und rannte los. Keiner hatte versucht mich aufzuhalten, die Zuschauer waren mit anderem be-schäftigt und nicht einmal Heycken und Tönnies hatten mich im Auge behalten. Hinter mir schlugen sie sich, wer weiß, ob die Wächter bei der Massenschlägerei ihre Finger im Spiel hatten, mir war es gleich. Ich erreichte die große Straße und rannte.

Ich brauchte nicht lange bis zu Tönnies’ Haus. Ein Hausmädchen versuchte mich aufzuhalten. Ich rannte an ihr vorbei zum Arbeitszimmer, ignorierte die Versuche von den anderen Bedienten mich aufzuhalten und warf im Arbeitszimmer die Tür hinter mir zu und verriegelte sie. Ich hatte jetzt ein paar Minuten Luft, wenn ich Glück hatte. Ich wühlte das Zimmer zum dritten Mal durch, warf wahllos Papiere auf den Boden, achtete nicht darauf, Hauptsache ich fand endlich den verfluchten Brief. Ich fand ihn in der untersten Kommodenschublade hinter einem Stapel alter Rechnungen. Ich steckte ihn ein und war schon wieder vor der Zimmertür, als ich Schritte hörte. Ich erstarrte, warf einen Blick zum Fenster, zum Schrank. Dieses Mal war es unübersehbar, dass ich hier gewesen war. Ich rannte zum Fenster, öffnete es und sprang in die Büsche, schlich ein paar Meter an der Hauswand entlang und rannte dann im Schutz des Nebels zum Zaun. Ich sprang hinüber und schaute dann vorsichtig durch einen Schlitz zum Haus hinüber. Tönnies stand am Fenster und brüllte Be-fehle.
Ich stand auf der Straße. Die Bürger machten um mich einen hohen Bogen, die feineren Herrschaften rümpften unauffällig die Nase. Kein Wunder. Mangels jeder Waschgelegenheit und nach all den Tagen im Knast schmutzig und stinkend, in zerrissener Kleidung und mit wirrem Haar stand ich auf der Straße und lachte aus vollem Halse. Als mir die ganze Situation aufging, dass ich ihnen ein Schnippchen geschlagen hatte, musste ich mich vor Lachen am Zaun abstützen, ging fast in die Knie, hielt mir den Bauch vor Lachen und Schadenfreude. Sie hatten mich vielleicht eingefangen, aber am Ende hatte ich doch gewonnen. Die Passanten schauten mich miss-billigend an. Es war mir egal, ich gehörte eh nicht in diese Zeit.
Ich kehrte auf Umwegen zurück ins Haus Heycken und schlich mich zum Spiegel. Als ich sicher war, dass niemand in der Nähe war, wagte ich mich aus meinem Ver-steck und stürzte mich hinein.

Zwischen den Zeiten
Wilhelm hatte zu seiner Überheblichkeit zurückgefunden. Sein Gesicht war das erste gewesen, was ich gesehen hatte, als ich aus meiner Bewusstlosigkeit nach der Spiegelreise erwacht war.
„Du machst ja Sachen“, sagte er.
Vielen Dank auch. Das hatte man davon, dass man versuchte, seinen Kopf zu retten. Ich erhob mich abrupt aus meiner schwebenden Kammer und starrte ihn wütend an.
„Ich mache Sachen? Wer schickt mich denn auf so eine Mission und lässt mich dann im Stich? Du wusstest doch von vornherein, was passieren wird!“
„Ich…“
„Nein, du hältst jetzt mal den Mund. ‚Dir kann da gar nichts passieren‘, erinnerst du dich?“
Ich holte Luft für weitere Auslassungen, aber Wilhelm ließ mich nicht mehr zu Wort kommen.
„Kein Wort mehr.“
Ich starrte ihn wütend an, versuchte etwas zu sagen, aber Wilhelms Wille war stärker. Ich atmete wütend durch und folgte ihm.
Der Rat wartete.

Zeitrat
Sie erhoben sich, als wir eintraten. Ich erhielt meinen üblichen Platz zwischen Wilhelm und Philipp an der Stirnseite. Ich spürte Philipps Lächeln durch seine Gesichtslosigkeit, die allen Wächtern zu Eigen war und nahm Platz. Ich schaute an mir herunter und stellte erleichtert fest, wieder ein Mädchen zu sein. Überrascht stellte ich fest, dass ich mich als Martin richtig wohl gefühlt hatte. Vielleicht wurde er ja noch einmal gebraucht, wer wusste das schon?
„Alicia ist wohlbehalten zurückgekehrt, sie hat alle Schwierigkeiten gut überstanden…“ Ich hätte Wilhelm erdolchen können. „Am besten berichtet sie jetzt selber, was sie erlebt hat.“
Ich erhob mich. Ich weiß nicht, wie lang ich sprach und als ich mit meinem Bericht fertig war, bombardierten sie mich mit Fragen. Ich wünschte mir irgendwann nur noch ein Ende davon. Philipp schien es zu spüren, er drückte zwischendurch kurz meine Hand.
Wilhelm ergriff zum Schluss wieder das Wort und befreite mich aus der Fragerun-de.
„Ihr habt gehört, was Alicia gesagt hat. Die Lage ist ernst genug. Wir besitzen jetzt sowohl den Brief als auch die Depesche. Heycken und Tönnies haben jetzt gar nichts in der Hand und wissen nicht, was der andere vorhat. Sie reden ja auch nicht miteinander, wenn sie es vermeiden können. Das müssen wir ausnutzen. Zumindest Tön-nies weiß von unserer Existenz. Er will uns zuvorkommen. Damit ist er unser gefähr-lichster Gegner.“
Wilhelm holte tief Luft und hielt sich unauffällig am Tisch fest. Die ganze Zeit über war von ihm das Gefühl von Triumph ausgegangen, aber jetzt spürte ich die Angst, die auch noch in ihm steckte.
„Er darf mich auf gar keinen Fall besiegen“, fuhr Wilhelm fort, „er versucht, die Unwetter mit Gewalt zu stoppen. Das kann nicht funktionieren. Wir versuchen es auf unsere Weise, mit dem, was wir wissen. Alicia, du wirst als Martin wieder eine Aufgabe übernehmen. Dieses Mal überwachen wir sie. 1793 darf sich nicht wiederholen.“
In der Halle herrschte Totenstille. Dann begann irgendjemand zu klatschen und dann rauschte der Beifall durch den Raum.
Wilhelm hob die Hand. „ich bin noch nicht fertig. Einer von euch wird im Jahr 1793 gebraucht. Der Prozess steht an. Ihr wisst, was zu tun ist.“

Nach der Sitzung verließ ich mit Philipp den Saal. Wir waren gerade allein im Flur und glitten langsam durch die endlosen Gänge und Treppenhäuser. „Ich habe mal versucht, den Sitzungssaal allein zu finden“, sagte ich. „Ich wusste, dass ich nicht hinein darf. Ich wollte nur schauen, ob ich ihn finde. Es ist mir nicht gelungen.“
„Ja“, erwiderte er. „Das ist so: Diesen Saal und das Fensterzimmer können nur die Wächter und Wilhelm direkt erreichen. Für jeden anderen ist es nur mit unserer Führung möglich. Die Räume schützen sich selbst.“
„Sind sie lebendig?“
„Nicht so wie du oder ich oder die Menschen. Und du bist noch wieder in einer an-deren Kategorie, sonst würdest du den Saal wie Wilhelm finden. Aber diese Räume haben anscheinend ein Bewusstsein. Es ist eine Form der Existenz, die für uns zu fremd ist um sie zu verstehen. Wir sind nur in der Lage sie zu nutzen.“
„Und was ist das Fensterzimmer?“
Philipp lachte und lehnte sich in eine Nische und zog mich zu sich. „Du hörst wohl nie auf zu fragen, was? Das Fensterzimmer ist gewissermaßen unser Regierungssitz, da läuft alles zusammen. Im Saal wird nur beraten und dort bekommen alle den neuesten Stand mitgeteilt. Du warst übrigens schon im Fensterzimmer.“
„Wann das denn?“
Philipp lachte noch lauter. „Hast du dich nie gefragt, wo der Spiegel in dieser Ebene steht?“

Danach weigerte er sich, weiter über Politik zu reden. Wir verbrachten noch eine ganze Zeit zusammen. Es gab keine Tageszeiten im Vakuum, hier war sie nicht im Fluss, sondern stetig, man bewegte sich nur hindurch und nicht mit dem Strom. Er zeigte mir die ganze Unendlichkeit, die es hier gab. Hatte ich anfangs gedacht, das Vakuum bestünde nur aus diesen endlosen Fluren, Kammern und Sälen, alle gleichmäßig leer und nicht greifbar, belehrte er mich jetzt eines Besseren. Er zeigte mir eine ganze Landschaft aus vollkommen fremden Formen und Farben, unwahrscheinlichen Pflanzen, Flüssen, die bergauf flossen, wunderschönen Gärten und verschwiegenen Winkeln. Es war ein Traumland, in das ich mich sofort verliebte. Wir verloren uns hier und in der Zeit, bis er mich irgendwann zu meiner Kammer zurückbrachte. Aus den Wegen im Garten wurden irgendwann unmerklich die Gänge des Inneren und dann standen wir vor meiner Tür.
„Ich darf nicht mit hinein“, sagte er, „aber der nächste Einsatz kommt bestimmt.“
Ich seufzte. „Jetzt wünsche ich mir fast, dass er bald kommt.“
„Das kann man hier nie wissen, Zeit und Raum sind hier nicht dasselbe wie in der anderen Welt“, sagte er, strich mir über die Wange und ging rasch davon.
Ich sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Das schien mir langsam auch, dass man hier Zeit und Raum nicht trauen konnte. Und ich nicht einmal mehr meinen Gefühlen.

1793
Im Gemeinderat braute sich ein Unwetter zusammen. Schon zwei Jahre war es her, dass der Brief abgegeben worden war. Die Neudorfer hatten sich über den Inhalt gewundert und einen entsprechenden Bescheid nach Langenwege geschickt, die wutentbrannt den Kontakt abgebrochen hatten.
Entzweiung der Dörfer, eine Voraussetzung, dem Kind das Handwerk zu legen, so meinten jedenfalls Heycken und Tönnies. Sie nahmen an der nächsten Gemeindeversammlung teil, saßen sich im Saal gegenüber, starrten sich ins Gesicht.
Die Tagespunkte über die alltäglichen Gemeindeanliegen waren abgehandelt und der Vorsitzende fragte, ob noch ein Mitglied ein Anliegen habe. Frank Schreiner meldete sich.
„Ah ja. Um was geht es Euch, Meister Schreiner?“
Der Tischler stand auf. „Sie alle erinnern sich gewiss an den verhängnisvollen Brief, der vor zwei Jahren Neudorf und Langenwege entzweite, wobei der Knabe, der ihn überbringen sollte, erfror – Gott sei seiner Seele gnädig.
Nun, meine Herren, diese Entzweiung ist nicht die Schuld der Langenwegener. Nicht einmal die Schuld aller von uns.“
Jetzt hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit.
„So unschuldig sie in unserer Mitte sitzen, sich ja so sehr für die Belange Neudorfs einsetzen… Thomas Heycken und Johann Tönnies, Ihr solltet besser einstehen für das, was Ihr da geplant habt!
Die beiden sprangen hochrot im Gesicht auf.
„Verleumdung!“ schrie Heycken.
„Wie könnt ihr es wagen…“ Tönnies war nicht weniger erbost als sein Freund.
„Das kann ich Euch sagen! Ich vermute, dass Herr Heycken Wilhelms Tod gewis-senlos ausnutzte, um in den Wirren den Brief nicht umgehend an den Ratsvorsitzenden zu schicken. Stattdessen, Herr Heycken, wenn ich mich nicht irre, nahmt Ihr ihn und fälschtet ihn, um dann den falschen Brief als den echten weiterzugeben. Daraufhin antwortete der Rat Langenwege in wütendster Weise, im Glauben, sie hätten mit Neudorf auf derart schändliche Weise gebrochen. Ihr wart natürlich so empört wie alle anderen, derweil Ihr Euch ins Fäustchen lachtet, dass alles so gut geklappt hatte!“
Schreiner brach seine Anklage abrupt ab. Totenstille. Dann redeten alle gleichzeitig. Keiner verstand das Wort des anderen. Heycken und Tönnies waren leichenblass geworden. Beide waren während Schreiners Rede aufgesprungen, jetzt konnten sie sich kaum noch auf den Beinen halten.
„Das ist eine harte Anschuldigung, Meister Schreiner. Könnt Ihr uns diese Ungeheuerlichkeit beweisen?“
„Oh ja.“ Er holte Heyckens Tagebuch hervor, das sie bei einer Hausdurchsuchung ohne sein Wissen gefunden hatten. Er reichte es dem Vorsitzenden, der die markierte Seite las. Dann schaute dieser auf die beiden Männer.
„Das ist es“, sagte er leise. „Es gibt also einen echten Brief, denn sein Inhalt ist abgeschrieben, und er stimmt vollkommen mit unseren damaligen Absprachen überein.“
Dann donnerte er: „Nehmt diese Verräter fest und werft sie ins Gefängnis! Sie sollen ihre Strafe für diese Tat erhalten!“
Sie wehrten sich nicht mehr. Außerhalb des Saals war der Tumult wahrgenommen worden und einige Männer stürzten herein. Sie ergriffen Heycken und Tönnies und brachten sie auf dem schnellsten Weg zum Gefängnis.
Schreiner sank erleichtert auf seinen Platz. „Es hätte den beiden klar sein müssen, dass es eines Tages herauskommt. Immerhin waren sie zu feige, den Brief zu vernichten.“
Er streckte die Hand aus. „Das Tagebuch hätte ich gern wieder.“
Etwas war in seinem Blick, dass den Vorsitzenden umgehend dazu bewog, seinem Wunsch nachzukommen. Erleichtert steckte Schreiner das Buch ein. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Oder doch. Er wartete ungeduldig das Ende der Versammlung ab und rannte los. In einer abgelegenen Ecke löste er sich auf, genau das, was den Wächtern nur in äußersten Notfällen erlaubt war.
„Alicia!“ Er rief laut nach ihr, durchquerte die endlosen Säle und Gänge, von einem Versteck zum nächsten. Sie war mal wieder verschwunden. Tändelte bestimmt mit Philipp in einer lauschigen Laube und vergaß glatt ihren Auftrag!
„Frank!“ Sie fiel ihm praktisch vor die Füße.
„Wo warst du?“
„Bei Philipp, kannst du dir das nicht denken?“
Er verzog missbilligend das Gesicht. „Du weißt, dass die Wächter… ach egal, du musst sofort mitkommen, Martin.“
Sie stöhnte auf. „Ach es geht wieder los? Na dann…“
Er brachte sie zum Fensterzimmer, wo sie zu Martin wurde, dann erklärte er ihr, was zu tun war.
„Aha. Ihr habt das verbockt und ich darf es mal wieder ausbügeln“, spottete sie und machte sich auf den Weg.

1793 – Im Gefängnis
Ich materialisierte in einem dunklen Gang und es dauerte eine ganze Weile, bis ich wieder etwas sehen konnte. Auf beiden Seiten erstreckten sich nur Zellentüren. In welchen befanden sich Tönnies und Heycken? Aus vielen hörte ich Wimmern und schmerzliches Stöhnen. Ich hielt die Luft an und schlich weiter. Ich linste durch jedes Guckloch und hatte dieses Mal Glück. Sie waren in einem ziemlich dunklen Ab-schnitt nicht weit von der Stelle untergebracht, wo ich aufgetaucht war.

Heycken schreckte aus dem Schlaf hoch. Etwas hatte ihn geweckt. Dann sah er, was es gewesen war und er schrie auf vor Entsetzen.

Alicia
Ach ja, dachte ich, nachdem Tönnies ähnlich auf mein Erscheinen reagiert hatte, immer mussten sie gleich so aus der Haut fahren. Meine Aufgabe war leichter zu erfüllen gewesen, als ich gedacht hatte; den beiden Vergessen einzugeben, dass sie von nichts mehr wussten, was mit der Sache zu tun hatte. Keiner von beiden erinnerte sich jetzt noch daran, wie sie in der Versammlung überführt worden waren, wohl aber daran, dass nicht mehr im Besitz des Briefes waren.
Ich glitt grinsend durch den Spiegel – das war langsam ein Kinderspiel für mich – und verwandelte mich zurück. Frank und Philipp erwarteten mich.
„Und?“ fragten sie gleichzeitig.
„Es ging leicht. Aber wirklich, sie waren so schreckhaft, nicht auszuhalten. Dabei war ich ganz nett zu ihnen.“
Die Wächter schauten sich an und brachen in Gelächter aus. „Alicia, du bist auf dem besten Weg, ein echter Geist zu werden, je mehr Erschrecken, desto besser.“
Ich lachte auch. „Erwartet ihr etwas anderes – bei der Gesellschaft?“
„Also, du hast deine Arbeit getan. Ich lasse euch jetzt wieder allein.“
Mit den Worten war Frank nicht mehr da.
„Bist du müde, Alicia? Oder…“
„Oder“, sagte ich nachdrücklich. „Definitiv. Ich bin überhaupt nicht müde…“

15. Oktober 1793
Die Zeit bis zu dem Tag, an dem der Prozess beginnen sollte, kam allen unerträglich lang vor. Natürlich bei allen in Neudorf, aber auch in Langenwege, wo man höchst empört auf den Verrat reagiert hatte. Von dort hatten sich zahlreiche Leute angemeldet, die dem Verfahren beiwohnen wollten. Es würde ohne Zweifel eines der größten Ereignisse des Jahres werden.

Sowohl Heycken als auch Tönnies waren mit den Nerven am Ende, als sie schon um sieben Uhr morgens zum Court gebracht wurden. Dort erwartete sie eine aufge-brachte Menge, die bereit war, die Justiz selbst in die Hand zu nehmen, sollte zu nachlässig geurteilt werden. Sie standen so dichtgedrängt im Saale, dass man beschloss, die Männer durch den hinteren Eingang zu bringen, der normalerweise den Richtern vorbehalten war. Sie waren in den letzten Wochen wieder und wieder vehört worden, und obwohl sie zum Schluss alles gestanden hatten, hatte man sie nicht aus den Verhören entlassen und beide waren vollkommen erschöpft. Und ihnen saß der Geist, der sie besucht hatte, in den Knochen. Es war unerklärlich.
Sie waren noch einige Male von Martin heimgesucht worden und zum Schluss glaubten sie, ihr ehemaliger Laufbursch sei mit dem Teufel im Bunde. Fast waren sie erleichtert, dass mit dem Prozess jetzt alles ein Ende haben würde, bei Gott auch diese Heimsuchungen!

Die Wächter hatten allerdings noch ein wenig mehr getan, als Heycken und Tönnies einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Jeder, der mit dem Fall zu tun hatte, wurde ebenfalls unter die Lupe genommen und bekam behutsam die Erinnerungen angepasst. Niemand durfte wissen, was es mit dem Brief auf sich hatte oder wo er sich jetzt befand.

Nicht einmal zu Martins Prozess einen Monat zuvor hatte im Court ein solches Gedränge geherrscht. Die wenigsten ergatterten einen Sitzplatz, die meisten mussten stehen. Fast alle waren einfache Bürger, die die Gelegenheit nutzten, einem Spektakel beizuwohnen.
Die Männer versuchten gar nicht erst, auf dem Weg Widerstand zu leisten. Sie gingen in Deckung, als sie sahen, dass aus beiden Ortschaften genug Leute erschienen waren, die ihnen missgünstig waren. Das Beste war, alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Die Richter erschienen und die Anklage wurde verlesen. Heycken musterte unruhig die Zuschauer. Und dann sah er sie.
Schweigend, mit unbewegtem Gesicht, die Hände vor sich gefaltet, stand sie unweit von ihm und schaute ihn an. Die gleiche Frau, die beim Prozess gegen diesen Burschen zugegen gewesen war.

Sie hatten einstimmig beschlossen, dass Meister Schreiner der Richter in dieser Angelegenheit sein würde. Er beobachtete die Menschen unter ihm und wartete.
Nach Verlesung der Anklage befragte man Heycken und Tönnies. Keiner von bei-den machte irgendwelche Schwierigkeiten. Schreiner lächelte schmal. Alicia hatte ihnen genug eingeheizt.
Er wurde hellhörig, als die Männer nach Einzelheiten befragt wurden.
„Ja, Euer Ehren“, sagte Tönnies nachdenklich, „wartet mal… der Kerl, der mir diesen Brief gestohlen hat. So langsam fällt es mir wieder ein.“
Schreiner versuchte sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Die Fremde unter den Zuhörern hob den Kopf und blickte ihn an. Er wandte rasch den Kopf, ein stummes Zwiegespräch schien zwischen ihnen stattzufinden und dann hob er eine Hand.
„… und ich weiß, wer der Dieb war!“ erzählte Tönnies gerade. Verwirrt brach er ab. „Aber wollt Ihr denn nicht wissen, wen ich erwischte?“
„Das tut hier nichts zur Sache. Wir werden uns um Euren Einbrecher kümmern. Lasst uns weitermachen.“
Irgendetwas musste schiefgegangen sein. Tönnies erinnerte sich an viel zu viel. Schreiner lenkte das Verhör schnell in eine andere Richtung. Alicia war in Sicherheit.
Das Urteil, das erging, war für niemanden eine Überraschung.
Heycken und Tönnies nahmen es blass, aber gefasst entgegen: Tod durch den Strang, zu vollstrecken in zwei Wochen.

Zeitrat
„Was war da eigentlich vorhin los?“ fragte Wilhelm.
Alle Blicke richteten sich auf Frank.
„Ich weiß es auch nicht so genau. Irgendetwas ist verdammt schiefgegangen und zwar schon vorher! Alicia…“
„Ach jetzt liegt es wieder an mir! Die beiden waren völlig fertig, und das habt ihr alle bestätigt! Was ist denn mit den anderen Beteiligten? Was ist da schiefgegangen?“ Ich starrte ihn herausfordernd an. Frank seufzte.
„Wir können uns keine Fehler leisten! Und was passiert? - Na gut, lassen wir das. Immer dieses Pack.“ Wilhelm grummelte noch ein wenig vor sich hin, aber er kühlte langsam ab.
Frank schüttelte sich wie ein nasser Hund, nachdem er von Wilhelm so abgekanzelt worden war.
„Alicia, du musst noch einmal los. Mach die beiden fertig. Und noch etwas. Das gilt für alle. Die beiden sind zum Tode verurteilt, schön und gut, aber damit ist es unserer Kontrolle entglitten! Wir werden ihnen eine Hinrichtung bescheren, wie sie sie noch nicht erlebt haben. Wir werden sie das Fürchten lehren; nie mehr soll jemand gegen den Willen der Wächter handeln!“
Ich erhob mich.
„Philipp begleitet dich zum Spiegel. Viel Glück.“ Erstaunt schaute ich ihn an. Es kam selten vor, dass Wilhelm einem Glück wünschte.
Von Philipp stahl ich mir einen schnellen Kuss, bevor ich mich wieder in Martin verwandelte und durch den Spiegel ging. Wie leid ich die ganze Sache war.

Sie machten es mir insofern leicht, als dass sie sich inzwischen nicht erholt hatten und an mich als den Geist überhaupt glaubten. Wie armselig das doch war! Diese großen Männer, die gute Stellen und hohes Ansehen gehabt hatten, zeigten nicht den geringsten Mut, sobald es ernst war. Um diese beiden war es nicht schade.

Tönnies stand an der Grenze zum Wahnsinn, während Heycken zum Schluss vor Reue zerging. vielleicht hätte er seinen Neffen nicht mehr retten können, aber was hatte ihn nur geritten, den Brief zu fälschen! Ausgenutzt hatte er es, so einfach war die Lage, und nun, da sein Tod unmittelbar bevorstand, hätte er am liebsten alles rückgängig gemacht. Alles, was er dadurch bekommen hatte, war Ärger und am Ende wartete der Tod. Er begann ihn allmählich herbeizusehnen. Nur noch drei Tage.

1. November 1793
Alicia hatte täglich Bericht erstattet, wohin sie trieben. Der Zeitrat war zufrieden. Sie hatten sich für den Tag der Hinrichtung etwas ganz besonderes ausgedacht.

Strahlender Sonnenschein herrschte. Der Zeitrat hatte schlechtes Wetter eingeplant und musste kurzfristig umdenken. Die Aktion wäre bei Sturm wirkungsvoller gewesen, aber auf das Wetter hatten sie keinen Einfluss.

Heycken und Tönnies waren vollkommen erstarrt, ihre Gesichter leer, als man sie gegen sieben Uhr morgens zum Richtplatz brachte. Es war dunkel und die ersten Zuschauer kamen erst später. Der Platz füllte sich langsam.

Philipp
Wir würden körperlos sein, unsichtbar unter Hunderten von Schaulustigen. Wir waren schon da, als die Gefangenen gebracht wurden. Alicia hatte Theater gemacht, weil sie zurückbleiben musste, und auch Wilhelms Versprechen, dass sie bei der Nachbesprechung dabei sein durfte und es ja nur zu ihrem Besten sei, war nicht gerade ein Trost.
Ich stand am nächsten an der Richtbühne. Heycken und Tönnies wirkten gefasst trotz ihrer ausweglosen Situation. Ich hatte genug Männer sterben sehen um zu wissen, dass sie oft kurz vorher ruhig wurden, ihr Verstand akzeptierte es. Ich hatte sie lange nicht gesehen, aber Alicia schien gute Arbeit geleistet zu haben. Der Richterspruch wurde verlesen. Die Männer wurden an ihre Plätze geführt. Ich wartete und ließ es noch zu, dass man ihnen die Schlingen um die Hälse legte. Es wurde vollkommen still bis auf die Trommeln, die die Hinrichtungen begleiteten.
Dann hob ich eine Hand. Rings um mich brach die Hölle los.

Wir können nicht das Wetter beeinflussen, aber einen Sturm erzeugen gehört zu den leichteren Übungen. Er brach direkt über dem Platz los, ein Wirbel, der sich zu einem ohrenbetäubenden Heulen steigerte, Blätter aufwirbelte, Mützen von Köpfen riss und Chaos in die Menge brachte. Ich hörte sie schreien, durcheinander laufen. Wir wirbelten durch sie hindurch, als eisiger Hauch streiften wir jeden und ließen uns vom Sturm empor tragen. Zwei nahmen sich die Verurteilten vor und heizten ihnen ein.
Als ich das Gefühl hatte, es sei genug, hob ich wieder die linke Hand. Ich stand auf dem Podest.
„Heycken und Tönnies sterben, wann wir es wollen!“ Ich begann zu lachen, es hallte und wurde von den Wolken als Echo zurückgeworfen. Dann fiel ein Mädchen auf dem Platz schrill ein. Die Hysterie griff um sich. Die Menschen fingen an zu rennen, sie stießen andere beiseite, Mütter griffen ihre Kinder. Alle wollten nur noch weg. Um die Gefangenen kümmerte sich niemand mehr. Ich konnte die Henker nicht wiederfinden. Ich löste die Ketten. Für ein paar Sekunden standen Heycken und Tönnies vollkommen reglos, dann sprangen sie vom Podest und schafften es, gedeckt von uns, zur anderen Seite der Mauer, wo sie fliehen konnten.
Wir sammelten uns in einiger Entfernung und schauten zu.
„Der Rest liegt in ihren eigenen Händen.“ Der Wächter sprach uns allen aus der Seele.

Auf der Flucht
Heycken und Tönnies merkten schnell, dass sie in diesem Moment vollkommen vergessen waren. Sie rannten los. Erst weit weg vom Platz wagten sie anzuhalten. Sie waren fast aus dem Ort heraus.
„Wir sollten uns trennen“, keuchte Heycken.
Tönnies nickte.
„Wer hat uns nur befreit? Hast du irgendjemanden gesehen?“
„Hast du überhaupt etwas gespürt? Das war ja wie Zauberei…“
Sie schauten sich an, von Grauen erfüllt, als sie an den Geist im Gefängnis dachten.
„Ich kann mir das nicht erklären“, sagte Heycken und dachte: Mein Gott, ich weiß, wer uns befreit hat!
Dieser Gedanke gab ihm den Rest.
„Wir sollten uns wirklich trennen“, sagte Tönnies. „Auf Wiedersehen, Thomas. Viel Glück wünsche ich dir.“
„Hals- und Beinbruch.“ Sie reichten sich die Hand, ein fester Händedruck besiegelte ihren Entschluss.
Dann trennten sie sich. Thomas schlug den Weg zum Fluss ein.

Alicia – Zeitrat
Wilhelm hatte sofort den Rat einberufen, als sie zurückkamen. Ich hatte die Wäch-ter noch nie so müde gesehen. Ich wusste noch nicht, dass sie aus Energie bestanden, solange sie in der Zeit unterwegs waren und ihnen diese entzogen wurde, natürlich waren sie hinterher erschöpft. Bislang hatte ich gedacht, sie waren vollkommen außerhalb der Zeit.
Frank und Philipp umarmten mich kurz und setzten sich sofort. Wilhelm wartete, bis es ruhig wurde. Er war auch nicht mitgekommen und bat jetzt um eine Zusam-menfassung. Danach ließ er einen Zeitungsartikel herumgehen, in dem es hieß, dass die Hinrichtung der Verräter Thomas Heycken und Johann A. Tönnies durch mysteriöses Treiben auf dem Richtplatz vereitelt worden sei. Die Verurteilten waren entkommen und am Morgen des Vortags habe man in Ufernähe im Knick die Leiche des Tönnies gefunden. Er müsse sich direkt nach seinem Entkommen in den Fluss gestürzt haben.
„Ich war ausnahmsweise selbst unterwegs“, erklärte Wilhelm, wieso er diesen Artikel schon besaß.
Es überlief mich eiskalt. Wie viele Menschen mussten dort noch zu Tode kommen, bis wir diesem Wahnsinn ein Ende setzten?
„Im Übrigen hat ja ausnahmsweise mal alles geklappt.“ Die Wächter protestierten. Als ob sonst alles schief ginge!
„Ihr könnt euch jetzt ausruhen. Alicia, du bleibst hier.“
Ich seufzte.
„Ich brauche Martin im Jahr 1851. Wir nähern uns dem Ende.“
Endlich!
„Was soll ich tun?“
„Du gibst den Brief ab. Um das Verändern der Erinnerungen brauchst du dich nicht zu kümmern, das erledigen wir.“
Wenigstens etwas.
„Also soll ich nur möglichst unbemerkt den Brief unterschieben und verschwinden.“
Wilhelm nickte. Ich atmete auf. Das war ein Routine-Einsatz.

2. Dezember 1851
Ich landete im Schlafzimmer vom Ehepaar Reuther.
„Was, zum Teufel…!“ Wer hatte den Spiegel wieder hier aufgestellt?
Ich vergewisserte mich, dass niemand in der Nähe war, dann schlich ich die Treppe hinab. Mein Weg führte mich ins Kaminzimmer.
Ich prallte erschrocken zurück, als ich die Tür öffnete und mich Auge in Auge mit Catarina befand.

Catarina
Sie war allein im Haus, als sie im Obergeschoss etwas poltern und eine Stimme hörte. Angespannt saß sie am Kamin und wartete ab, den Schürhaken auf dem Schoss.
Sie hörte leise Schritte. Die Treppe knarrte. Egal, wie leise man war, die Treppe knarrte immer. Der Eindringling kam näher und er schien sich auszukennen.
Catarina schlich zur Tür. In diesem Moment wurde diese von außen geöffnet und sie befand sich Auge in Auge mit einem völlig fremden Mann mit leuchtend roten Haaren unter einer Kapuze. Unwillkürliche schrie sie auf. Der Fremde drängte sie zurück ins Zimmer und nötigte sie, in einem Sessel Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich in einen anderen und schlug die Kapuze zurück, legte ein Bein über das andere. Er schien vollkommen entspannt zu sein.

Martin
Mir war klar, dass ich einen Fehler beging. Aber ich konnte nicht anders. Ich redete mir ein, dass ich von Catarina erfahren konnte, wo der Brief hingelegt werden sollte, aber das war nicht der Grund. Ich wollte genau das, was mir verboten worden war. Ich wollte sie wiedersehen, mit ihr reden, um sie dann hoffentlich für immer zu ver-gessen.
„Hallo Catarina.“
Sie presste eine Hand aufs Herz. „Wer sind Sie?“
Ich lächelte. „Erkennst du mich nicht?“
Sie schüttelte stumm den Kopf, griff den Schürhaken etwas fester. Ich grinste, sie tat mir ja leid, aber es machte mir zu viel Spaß. „Erzähl mir von dem Mädchen, das durch Spiegel gehen kann. Wie hieß sie doch gleich…?“
„Alicia“, antwortete Catarina automatisch. Dann fuhr sie hoch. Schaute mich ungläubig an. „Das kann nicht sein.“
Irgendwie war es mir auf einmal peinlich. Ich hatte vergessen, in welcher Zeit wir uns befanden.
„Doch“, murmelte ich, legte einen Arm über die Augen. Nahm ihn wieder runter.
Sie schaute genauer hin. „Guter Gott, du bist es tatsächlich! Aber wieso… ich meine… du bist ein Junge?“
„Das ist eine lange Geschichte.“
„Alicia… oder wie soll ich dich jetzt nennen? Was ist passiert? Bitte erzähl es mir.“
„Mein Name ist jetzt Martin.“
„Bleibst du er oder wirst du wieder sie?“ Sie schaute mich ängstlich an. Mir wurde klar, sie hatte Angst, eine Freundin zu verlieren.
„Ich denke, ich werde wieder sie, wenn mein Auftrag erledigt ist.“
Sie schaute mich unverwandt an. Verflixt, ich konnte ihr einfach nichts abschlagen.
„Was ist dein Auftrag?“
„Du kennst ja die Geschichte vom Kind.“
Sie nickte.
„Das Kind ist keine Sage, Cat. Es lebt, soweit man davon sprechen kann. Es exis-tiert. Es lebt zwischen den Zeiten mit einer Heerschar Wächter, dem Zeitrat. Das ist jetzt mal die Vereinfachung.
Am 30. April kam Wilhelm nachts durch den Spiegel zu mir und holte mich zu sich. Wenn du so willst – ich bin an dem Abend gestorben, Cat. Ich bin zwischen den Zeiten, ich bin nicht richtig tot, aber ich werde nie mehr wirklich leben.“
Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, jetzt tupfte sie ihre Wangen ab.
„Oh Alicia, du tust mir so leid… Kann dir denn gar nicht geholfen werden?“
„Du könntest mir bei meiner Aufgabe helfen.“ Die Idee kam mir in diesem Augenblick. Ich wusste nicht, was ihr passieren würde, wenn ich sie da reinzog. Es war streng verboten, Dritte mit hineinzuziehen. Aber die Verantwortung dafür lag bei mir.
„Ich habe hier den Brief, den Wilhelm damals abliefern sollte.“
„Es gibt ihn wirklich?“ fragte Catarina. „Darf ich ihn sehen? Oh bitte, zeig ihn mir!“
Ich reichte ihn ihr. Sie faltete ihn behutsam auseinander, las ihn und gab ihn mir zurück. „Also ist alles wahr.“
„Das ist es. Und damit die Geschichte weitergehen kann, muss er zusammen mit einer Nachricht in dieser Zeit bei einem ganz bestimmten Ratsherrn abgegeben werden. Kannst du dir vorstellen, bei wem?“
Catarina überlegte. „Ja sicher. Michael Heycken, er wohnt auf dem Rosenhof. Soll ich den Brief hinbringen?“
Ich lehnte schweren Herzens ab. „Das muss ich selber tun.“
Wir sahen uns an.
„Treffen wir uns noch einmal?“
Dieses Mal zögerte ich keinen Augenblick. „Ganz bestimmt. Zur Not schleiche ich mich eben raus, wenn keiner hinguckt.“
Wir lachten. Dann nahm ich sie in den Arm und sie begleitete mich zur Tür. Es war dunkel.
„Viel Glück.“ Sie schaute mir nach, bis ich um die Hecke verschwunden war.
Ich machte mich auf den Weg zum Rosenhof. Schon wieder ein Heycken…

Ich gelangte ungesehen ins Haus und suchte das Arbeitszimmer. Mehrmals musste ich hinter Mauervorsprüngen oder Vorhängen verschwinden, weil Hausbewohner an mir vorbei kamen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte war, gesehen zu werden; nicht nach meinen Erfahrungen sechzig Jahre in der Vergangenheit.
Es war die letzte Tür im Erdgeschoss. Ich spähte durchs Schlüsselloch und horchte, aber es war niemand da. Ich huschte hinein und legte den Brief mitten auf den Schreibtisch.
Schritte.
Ich schaute mich wild um, auf der Suche nach einem Fenster oder einem anderen Ausweg, aber vergeblich. Also blieb nur der wuchtige Schrank an der Wand gegen-über des Fensters. In der Nische zwischen Schrank und Wand konnte ich mich verstecken in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden.
In dem Moment, als ich verschwand, öffnete sich die Tür. Ich guckte vorsichtig um die Ecke. Ein sehr großer Mann in eleganter Kleidung schloss die Tür hinter sich und ging zum Schreibtisch. Er brummte überrascht, nahm den Brief auf und untersuchte ihn. Schließlich nahm er im Sessel Platz und erbrach das Siegel.
„Merkwürdig“, murmelte er beim Lesen, „höchst merkwürdig… Ha!“ Mit diesem Ausruf schlug er mit der Faust auf den Tisch und ging mit langen Schritten zur Tür, warf sie hinter sich zu, als er den Raum verließ. Den Brief hatte er eingesteckt.
Ich stieß die Luft aus, die ich angehalten hatte, schlich zur Tür und öffnete sie leise. Als niemand zu sehen und zu hören war, verschwand ich auf demselben Wege, auf dem ich gekommen war. Einen weiteren Besuch bei Catarina konnte ich noch einschieben.
Sie freute sich mich wiederzusehen, umarmte mich in der Erleichterung, dass alles gut gegangen war. Wir nahmen wieder im kleinen Zimmer Platz und tranken einen Tee.

Zwischen den Zeiten
Wilhelm stürmte zum Fensterzimmer und fegte aus Versehen einige Wächter aus dem Weg, die ihm verblüfft hinterherschauten.
Ungeduldig aktivierte er eines der Fenster und drehte so lange an den Kontrollen, bis er gefunden hatte, was er suchte. Wütend knirschte er mit den Zähnen. Wie konnte das nur passieren? Der Anblick von Catarina und Martin, die seelenruhig beieinander saßen und Tee tranken, gab ihm den Rest. Martin konnte sich auf was gefasst machen, wenn er wieder da war, und Catarina würde schon sehen, wohin es führte, wenn man seine Leute von der Arbeit abhielt!

1851
Nach einer Stunde verabschiedete ich mich wehmütig von Catarina.
„Tja… ich glaube ich muss wohl los.“ Ich lächelte, hielt ihre Hände. Sie sah mich traurig an. „Sonst schickt Wilhelm noch einen Suchtrupp aus.“
„Der wird mir unheimlich“, stellte Catarina fest. „Er kommt mir gar nicht mehr wie ein harmloser Geist vor.“
„Ist er auch nicht“, erwiderte ich grimmig. „Der Kleine ist zum Feldmarschall geworden! Wir sind alle unter seinem Kommando und wehe, man folgt ihm nicht!“
Jetzt lachte sie. Ich umarmte sie vorsichtig und ging dann endgültig in die erste Etage zurück.

Zwischen den Zeiten
erwartete mich Philipp.
„Dicke Luft“, flüsterte er und hatte es ungewöhnlich eilig mich zu meiner Kammer zu bringen.
„Dicke Luft? Hey lass mich los!“ protestierte ich, als er hart meinen Arm packte und mich rücksichtslos mit zog. Er hörte nicht auf mich, sondern legte noch an Tempo zu.
Dann schob er mich in meine Kammer. „Schlaf gut.“
„Philipp! Was ist hier los?“ Ich ging auf ihn los, aber er aktivierte die Schlafbarriere und ich war zu langsam. Hilflos sah ich zu, wie er ging. Dann schlief ich ein.

1851
Catarina räumte lächelnd das Teegeschirr ab. Nett von Alicia noch einmal vorbei-zukommen, auch wenn es für sie nicht ungefährlich gewesen war. Und in ihrer zweiten Gestalt als Martin gefiel sie Catarina, Martin hatte Schneid.
Es polterte. Ein langgezogenes Heulen folgte. Catarina fuhr zusammen, ließ fast das Tablett mit dem Geschirr fallen, sie zitterte. Die Tassen klirrten leise. Sie brachte das Tablett in die Küche und eilte dann ins obere Stockwerk. Sie glaubte das Geräusch schon einmal gehört zu haben und sie vermutete auch, woher es kam.
Auf den ersten Blick sah im Schlafzimmer ihrer Eltern alles normal aus. Dann fiel ihr Blick auf den Spiegel. Erschrocken schrie sie auf. Die glatte Spiegeloberfläche war unversehrt, aber sie zeigte nicht mehr das Schlafzimmer. Und davor…
„Hatte ich nicht befohlen, den Spiegel auf dem ersten Treppenabsatz aufzuhängen?“ fragte Wilhelm.
Sie sah ihn fassungslos an. „Wie…“ keuchte sie. „Woher…“
Er hob den Kopf und sah sie direkt an. „Hallo Catarina“, sagte Wilhelm. „Wieso wunderst du dich? Du weißt doch längst alles über mich. Nicht wahr?“
Sie wich zurück und sank kraftlos auf die Bettkante.
„Weshalb habt ihr den Spiegel umgehängt?“
„Das war der Wille meiner Mutter. Ich konnte ihr doch nicht erzählen, was der Spiegel im Treppenhaus zu suchen hat.“
„Jetzt“, sagte Wilhelm, „ist es ohnehin zu spät. Komm einmal her, Catarina. Ich möchte dir etwas zeigen.“
Catarina lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie ließ sich langsam neben dem Jungen dicht vor dem Spiegel auf dem Boden nieder. Er wies auf die Fläche. „Sieh genau hin.“

Alicia in einem fremden Haus ein Brief wird ihr übergeben sie liest ihn heimlich Alicia steigt ins Haus ein Ketten Mauern Menschen „Lauf!“ Alicia flieht ein anderer Brief in ihrer Hand ein Marktplatz zwei Gefangene Geisterspuk

Catarina wurde schwarz vor Augen. Wilhelm hielt ihr eine Hand unter den Kopf und ließ sie sanft auf den Boden sinken.
„Catarina?“ Er wartete. „Bitte, wach wieder auf.“
Nach endlosen Sekunden schlug sie die Augen auf. „Was ist passiert? Was war das denn eben?“ Sie setzte sich langsam wieder auf.
Wilhelm bekam langsam wieder Farbe. „Das wollte ich nicht…“
Dann fügte er hinzu: „Was du eben gesehen hast, waren die letzten Ereignisse, in die der Brief verwickelt war, die der Spiegel mitbekam.“
„Was ist das denn nur für ein Spiegel?“
„Oh er ist ganz gewöhnlich“, versicherte Wilhelm. „Du hast nur gerade einen klei-nen Einblick in die Talente bekommen, die er auch noch hat.“
Plötzlich begriff Catarina. „Nein!“ rief sie. „Das wirst du nicht tun! Fort von hier! Verschwinde!“
Wilhelm lachte. „Ich verschwinde. Wie du willst. Mit dir.“
Catarina fühlte sich von einer übermächtigen Kraft angezogen und wehrte sich mit Leibeskräften gegen den Sog. Sie war damit groß geworden, dass Mädchen ihres Standes gehütet wurden und keinerlei größeren Anstrengungen ausgesetzt werden durften.
„Alicia hilf mir!“
Der Spiegel leuchtete gleißend hell auf, verschluckte Catarina und als auch Wilhelm hindurch gegangen war, fiel sein Glanz in einem Wimpernschlag in sich zusammen.
Nichts im Raum deutete auf den Kampf hin. Reuthers würden sich ewig fragen, wie das Mädchen verschwunden war. Catarina sollte nicht wiederkommen.

Zwischen den Zeiten
„Sag mal, war das notwendig?“ fragte Philipp und baute sich wütend vor Wilhelm auf. Catarina versteckte sich hinter ihm.
„Ähm.“
„Ja äh. Was in aller Welt sollen wir mit Catarina?“
Er hatte seine Fassung wiedergewonnen.
„Das geht dich gar nichts an.“
Philipp fehlten die Worte. Er zog Catarina sanft hinter Wilhelm hervor „Komm her, du brauchst vor uns keine Angst zu haben. Ich bin Philipp, Alicias Freund.“
Sie sah ihn überrascht an. „Alicias Freund? Ist sie hier?“
„Sie schläft gerade.“ Er winkte einem jungen Mann zu, der als Einziger neben Philipp ein Gesicht zu haben schien, das sie nicht gleich wieder vergaß, wenn sie weg-sah.
„Das ist Frank. Frank, das ist Catarina. Sie ist hier zu Besuch.“
„Seit wann haben wir Besucher?“ Er sah genauer hin. „Catarina Reuther?“
Er fuhr herum. „Was sollte das denn? Seid ihr alle verrückt geworden?“
„Das war Wilhelm.“
Sie drehten sich um. Er war verschwunden. „Na schön. Ich schau nach Alicia. Bleibst du bei Catarina?“
„Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.“
Er lächelte, als er Catarina ansah, die sehr wohl gehört hatte, was er gesagt hatte. „Störe ich?“ fragte sie.
„Oh nein, du störst nicht. Dann komm mal mit.“
„Kannst du mir sagen, was passiert ist? Wo sind wir hier?“
Frank wurde klar, dass Catarina genau wie Alicia von Wilhelm hereingelegt worden war. Nur, dachte er grimmig, dass Alicia von Anfang an ganz anders an die Sache herangegangen war. Sie hatte nie wirklich Angst gehabt und war eher wütend auf Wilhelm losgegangen. Sie hatte sich hier gut eingefügt und eine Aufgabe bekommen. Aber Cat?
Er legte ihr einen Arm um die Hüfte, während er ihr alles zeigte. Catarina verlor allmählich ihre Scheu. Sie begann Fragen zu stellen und die Eigenarten dieses Ortes wahrzunehmen. Und Frank nahm vor allem ihre Nähe zu ihr wahr.

Alicia
Ich wurde ziemlich unsanft geweckt und war überhaupt noch nicht ausgeschlafen. Wilhelm starrte mir wütend ins Gesicht.
„Was ist los?“ Ich stützte mich auf die Ellenbogen und rieb mir über die Augen.
Er stemmte die Hände in die Seiten und legte los. Philipp hatte Recht gehabt. Wilhelm war stocksauer über meinen Ausflug. Er kanzelte mich ab, dass mir Hören und Sehen verging. Dann ging ihm die Luft aus.
„Bist du jetzt fertig?“ fragte ich.
„Ja. Das wollte ich dir nur sagen“, fügte er hinzu. Er hatte sich wieder beruhigt. „Schlaf weiter.“
Er aktivierte die Schlafbarriere und ging. Ich hatte gar keine Chance, ihn deswegen zurückzurufen, da schlief ich schon wieder.

Irgendwo im Vakuum
„Catarina, Frank, wartet!“ Sie drehten sich gleichzeitig um, als eine Gestalt hinter einer Säule auftauchte, innerhalb weniger Sekunden von einem Schatten im Nebel zu einem Mensch wurde.
Catarina zuckte erst zusammen, dann lachte sie. Sie hatte zuvor noch keinen der Wächter in ihrer wahren Gestalt gesehen.
„Du brauchst nicht zu erschrecken“, sagte Frank. Er drückte ihre Hand fester. Catarina musste nicht wissen, dass er diesen Wächter selbst noch nie gesehen hatte. Ihm haftete etwas Besonderes an.
Der Wächter schaute Catarina an und beachtete Frank nicht. „Ich würde gern mit dir reden.“ Jetzt sah er Frank offen an.
Frank ließ Catarina zögernd los. „Ich bin in der Nähe“, sagte er. Dann löste er sich auf.
„Wie macht ihr das nur?“ fragte Catarina.
Der Fremde lachte. „Es ist eine praktische Fortbewegungsart. Hier im Vakuum ist es das einfachste so.“
„Kann ich das lernen?“ Es war richtig leicht, sich mit ihm zu unterhalten, dachte Catarina.
„Aber sicher. Ich werde mal mit den anderen sprechen.“
„Wer bist du?“
Der Wächter lachte leise. „Manche Dinge haben ihre Zeit, Catarina. Ich wollte dich ein bisschen besser kennenlernen.“
Sie verengte die Augen. „Und deine Erkenntnisse an Wilhelm weitergeben?“
„Nein ganz sicher nicht. Mein Interesse ist rein persönlich. Wilhelm steckt seine Nase in zu viele Dinge, die ihn nichts angehen.“
Sie gingen ein Stück und der Wächter zeigte Catarina ein weiteres kleines Stück dieses großen Raumes.
„Weißt du, um was es uns geht?“
„Ja, so in etwa… Alicia hat mir schon etwas erzählt.“
„Du kennst sie also?“
„Natürlich kenne ich sie.“
„Ist dir schon ein Junge namens Martin begegnet?“
Langsam war Catarina genervt. „Ja, ich kenne Martin und ich weiß, wer er ist!“
Der Wächter sah belustigt aus. „Sie hat es dir selbst verraten?“
„Das musste sie ja wohl, nachdem sie sich als Martin auffällig verhalten hatte.“
Er seufzte. „Zum Teufel. Du kannst ja nichts dafür, aber der Junge und seine Alleingänge… Ich war vorhin im Fensterzimmer und habe euch beobachtet, und ich war nicht der Einzige. Wilhelm war auch da. Wahrscheinlich hat er dich deswegen geholt, weil du zu viel Kontakt zu Alicia hattest.“
„Wie geht es ihr?“
„Sie schläft gerade. Aber vorhin klang es ziemlich nach Ärger. Vielleicht war er es auch Leid, ständig auf sie aufpassen zu müssen und wollte euch nicht länger trennen.
Ach ja, eines noch. Triff dich noch nicht zu oft mit ihr, solange die Sache nicht aus-gestanden ist. Es ist gut, dass du hier bist, aber eigentlich war das nicht vorgesehen. Und Alicia braucht ihre Kräfte. Ihr werdet euch noch genug sehen.“
Dann löste er sich vor meinen Augen auf. Ich drehte mich um, als ich Frank hörte.
„Was war los?“
„Ich weiß nicht“, sagte Catarina verwirrt. „Im Grunde warnte er mich vor dem Umgang mit Alicia und Wilhelm. Alicia braucht ihre Kraft für etwas anderes.“
Frank nahm sie in den Arm. Auch er war nicht in alle Pläne eingeweiht, aber zu diesem Zeitpunkt konnte er Catarina auch nichts anderes sagen.

2. Dezember 1851
Anna und Markus Reuther waren mit dem Wagen nach Langenwege gefahren und kehrten jetzt mit den Einkäufen zurück.
Während Markus sich um die Pferde kümmerte, lud Anna einen Teil der Sachen ab und ging ins Haus.
„Catarina, wir sind wieder da! Kommst du bitte einmal her?“
Sie bekam keine Antwort. Vielleicht war Catarina draußen. Doch als sie nach Ein-bruch der Dunkelheit immer noch nicht wieder da war, ließ Anna ihre Tochter suchen. Sie selbst ging ins Schlafzimmer, um sich umzukleiden.
Sie schrie. Markus erstarrte. So hatte er seine Mutter noch nie gehört. Er stürmte die Treppe hoch.
„Mutter was ist? Hast du Catarina gefunden?“
Sie stand leichenblass im Raum, vollkommen erstarrt von einem Gefühl, das stärker war als Angst. Vor einem Jahr hatte sie am heiligen Abend behauptet, nichts, was mit dem Kind zusammenhing würde sie das Fürchten lehren und jetzt wusste sie vor lauter Angst nicht mehr wohin.
Markus ahnte nichts davon. Er hielt seine Mutter eng umschlungen, wollte sie beschützen. „Komm mit nach unten“, sagte er leise. „Und dann erzählst du mir, was du gesehen hast.“
Ihr Blick streifte den Spiegel, als sie das Zimmer wieder verließ. Andreas sah es. Wieder der Spiegel! Immer war etwas damit. Zuletzt hatte er über Nacht auf einmal auf dem Treppenabsatz gehangen, bis Anna energisch dagegen Einspruch erhob und ihn wieder umhängen ließ.

„Mutter, hängt es mit dem Spiegel zusammen? Weißt du, wo Catarina ist?“
Sie wimmerte leise, zitterte in seinen Armen und versuchte das Heulen zu unterdrücken, das aus ihrer Kehle aufstieg. Ihrem Sohn wurde es allmählich unheimlich. Sie versuchte sich zusammenzureißen und sprach dann stockend.
„Es ist das Kind, Andreas, verstehst du? Wir haben seinen Tod gesehen und jetzt bringt es den Tod auch in dieses Haus! Erst Robert und jetzt Catarina!“
„Mutter, jetzt reiß dich zusammen. Willst du damit sagen, dass Catarina tot ist? Wo soll sie denn sein?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich fühle es, sie ist nicht mehr in unserer Nähe. Catarina hat gekämpft, das Kind hat sie aber dann zu sich geholt und ich glaube, der Spiegel hat etwas damit zu tun.“
„Mutter…“
„Er glühte, als ich ins Zimmer kam“, sagte sie zu sich. „Er sah fremd aus.“
„Mutter, da oben war gerade nichts, und der Spiegel sah vollkommen normal aus! Du bildest dir etwas ein. Catarina ist nicht da und wir werden sie suchen. Und ich glaube erst, dass sie tot ist, wenn ich den Beweis dafür habe.“
„Und wie erklärst du dir, dass das Haus verfällt? Die ganzen Reparaturen der letzten Wochen! Es ist von einem Tag auf den anderen angefangen. Es altert. Erinnerst du dich, wo wir das Kind vor einem Jahr fanden?“
„Hier“, antwortete Markus. Er stutzte. „Moment. Du willst damit sagen… Das Kind bringt über alles den Tod, wo es seinen Fuß hinsetzt?“
„Das würde eine Menge erklären. Und wo sollen wir schon hin? Ich spüre es ja auch schon in meinen Knochen.“
„Mutter, sei nicht so hysterisch. Ich glaube immer noch nicht daran, dass dieser… Fluch so real sein soll.“ Er war vollkommen von dem überzeugt, was er ihr sagte. Er ging in die Küche und braute zwei Gläser starken Grog, eines für sich, eines für Mutter. Sie tranken ihn schweigend. Dann verließ Markus das Haus für die nächste Gemeinderatssitzung. Als er den Weg ins Dorf erreicht hatte, atmete er tief durch. So schlimm war das alles doch gar nicht.

Gemeinderat
Markus entkam dem Kind nicht. In der Versammlung erhob sich Michael Heycken und hielt ein Schriftstück in die Höhe.
„Ich war selbst sehr überrascht, als ich diesen Brief auf meinem Schreibtisch fand. Wohlgemerkt ohne Absenderangabe. Ich habe keine Ahnung, von wem er stammt. Wer von Euch hatte ihn bei sich zu Hause? Und ach ja, ich weiß, wer ihn geschrieben hat.“
Sie schüttelten alle den Kopf. Den Brief kannte keiner.
„Von wem stammt er denn?“
Markus konnte es nicht lassen, sie trotz der Brisanz auf die Folter zu spannen.
„Ich denke, Sie kennen die Sage vom Winterkind alle gut genug.“
„Was hat das mit dem Brief zu tun?“ fragte der alte Müller mit seiner tiefen Stimme. „Wir beklagen hier Tote und Ihr sprecht über solche Dinge…“
„Ihr werdet es mir nicht glauben: Ich habe hier den Originalbrief, den die Langen-wegener damals an Heycken schickten, der ihn fälschte und damit die ganze Krise auslöste. Der Brief enthält einen Kontrakt, wie die Gemeindegrenze künftig zu führen ist und einige andere Dinge, die das Brachland mit dem Wurthof betreffen. Das ist im Grunde alles unwesentlich, da diese Dinge nach dem Prozess damals sofort bereinigt wurden. Aber er enthält auch einen Hinweis auf eine Nachricht von äußerster Dringlichkeit, und da knüpft die Sage wieder an. Diese Nachricht kam nie an. Nun stellt sich die Frage: wie lautet diese Nachricht und was wurde aus ihr?“
„Sie sollte ja offenbar mündlich überbracht werden und der Junge ist tot“, warf der Ratsherr ein. „Sie ist natürlich verloren gegangen, weil er sie nicht mehr mitteilen konnte.“
Sie schwiegen. Dann stand eine Frau auf, die an der Wand gesessen und still zuge-hört hatte und verließ den Raum. Sie beachteten sie nicht weiter.
„Herr Reuther, warum wart Ihr so erschrocken, als der Name des Schneekindes fiel?“
Markus zögerte. Dann schob er seine Bedenken beiseite und berichtete.
„Meine Schwester ist verschwunden.“ Er wurde von ihnen unterbrochen. Sie be-stürmten ihn mit Fragen.
„Seien Sie still!“ Er wartete, bis es wieder ruhig war. „Meine Mutter glaubt, dass das Kind daran beteiligt war. Erinnern Sie sich an die Flut 1850! Denken Sie daran, dass es damals erschien und einige von uns zu sich nahm, die nie wieder auftauchten, wir fanden nicht einmal ihre Leichen. Und gerade unsere Familie ist gefährdet, weil wir dort wohnen, wo der Junge zu Tode kam. Vielleicht ist diese Vermutung vollkommen falsch, aber es spricht viel dafür, dass es tatsächlich so passiert ist.“
Die Tür ging auf und Markus unterbrach sich.

Zeitrat
Wilhelm rief den Rat mit höchster Eile ein. Catarina war das erste Mal dabei. Er vergaß Alicia zu wecken.
„Es ist soweit“, sagte er. „Der Brief ist an seinem Bestimmungsort angekommen und man hat darüber gesprochen und nun sind sie auf der Suche nach der Nachricht. Wer übernimmt das?“
Frank und Philipp schüttelten den Kopf. „Wir sind zu bekannt.“
„Ich mache das“, sagte ein anderer Wächter. „Mich kennt bisher nur Catarinas Großvater und der gehört dem Rat nicht an.“
Wilhelm nickte ihm zu. „Gut. Du kennst die Worte?“
„Ja“, sagte er knapp. „Ich mache mich auf den Weg.“
Philipp drückte seine Hand. „Pass auf dich auf.“
Der Wächter grinste. „Ja Vater.“

Gemeinderat, 3. Dezember 1851
Sie kamen zu keiner Lösung und trennten sich, würden sich am nächsten Tag wieder versammeln. Die Frau, die die Versammlung verlassen hatte, erschien nicht wieder, dafür ihr Sohn Arngast.
Er setzte sich lautlos auf den Platz an der Wand, wo seine Mutter am Vortag Platz genommen hatte.
Sie grüßten ihn beiläufig.
„Wir haben uns heute versammelt um das Rätsel der Nachricht zu lösen. Hagart, haben Sie von Ihrer Mutter etwas gehört, was uns der Lösung nahebringt?“
Arngast lächelte. „Ich habe die Worte der Nachricht. ’Hütet euch vor dem nächsten Sturm, es wird harte Fluten geben.‘“
„Dieser eine Satz?“ fragte der Vorsitzende ungläubig. „Weshalb stand er nicht im Brief?“
„Ich weiß es nicht. Ich kann Euch nur sagen, dass das der verlorene Teil der Nachricht ist.“
„Wann ereignete sich die erste schwere Flut nach dem Tod des Kindes?“
„Am Tag darauf“, sagte Andreas ohne zu zögern. Dann erinnerte er sich an etwas. „Mein Gott. Mein Großvater erzählte uns einmal die Geschichte vom Winterkind, so wie er sie von einem Bauarbeiter gehört hatte. Und da war alles drin! Er erzählte von der Sturmflutwarnung, die dem Kind in der Eile mündlich mitgegeben wurde. Wir hätten die Lösung schon viel früher haben können…“
„Das hilft uns jetzt nicht weiter“, bemerkte Meents.
Arngast hatte genaue Instruktionen. „Die Sturmfluten treten doch seit dem Tode des Kindes regelmäßig und immer gleich stark auf?“
„Auf was wollt Ihr hinaus?“
„Ich vermute mal, um die Fluten einzudämmen, müssen hier alle von der Nachricht erfahren und an sie glauben. Ich weiß, dass Ihr alle die Sage kennt und sie für ein Ammenmärchen haltet. Ihr glaubt nicht daran, dass der Geist noch immer sein Unwesen treibt und dass all diese Unglückfälle der letzten Jahre böses Schicksal waren.“
„Gottes Wille“, sagte der Müller.
„Das meine ich“, sagte Arngast. „Aber das ist falsch! Wenn es aufhören soll mit den Fluten und all den Toten, müsst ihr alle daran glauben, dass wir bei der nächsten Flut die Macht über das Kind bekommen und es besiegen.“
Die anderen schwiegen. Sie schauten sich an, versuchten zu ergründen, was der an-dere dachte. Im Rat saßen gesetzte Herren, die das Leben kannten. Sie hatten für alles ihre Regeln und Überzeugungen und jetzt kam dieser Grünschnabel daher und wollte ihnen vorschreiben, was sie mit diesem Unfug machen sollten, damit er auf-hörte.
„Denkt an Robert und Catarina Reuther“, sagte Arngast sanft.

Februar 1852
Nach der Gemeinderatssitzung war das Wetter schlagartig ruhiger geworden. Die Leute in Neudorf wunderten sich darüber und waren erleichtert, dass sie diesen Winter ihren Geschäften ohne größere Sorgen nachgehen konnten.
In Langenwege hatte man sich den Rat zu Herzen genommen und hielten die Augen offen. Die Anzeichen, dass das Kind am Werk war, begannen sich zu häufen. Unterstützt von denen, die ohnehin immer an das Kind geglaubt hatten, Meta, die Freundin von Catarina, Meents und Andreas, die das Kind gesehen hatten, begann die alte Sage neu aufzuleben. Es schien zu wirken. Der Winter war so milde wie seit Dekaden nicht mehr. Nur die ältesten unter ihnen konnten sich an einen ähnlichen Winter erinnern. Sie schienen das Kind tatsächlich besiegt zu haben.

Zwischen den Zeiten – Alicia
Wir hatten den Rat einberufen, Arngast hatte vom Verlauf der Versammlung be-richtet.
Ich war fassungslos, Catarina zu sehen, als ich unseren Saal betrat. Wir fielen uns um den Hals, fragten uns gleichzeitig aus, konnten uns nicht loslassen. Philipp zog mich irgendwann lächelnd von ihr fort.
„Ihr habt doch noch genug Zeit.“ Er hatte ja Recht.
Wir nahmen um den großen Tisch Platz. Catarina verlangte zuerst eine Erklärung, warum Arngast Philipp „Vater“ genannt hatte. Sie lachten schallend. Wilhelm erklärte es: „Das hängt mit einem uralten Auftrag zusammen, bei dem Philipp Arngast aufsammelte und unter seine Fittiche nahm und schließlich initiierte. Davor war er ein einfacher junger Mann gewesen, der genauso wenig Ahnung hatte wie ihr… Sie haben seitdem einige Male zusammen gearbeitet.“
„Und wer ist deine Mutter, wenn er dein Vater ist?“ fragte Catarina.
Er grinste. „Warts ab.“
Wilhelm beendete die Versammlung. Frank, Catarina, Philipp und ich beschlossen einen Spaziergang zu machen.
„Ich kann es gar nicht glauben, Cat, du hier!“
„Wilhelm hat mich geholt. Wir waren ungehorsam in seinen Augen, haben uns doch immer wieder getroffen…“
„Und deswegen hat er dich geholt? Weil ich dich immer wieder besucht habe?“ ich blieb stehen.
„Bitte, Alicia, du kannst da jetzt nichts mehr dran ändern“, sagte Catarina.
Ich knurrte. „Wenn ich ihn das nächste Mal sehe…“
„Warum war er eigentlich so traurig heute?“
Frank und Philipp tauschten einen Blick. „Wir haben es geschafft“, erklärte Frank schließlich. „Wir haben das alles doch nur getan, damit die Dörfer endlich von den Fluten verschont werden.“
„Aber das ist nicht alles“, sagte ich.
„Also… nein.“ Sie machten eine Pause. „Hast du gemerkt, was Wilhelm sich wirk-lich wünscht?“
„Seinen Tod“, sagte ich. Ich war wie erschlagen.
„Er will sterben“, bestätigte Frank. „Er hat genug, er ist müde.“
„Das war der Grund für das alles, was Wilhelm hier angestellt hat?“
Frank nickte langsam. „All die Toten, du, Catarina… mit jedem dachte er, dass er es geschafft hat.“
„Aber es war der falsche Weg.“
„Was passiert hier mit? Und mit uns?“
„Das wird alles weiter existieren“, sagte Frank beruhigend.
„Ihr habt keine Führung mehr…“
„So schnell brauchen wir keine mehr. Und wir werden früher oder später wieder ei-ne haben.“
„Wer?“
Sie wechselten einen Blick.
„Du bist die letzte, Alicia, die es nicht mitbekommen hat“, sagte Philipp und lachte sogar.
„Du bist es selber. Wilhelm hat dich die ganze Zeit darauf vorbereitet. Zugegebe-nermaßen war er dabei manchmal etwas unkonventionell. Die ganzen Fallen, in die er dich scheinbar grundlos hineinließ?“
„Dieser kleine Mistkerl“, knurrte ich und versuchte mich von der Überraschung zu erholen.
Wir blieben stehen.
„Schön“, sagte ich entschlossen. „Trotzdem werde ich jetzt erst mal zu Wilhelm gehen und ihm beistehen. Und vorher möchte ich ein letztes Mal nach Hause. Zu Marion.“
„Das wird sich machen lassen, denke ich“, sagte Frank.

Februar 2010
Seltsam, nach allen meinen Gängen durch den Spiegel hatte ich mich noch immer nicht dran gewöhnt, aber dieses Mal fiel es mir leicht. Es war das erste Mal, dass ich als ich selbst unterwegs war und nicht als Martin.

Marion war so nett gewesen und hatte den Spiegel auf dem Treppenabsatz hängen lassen. Ich stolperte und fiel zwei Stufen herunter. Ich stand leise auf und lauschte. Im Haus rührte sich nichts. In der Küche schaute ich auf die Uhr. Es war halb vier. Draußen war es dämmrig, also Nachmittag. Marion trank vermutlich im Kaminzimmer Tee.
Ich öffnete die Tür. Sie saß mit dem Rücken zu mir im Sessel, las und hatte vor sich die Teekanne stehen. Ich ging leise auf sie zu.
„Hallo Marion“, sagte ich, als ich direkt hinter ihr stand.
Sie zuckte zusammen. Das Buch, in dem sie gelesen hatte, fiel ihr aus der Hand. Es war das, welches sie mir zu Weihnachten geschenkt hatte.
„Alicia?“ fragte sie und saß ganz still.
„Ich bin es.“
Jetzt drehte sie sich um. Wir schauten uns an. „Wie schön, dass du mich besuchen kommst.“
„Du glaubst also an die Geschichte.“
„Ich hätte nicht gedacht, dich noch einmal wiederzusehen.“
Ich sah sie fragend an.
„Du hast dir Zeit gelassen“, fuhr sie fort.
„Marion, hier geht’s nicht nur darum, dass du die ganze Geschichte glaubst, oder?“
Sie lächelte und hielt mir das Buch entgegen. „Wir können wohl mit dem Versteckspiel aufhören.“
„Welches Versteckspiel meinst du?“
„Sieh dir das Buch doch noch einmal an.“
Ich schlug es auf. Seit ich es das letzte Mal gesehen hatte, hatte ich eine Menge erlebt und viele Bilder kamen mir nicht mehr so uralt vor wie an Weihnachten. Ich hatte die Zeiten erlebt, in denen sie gemacht worden waren. Das Buch schien an Umfang zugelegt zu haben. Manche Fotos waren nicht mehr an der Stelle, an der ich sie in Erinnerung hatte. Es war schön, sie alle wiederzusehen. Ich schlug die nächste Seite um.
Blinzelte. „Marion, was ist das hier für ein Buch?“
Ich hatte vor mir eine Chronik der Ereignisse, die erst nach Neujahr geschehen waren, als ich schon längst nicht mehr im Haus war. Die in dem Buch noch nicht stehen konnten, weil es zum Zeitpunkt des Drucks noch nicht passiert war.
„Interessant, oder?“ Sie lachte. „Ich habe noch etwas, das dich interessieren könnte.“ Sie zeigte zum Fenster. Ich kämpfte gegen meine Gereiztheit an. Für einen Moment vergaß ich das, als ich die blitzenden Glasfiguren sah.
„So viele“, sagte ich. „Weißt du, wer sie gemacht hat? In der Werkstatt war es ja angeblich keiner.“
„Ich weiß es“, sagte sie. „Ich kenne die Handschrift.“
„Können wir nicht eine Weile rausgehen?“ Ich stand auf. Sie folgte mir zum Kirschbaum. Das Haus wirkte immer noch auf mich. Als ich dort ankam, beruhigte ich mich wieder.
„Geht es wieder?“ fragte sie.
Ich nickte.
„Und wie geht es Wilhelm? Verkraftet er es?“
„Ganz gut soweit… Warum interessierst du dich dafür? Du kennst ihn doch gar nicht.“
Sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Ich dachte, du hättest es längst verstanden.“
Marion war für einen Wimpernschlag fort. Dann zuckte ich zusammen, schrie auf.
„Ich muss sagen, für jemanden, der den ganzen Haufen da führen soll, bist du etwas langsam im Merken“, sagte die fremde Frau.

Zwischen den Zeiten
Schallendes Gelächter empfing mich. Ich hatte diese Geschichte nur meinen engsten Vertrauten - Catarina, Philipp, Frank und Wilhelm – erzählt. Sogar der Junge hatte mitgelacht, aber jetzt versank er wieder in der Schwermut, die ihn seit einiger Zeit festhielt.
„Philipp, Arngast hat gesagt, wer seine Mutter ist, würde sich noch zeigen. Meinte er Marion?“
„Ja. Deswegen konnte er es dir noch nicht sagen. Das war etwas, das du selbst her-ausfinden musstest.“
„Und von wem sind diese Glasfiguren? Ihr wisst doch, was ich meine? Marion be-hauptet, sie weiß, von wem sie sind.“
Philipp lachte. „Kannst du dir das nicht denken?“
Ich schüttelte den Kopf. Er drehte die Handinnenfläche waagerecht nach oben und konzentrierte sich. Innerhalb weniger Sekunden hielt er eine wunderschöne Kristallfigur auf der Hand, die Kopie meiner Figur.
„Du warst das! Aber warum? Was sollte das?!“ Ich nahm ihm die Figur vorsichtig ab und bewunderte sie in diesem Licht, in dem sie noch ganz anders glitzerte als in der anderen Zeit.
Er zwinkerte mir zu und nahm mich in den Arm. „Ich wollte nicht, dass du deswe-gen Ärger bekommst. Ich war früher auch Handwerker und die Versuchung war ein-fach zu groß!“
Ich fuhr herum und schlug mit den Fäusten auf seine Brust ein. „Du Dummkopf! Weißt du, was ich deswegen mitgemacht habe?“
Er hielt meine Hände fest und küsste meine Fäuste. „Ich weiß es, Alicia. Und es tut mir leid.“
Wir sahen uns in die Augen. Die anderen merkten, dass sie überflüssig waren und verließen uns leise.
„Wer ist Marion wirklich?“
Er blinzelte mir zu. „Deine Tante. Eine Zeitenwächterin. Deshalb war es ja nur möglich, dich zu uns zu holen und dich für unsere Zwecke einzusetzen. Es ist sehr wichtig, den Richtigen für diese Aufgabe zu haben. Du hast ja von denen gehört, die versucht haben den Fluch zu brechen, ohne dass sie dafür die Wahren gewesen wären. Sie kamen um oder wurden wahnsinnig. Du bist mit ihr genetisch verwandt. Unsere Hoffnung beruhte darauf, dass du genug von den Genen mitbekommen hast. Du warst quasi unsere letzte Chance.“
„Ich habe Wilhelm die ganze Zeit verflucht dafür, dass er mich geholt hat.“
„Du solltest zu ihm gehen“, sagte Philipp und küsste mich. „Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. Wenn du dich von ihm verabschieden möchtest, ist das jetzt der Augen-blick.“
Er war ganz blass, fast durchscheinend und sah jetzt nur noch aus wie ein sehr müdes schläfriges Kind. Er lag in seiner Kammer, die vollkommen in weiß gehalten war, so dass er fast unsichtbar war.
„Hallo Wilhelm.“
„Alicia.“
„Wie fühlst du dich?“ Eine törichte Frage. Zu meiner Überraschung lächelte er. Es lag keine Bosheit mehr in seinem Blick.
„Es geht mir gut. Ich fühle keine Anstrengung mehr. Du hast den Fluch gebrochen.“
Ich setzte mich zu ihm und nahm seine Hand. Sie war eiskalt.
„Du stirbst jetzt.“
„Sei nicht traurig deswegen, Alicia. Es ist genug. Ich habe getan, was ich konnte, nachdem ich merkte, dass ihr stärker seid. Ich habe dir alles mitgegeben, was ich konnte. Jetzt bist du auf dich allen gestellt.“
„Das bin ich gar nicht“, sagte ich und merkte im selben Augenblick, dass das stimmte. „Ich habe eine Menge Freunde.“
„Wende dich an Marion, wenn du Hilfe brauchst. Sie wird immer einen Rat für dich haben.“
Wir sahen uns in die Augen. In diesem winzigen Augenblick waren wir vollkommen ebenbürtig.

Es war das letzte Mal, dass ich mit Wilhelm sprach. Danach versank er immer tiefer in einer halben Bewusstlosigkeit, driftete langsam davon. Wir passten rund um die Uhr auf ihn auf. Der Zeitrat war nur noch notdürftig besetzt. Alle waren in Sorge um den kleinen Marschall. Ich merkte erst jetzt, wie ich an ihm hing. Von meinem letzten Gespräch mit ihm hatte ich niemandem erzählt. Es gab mir die Stärke, das hier durchzustehen.
Am Abend des dritten Tages war es soweit. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir merkten, dass wir eine leere Kammer bewachten. Er hatte sich still und leise, ganz entgegen seiner Art, davon gemacht.
Ich wandte mich ab, um meine Tränen zu verbergen und da stand Marion. Ich ließ mich von ihr umarmen und ließ meinen Tränen freien Lauf.
„Es ist gut“, sagte sie leise. „Trauer ruhig um ihn. Jetzt ist die Zeit dafür da. Du wirst seinen Platz einnehmen, aber erst später. Und ich versichere dir, das Vakuum ist größer als alle Länder der Erde zusammen.“
Ich lachte unter Tränen. „Wilhelms Platz einnehmen? Wie soll das gehen? Aber ich werde alles dafür tun, um eine gute Nachfolgerin zu werden.“

2010 – Marion
Einmal musste ich noch zurück. Die letzten Spuren, die auf uns hinwiesen, musste noch verwischt werden.
Ich betrat mein Haus, das jetzt still und abweisend da lag. Es war jetzt schon fremd für mich. Die Uhr im Wohnzimmer war stehengeblieben und tickte nicht mehr. Ich nahm eine der kleinen Glasfiguren, die auf dem Fensterbrett stand und pustete vor-sichtig etwas Staub von ihr, hielt sie in die Mittagssonne. Das Licht brach sich in ihr. Um die kleinen Figuren wäre es schade. Selbst ich hatte wochenlang gerätselt, wo sie herkamen. Dass Philipp sie in der Glaswerkstatt selber herstellte, war eine Überraschung. Aber es war schlüssig. Er hatte immer gern gebastelt. Ich nahm einen Korb und sammelte alle ein, die ich finden konnte. Dann fuhr ich damit zur Glaswerkstatt. Ich trat ein und schaute nach, wo sie steckten. Die Werkstatt war verlassen. Ich war wohl genau in der Mittagspause angekommen. Elke und Lukas saßen im Aufenthaltsraum.
„Frau Gerber!“ Elke stand sofort auf. „Das ist ja eine Überraschung. Nehmen Sie Platz.“
Ich stellte den Korb ab und setzte mich.
„Möchten Sie einen Kaffee? Hier sind nicht viele um diese Zeit, wir haben Pause…“
„Ich will auch nicht lange bleiben“, sagte ich. Ich öffnete den Korb und stellte die erste der Figuren auf den Küchentisch.
„Die kenne ich doch“ sagte Elke und nahm sie in die Hand. „Die ist hier gemacht worden.“
„Wer von Ihnen hat sie gemacht?“
„Keiner. Wir wissen nicht, wer es war. Vielleicht war es Alicia, vor ihrem Tod?“
„Ich weiß es nicht. Aber sie sind einfach zu schön… Ich wollte sie Ihnen zurückgeben.“
„Sie gehören aber Ihnen.“
Ich stellte den Korb auf den Tisch. „Dann schenke ich sie Ihnen.“
Elke und Lukas wechselten einen Blick.
„Was ist los?“
„Ich gehe fort von hier“, sagte ich. „Die Figuren kann ich leider nicht mitnehmen.“
„Dann kommen Sie auch nicht mehr zurück?“
„Nein.“ Wir schwiegen. „Müssen wir uns Sorgen machen? Die Polizei rufen, weil du deinen Selbstmord planst?“
Wenn die wüssten.
„Da können Sie beruhigt sein… Ich habe nicht vor mich umzubringen.“
Elke nahm mir das nicht ganz ab. „Warum hab ich das Gefühl, dass da noch etwas ist?“
„Ich kann wohl schlecht sagen, dass da nichts ist. Du hast ein sehr gutes Gespür für so etwas“, sagte ich. „Und eigentlich ist das gar keine schlechte Idee…“
„Was haben Sie vor?“ fragte Lukas.
„Bitte rufen Sie doch so in ungefähr einer Stunde die Feuerwehr“, sagte ich.
„Müssen wir Sie hierbehalten, damit Sie keine Dummheiten machen?“
„Bitte tun Sie es einfach.“
„Ok“, sagte Elke. „Uns bleibt wohl keine Wahl.“
Ich stand auf. „Danke. Und bitte suchen Sie nicht nach mir.“
„Sie sind verrückt“, sagte Caro.
Ich drehte mich um. Sie lehnte im Türrahmen und sah wütend aus.
„Sie geben uns diese Figuren zurück und sagen, wir sollen bitte die Feuerwehr rufen und dann gehen Sie einfach?“
„Ich kann euch nicht sagen, wo ich hingehe“, wiederholte ich.
Stand auf und gab ihnen die Hand. „Passen Sie gut auf die Figuren auf.“
Auf dem Rückweg zum Haus schneite es leicht. Ich wollte mich nicht mehr lange aufhalten. Schaute auf die Uhr. Eine Stunde hatte ich.
Das Haus lag schwarz auf dem Hügel. Ich öffnete im Keller und im Zimmer nach hinten raus jeweils ein Fenster, bereitete alles vor und zündete die beiden Kerzen an. Dann verließ ich das Haus wieder und ging zum Kirschbaum. Der erste Feuerschein zuckte hoch. ich fing an zu frieren, aber ich blieb stehen. Als die Feuerwehr um die Ecke bog, brannte das ganze Haus lichterloh. Ich wandte mich um und ging die Straße hinunter.

Nach dem Feuer
Die Brandsachverständigen erkannten schnell auf Brandstiftung. Das Feuer war aggressiv genug gewesen, um das Haus vollständig in Asche zu zerlegen. Sie fanden keine Leichen, es waren effektive Brandbeschleuniger eingesetzt worden. Kein belastendes Material und die Bewohnerinnen waren spurlos verschwunden. Man leitete eine Fahndung nach ihnen ein, die vollkommen erfolglos blieb. In der Glaswerkstatt hielten alle dicht. Sie schwiegen einfach und erklärten, sie wussten von nichts. Die Spur war vollkommen kalt. Zwei Tage nach dem Brand fiel so viel Schnee wie seit Jahrzehnten nicht mehr und deckte die Dörfer und die Ruine auf dem Hügel zu.

März 2010
Das Grundstück war an die Gemeinde Langenwege gefallen. Sie setzte es in die Zeitung um einen Käufer zu finden. Ein junges Ehepaar wollte dort bauen, ein Wohnhaus mit Stall für ihre zwei Pferde. Es lag zentral zu beiden Dörfern, geschützt auf dem Hügel, durch die Bäume gegen Wind und durch die Höhe gegen Wasser.
Im Dorf reagierte jeder gleich, wenn er hörte, wo sie planten hinzuziehen.
„Tun Sie das nicht“, sagte die Bäckereiverkäuferin, als die junge Frau dort Brötchen kaufte.
„Was denn?“
„Stoppen Sie den Bau. Ziehen Sie nicht dorthin.“
„Es ist eine hübsche Gegend. Und wir brauchen den Platz.“
Der Mann hatte ein ähnliches Gespräch mit den Handwerkern, als er die Baustelle besuchte. Den Baufirmen gingen bald die Mitarbeiter aus, die auf dem Hügel noch arbeiten mochten, bis sich ein harter Kern gebildet hatte.
Sie zogen zu Beginn des nächsten Winters ein.
Ihr Schlafzimmer lag im ersten Stock. In der ersten Nacht kam Sturm auf. Sie standen noch einmal auf und gingen durchs Haus, machten alle Fenster und Türen ordentlich zu.
„Komm“, sagte sie zu ihrem Mann. „Machen wir ein Kind.“

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