Fugu Music 4
von Sabine Herzke (melody)

 

Reiter hatte sich fest vorgenommen, vor dem nächsten Termin mit Hoffmann zu sprechen, aber dann kam ihm die allgemeine Arbeit dazwischen und ein anwaltlicher Notfall und Hoffmann war unabkömmlich. Dr. Meyer hielt ihn vollkommen beschäftigt. Er war dem Psychologen noch einmal vorgestellt worden, und selbst jetzt, als er es wusste, konnte er sich dem Charisma dieses Mannes nicht entziehen. Doch dann erwischte der Psychologe ihn in einem der langen Gespräche.
Meyer hatte in einem Halbsatz in einem seiner Monologe über einen Bruder gesprochen. Der Psychologe griff behutsam zu. Und Meyer passte zum ersten Mal nicht auf. Als er sich wiederfand, saß er in Tränen aufgelöst im Sessel, vor sich einen geduldigen Mann, der schweigend wartete. Also der Bruder war es gewesen, was in Dr. Meyer diesen Wahnsinn, der sowieso angelegt gewesen war, ausbrechen ließ. Kersten war nur der richtige Mann zur richtigen Zeit der Auslöser gewesen.
Damit war Meyer geliefert. Hoffmann bekam den Bericht gleichzeitig wie die Staatsanwaltschaft und der Richter, aber auch dieses Mal beschloss Hoffmann, seinem Mandanten nichts vom Ergebnis zu sagen. Er versuchte zu retten, was zu retten war an dieser ganzen verfahrenen Sache. Nur um vor Gericht festzustellen, dass Dr. Meyer ohnehin keine Chance mehr hatte, vielleicht nie gehabt hatte. Kaum einer machte sich noch die Mühe sich zu verstellen, blanker Hass schlug ihnen entgegen.
„Das wird unangenehm, Dr. Meyer.“
„Unangenehm!“ schnaubte der Biologe. „Höchstens für die da drin.“
Der Schuss kam von oben, durchschlug eine Strebe des Geländers und drang seitlich knapp über dem Ohr in Meyers Kopf ein. Ein paar Sekunden herrschte absolute Stille, dann schrie irgendwo eine Frau auf und es kam wieder Leben in die Leute. Hoffmann kniete nieder, untersuchte Meyer hektisch, ein Mann in seiner Nähe telefonierte nach einem Arzt und kurz darauf trafen zwei Sanitäter ein.
„Jetzt… müssen Sie Kersten unterstützen“, flüsterte Dr. Meyer und suchte Hoffmanns Blick. Unter seinem Kopf breitete sich eine Blutlache aus und er wurde erschreckend schnell weiß im Gesicht.
„Ich verspreche es.“
Es dauerte nicht lange. Die Sanitäter schafften es kaum, als der Notarzt eintraf, lag Dr. Meyer in den letzten Zügen. Ein paar Sekunden später war er tot.

Kersten presste die Hände so fest auf die Tischkante, dass es wehtat.
„Warum?“ fragte er tonlos.
Hoffmann schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“
Sie hatten den Schützen ein paar Stunden später festgenommen, er hatte zu viele Spuren hinterlassen. Er war ein Zwanzig-jähriger, dessen Freundin durch das Stück gestorben war.
„Rache.“ Kersten wurde noch blasser. „Wie wollen Sie verhindern, dass mir dasselbe passiert? In vier Tagen ist mein nächster Gerichtstermin. Soll ich mein Testament machen?“
„Ich glaube, das ist nicht notwendig. Sie werden von der Öffentlichkeit und von den Hinterbliebenen nicht mit so einem Hass angesehen wie Dr. Meyer.“
„Das beruhigt ja kolossal.“
„Es wird jetzt noch ganz anders aufgepasst als vorher. Sie sind sicher.“

Sein Herz raste, er trug eine Sonnenbrille, eine Schirmmütze ins Gesicht gezogen und schützte sich durch einen aufgeklappten Aktenordner, bis er sicher hinter Glas im Saal war, ließ sich die Handschellen abnehmen und legte erst dann seine Verkleidung ab. Er musterte rasch den Saal um festzustellen, wer an diesem Tag alles da war, nahm die unvermeidlichen Aufnahmen durch die Journalisten in Kauf und versuchte sich zu entspannen. Er konnte sich die Schlagzeilen der nächsten Tage lebhaft vorstellen. Einen Blick zur Bank der Nebenkläger gestattete er sich erst, als die Verhandlung eröffnet worden war. Wieder war es diese Frau, die ihn aufmerksam anschaute. Kersten senkte den Blick.
Es wurde hart für ihn. Alles konzentrierte sich jetzt auf ihn, er konnte nirgends mehr hin, musste es allein tragen. Zum Glück hatte er Zeit gehabt; hätte seine Verhandlung direkt auf das Attentat gefolgt, er hätte um Terminverlegung gebeten. Jetzt war er vorbereitet und die Menge hatte sich abgekühlt.
Als er Raum für eine Aussage bekam, nutzte er ihn. Natürlich hatte er vorher mit Reiter gesprochen, aber der wusste, wenn Kersten aussagen wollte, würde ihn nichts davon abbringen. Kersten stand auf und atmete ein.
„Ich kann nicht sagen, dass ich mich über den Tod meines Freundes freue. Aber es stimmt, dass mir eine gewisse Last genommen wurde.“
Man horchte auf.
„Ich habe die ursprüngliche Idee gehabt. Ich erzählte ihm davon und es gefiel mir, dass er sofort mitspielte. Anfangs war es nicht mehr als eine Idee, wir probierten herum und… Ja, auch der Vorschlag es in einem öffentlichen Lokal zu testen, kam von mir.“
Eine Stunde lang sprach er, schaute Richter, Staatsanwaltschaft und Nebenkläger an. Er wich ihnen nicht mehr aus. Dann unterbrach der Richter für eine Pause.
Die Zeugin schaute hinüber, hielt seinen Blick und verließ den Saal.
„Kennen Sie sie?“ Reiter war es nicht entgangen.
„Nein“, sagte Kersten, riss sich von dem Anblick los und folgte seinem Anwalt in das Zimmer, wo sie die Pause verbringen würden.
„Ich sollte mich jetzt eigentlich besser fühlen“, sagte Kersten, ging auf und ab. „Aber ich fürchte, sie erwischen mich auch noch. Jetzt erst recht. Ich kann nichts mehr zu meiner Verteidigung vorbringen.“
„Sie geben auf? Deswegen das volle Geständnis vorhin? So hätte ich Sie nicht eingeschätzt.“
„Ich will meine Haut retten.“
„Um jeden Preis?“
„Ich bezahle Sie nicht für Lügen.“
„ich kann Sie auf diese Weise nicht auf Bewährung oder Freispruch bekommen.“
„Schön wär’s.“ Er schlug frustriert gegen die Wand. „Wenn ich selber wüsste, was ich will.“
Dann sah er auf der Straße eine vertraute Gestalt. Die Frau aus dem Zeugenstand. Die Sonne schien kurz hinter den Wolken hervor und blendete sie, dann überquerte sie die Straße und verschwand im Café.
„Ich will ein Urteil, das zu meinem Ruf passt.“ Kersten drehte sich um, kehrte der Versuchung den Rücken zu. „Ich bin nicht Jens.“
Der Anwalt fing an zu lachen. „Was ist Ihnen denn zu Kopf gestiegen? Sie können froh sein, wenn es einen Deal gibt. Sie überschätzen sich.“
Kersten setzte zu einer wütenden Erwiderung an, dann fiel sein Blick auf die Uhr. „Wir müssen zurück.“
Der Rest des Tages war für Kersten unerträglich. Jetzt schaffte er es nicht mehr, irgendwen anderes als den Richter anzu-schauen. Seine ganze Kraft war aufgebraucht, er hörte nur noch mit halbem Ohr hin, stützte seinen Kopf in die Hände und es war ihm egal, dass das am nächsten Tag in der Zeitung stand. An diesem Abend ging er allen Leuten im Gefängnis aus dem Weg, auch in den nächsten Tagen in allen Freistunden, bis der „Boss“ sich ihm in den Weg stellte.
„Du weißt schon, dass du hier einfährst, wenn du verknackt wirst?“
Er raffte sich müde auf. „Willst du mir drohen?“
„Vielleicht? Du vergisst, wer ich bin.“
„Und du vergisst, mit wem du es zu tun hast.“
Auge in Auge, alle anderen hielten die Luft an.
„Ich kann dich jederzeit mit einem Song flachlegen.“
„Das weiß ich“, knurrte der „Boss“ und zog sich zurück. Mit einem Mal hatten sie einen unter ihnen, der sie alle ausschalten konnte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnten.
Boss hatte noch nie nachgegeben.

„Bitte erheben Sie sich!“
Kersten stand auf, verschränkte die Hände vorm Körper, versuchte sein rasendes Herz zu beruhigen.
„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil.“
Schuldig. Zehn Jahre. Die Worte drangen langsam in Kerstens Gehirn wie Hammerschläge, dann hatte er das Gefühl, sich unter Wasser zu befinden, er hörte nichts mehr, der Druck um ihn nahm zu, der Schock. Die Urteilsbegründung rauschte in sinnlosen Wortfetzen an ihm vorüber. Er hob langsam den Kopf und zwang sich die Nebenkläger anzuschauen, seinen Opfern in die Augen zu sehen. Und traf auf Hass. Jetzt schaute keiner mehr weg, alle warteten darauf, dass er zum Urteil etwas sagte. Kersten ließ die Worte sacken, bemühte sich dem Richter zuzuhören und versuchte sich mit dem Urteil anzufreunden.
„Nehmen Sie das Urteil an?“
Reiter hatte Blickkontakt mit Kersten gehalten, die ganze Zeit.
„Wir fechten das Urteil an.“
Stille für einen Moment, ein Aufstöhnen ging durch die Reihen. Der Richter stockte für einen Moment.
„Gut“, sagte er. „Sie bekommen die Papiere dafür in den nächsten Tagen zugestellt.“
Man stand auf, die Türen zum Saal wurden geöffnet, die Leute verließen ihn, die Presse machte erste Fotos und ging dann ebenfalls nach draußen, um alle vor der Tür abzufangen.
Kersten sah, wie die Frau aus dem Stand der Nebenkläger ihn anschaute und zusehends verfiel. Er hatte seine haut retten wollen und bis zu einem gewissen Grad hatte er keine Nähe zu ihnen empfunden, da hörte es auf. Er dachte nur daran dass er mit einer geringeren Strafe eher seine Talente einsetzen konnte, diese Verschwendung dann ein Ende hatte und die Ämter hatten ihm ja zugesichert, dass er sein Wissen dann in ihre Dienste stellen durfte.
Kersten schaute die Frau an, hoffte, er könne einen besseren Eindruck bei ihr hinterlassen.
„Ich ziehe die Berufung zurück“, sagte er unvermittelt.
„Herr Kersten…“
„Ich weiß, Sie halten das für keine gute Idee.“
„Zu diesem Zeitpunkt ist es vor allem auch nicht so einfach möglich.“
„Ich bestehe darauf.“ Er funkelte seinen Anwalt wütend an, während ihm Handschellen angelegt wurden und Reiter sich darauf vorbereitete vor die Presse zu treten.
Er hielt nach der Frau Ausschau, als sie ihn abführten. Er entdeckte Anwälte der Gegenseite, weinende Angehörige, Leute, die sich in den Arm nahmen, immer wieder ein Mann oder eine Frau, die den Kopf hoben und ihn ansahen, leere Gesichter, manchmal mit so einem Hass, dass es ihm durch Mark und Bein ging, wie Säure, die die ganze Gefühlskälte und seinen Forscherehrgeiz einfach wegätzten.
Aber sie blieb verschwunden.

„Zehn Jahre, Mann. Und du willst deine Scheiß Berufung zurückziehen? Hast du sie noch alle?“
Keiner der Jungs im Knast konnte das verstehen.
„Du bist ein größerer Dummkopf, als ich dachte.“ Boss ließ angewidert seinen Hemdkragen los.
„Warum hast du das getan?“
Mick war stiller als Boss, aber das täuschte, hinter der Fassade war er genauso gefährlich.
Drei Schritte vorwärts, an Boss vorbei. Kersten zog sich den Hemdkragen zurecht.
„Wegen dieser Frau.“
„Wegen welcher Frau?“
„Die aus dem Gerichtssaal“, gab Kersten zu, unfähig ihnen noch länger etwas vorzuspielen. „Die Zeugin, die mich jeden Tag auf dem Kieker hatte.“
„Du weißt nicht einmal, wie sie heißt?“
„Hab bei ihrer Aussage noch nicht so auf sie geachtet“, knurrte er. „Was soll das hier überhaupt?“
„Du bist wahnsinnig, wegen so einer Frau deine Berufung zu versauen.“
„Hast dich wohl verliebt?“
„Hört auf, verdammt nochmal!“ Kersten stieß einen der Jungs von Boss mit beiden Händen vor die Brust.
„Packst du mich noch einmal an…“
„Weg hier!“ ging Boss dazwischen. „Wir fallen auf.“
Sie zerstreuten sich, scheinbar war nichts passiert, aber weder Boss noch Kersten wollten das auf sich beruhen lassen. Verdammt, er musste sich doch selber erst mal darüber klarwerden, warum er das gesagt hatte.
Erst kurz vor Einschluss ergab sich noch einmal eine Gelegenheit zu einem Gespräch.
„Wir sollten das klären.“
Boss legte langsam die Gewichtstange ab, mit der er trainierte. Kersten hatte die Hände in die vorderen Hosentaschen gesteckt und stand entspannt da.
„Wegen einer Frau, die gegen dich ausgesagt hat, spinnst du?“
Boss hielt seine Stimme nur mühsam unten.
„Ich bin am Arsch, egal was ich mache. Berufung durchziehen und mit viel Glück weniger bekommen, das Urteil annehmen und sie ganz verlieren.“
„Kersten.“
„Was?!“
„Hör auf zu quatschen.“

In dieser Nacht konnte Kersten nicht schlafen. Er warf sich hin und her, hörte die Geräusche, die er sonst verschlief, hatte ihr Gesicht vor Augen, verteidigte seinen Entschluss und wusste, dass es Unsinn war, weil sie ihn ohnehin nie erhören würde.
Als er am nächsten Morgen vom Geräusch des Schlüssels aus einem unruhigen Schlaf gerissen wurde, hatte er das schon wieder vergessen. Kersten hatte sich Situps und Streckübungen verordnet, den Tag verbrachte er neuerdings damit im Kopf zu komponieren, sonst würde er in der Zelle wahnsinnig werden.
Als er an diesem Tag hinaus konnte, ging er mit verbissenem Schweigen in seinen Hofgang, danach verzog er sich in den Kraftraum. Kersten war kein untrainierter Mann gewesen, als er einfuhr, aber in den letzten Tagen hatte er angefangen, den muskulösen Jungs Konkurrenz zu machen.
„Du versuchst sie mit Gewichten aus dem Kopf zu vertreiben, was?“
Kersten schaltete auf dem Rad höher und ignorierte Boss. Boss schaltete das Rad mit Druck aus und bog Kersten einen Arm zurück.
„Scheiße!“ keuchte Kersten. „Verdammt, lass los, ich komm runter.“
Er stieg ab, rieb sich wütend den Arm. „Jetzt hör mir mal zu, ich bekomme sie auch so aus dem Kopf. In zwei Wochen ist die Anhörung, ich zieh den Scheiß zurück und das war’s und danach mach ich dir das Leben zur Hölle.“
Boss stand auf Tuchfühlung mit ihm. Auf einmal schlug er ihm auf den Rücken. Kersten schnappte nach Luft.
„Hast es kapiert, was?“

„Ich hör wohl nicht recht. Du hast dich in einen Kriminellen verknallt, der deine beste Freundin umgebracht hat? Spinnst du?!“
„Ich kann da doch auch nichts für!“ schrie sie.
„Dann geh hin. Geh doch zu der Berufung, guck ihn dir nochmal an und ich hoffe für dich, dass du zu Vernunft kommst!“
Sie ging. Sie weigerte sich noch einmal über ihn zu sprechen, nahm sich frei, als der Berufungstermin anstand und konnte sich zunächst hinter anderen Zuschauern verstecken. Zum Glück war die Verhandlung öffentlich. Er sah sie. Kersten stockte, der Beamte schob ihn unwirsch vorwärts, schloss seine Handschellen auf und gab ihm noch einen Stoß, weil Kersten einfach im Eingang vom Glaskasten stehen geblieben war. Sie war da, schaute zu ihm herüber, nahm alles in sich auf. Verdammt, sie lächelte sogar. Er hasste sich dafür sie zu lieben, die Frau, der er die beste Freundin genommen hatte, dafür, dass er ihr Leben durcheinander brachte. Er konnte die Blicke nicht von ihr abwenden, bis Hoffmann ihn ansprach. Er hatte die Verteidigung in der Berufung übernommen.
„Es geht mir gut“, sagte er.
„Wo haben Sie nur Ihren Kopf?“
„Das wissen Sie doch.“
Hoffmann schaute zu der Frau im Zuschauerraum.
„So sieht das aus.“
Kersten nickte und konzentrierte sich auf das bevorstehende Verfahren. Der Richter trat ein. Kersten riskierte keinen weiteren Blick. Es war für ihn eine Qual.
„Wir bestreiten nicht die vorliegende Schuld“, sagte Hoffmann. „Wir ersuchen um eine Reduzierung des Strafmaßes.“

Sie saß wie erstarrt, den Blick auf Kersten fixiert. Seine Stimme zu hören. Sie sehnte sich danach wenigstens einen Augenblick mit ihm allein zu sein. Riss sich zusammen, verkrampfte die Hände, entspannte sie wieder, dachte an ihre Freundin. Es half nichts. Sie hasste den anderen, der jetzt tot war. und erwischte sich dabei, für eine mildere Strafe für diesen Mann da vorn zu hoffen.

„Das Gericht erkennt auf Grund der Umstände und dargelegten Ausführungen auf eine reduzierte Strafe von sieben Jahren.“
Hoffmann schaute Kersten an. Der nickte leicht.
„Wir nehmen das Urteil an.“

Kersten drehte sich kurz um, wollte ihre Reaktion sehen. Sie lächelte ihn an, so schön, so klar, einfach erleichtert.
„Sie haben Glück gehabt“, sagte der Richter ernst, „dass Sie bereits so einen guten Eindruck vorher gemacht haben. Das befreit Sie nicht von der Verantwortung.“
„Nein“, sagte Kersten leise und senkte den Blick.
„Die Sitzung ist beendet.“

Hoffmann sammelte die Akten ein. Kersten sah den Justizbeamten auf sich zukommen und schaute ihn flehentlich an.
„Bitte, lassen Sie mich eben mit jemandem sprechen.“
Der Mann griff nach seinem Handgelenk.
„Bitte!“
Er sah ihr verzweifelt nach, als sie sich zur Tür wandte. Hoffmann berührte ihn sacht am Arm.
„Ich kümmere mich darum.“
Kersten entspannte sich. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihm die Unfreiheit – nun, nicht egal – gewesen, aber jetzt war es unerträglich. Er ballte die Fäuste, biss die Zähne zusammen, als er abgeführt wurde. Im Flur sah er sie noch einmal. Sie war im Gespräch mit Hoffmann.

Im Gefängnis kam er außerhalb der Aufschlusszeit an. Ihm war es nur Recht, er grüßte wortkarg den JVA-Mann und ließ sich in der Zelle aufs Bett fallen.
Es folgten Tage wie unter einer Glasglocke. Sein Status änderte sich, er gewöhnte sich an den Alltag im Knast ohne einen Prozess im Hintergrund. Sie forderten ihn jetzt noch mehr heraus als je zuvor, er stellte sich den Kämpfen und verstummte immer mehr.
Boss entging nichts. Er sorgte auf seine Weise für ihn, zettelte Meinungsverschiedenheiten an und gab Kersten Gelegenheit alles an ihm auszulassen. Sie sprachen nicht mehr darüber. Kersten wusste auch so, dass die Jungs bestens Bescheid wussten. Die Tage vergingen ohne Nachricht. Kersten wurde aggressiv. Boss als Gegengewicht reichte nicht mehr aus. Man beobachtete ihn.
Die Wochen vergingen. Irgendwann erfuhr Kersten wann er wo zu arbeiten anfangen konnte. Die Behörden hatten Wort gehalten. Er nahm den Spott hin, verteidigte seinen Standpunkt nur noch sporadisch.
Dann bekam er die Nachricht, die hier jeden aus einem Tief holen konnte. „Sie haben Besuch.“
Kersten ließ sich zum Besucherraum bringen.
Auf der anderen Seite ging die Tür auf. Kersten hatte etwas quer im Hals stecken. Dann stand er auf und lächelte.
Sie war gekommen.

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5320 Beiträge veröffentlicht!