Bildungslücke
von Sabine Herzke (melody)

 

Bildungslücke
Der junge Mann nahm nervös Platz, als der Chef ihn dazu aufforderte. Sie saßen ihm zu zweit gegenüber: Der Geschäftsführer der Schreinerei und seine Frau, die zugleich den Verkauf und die Buchhaltung führte.
Der junge Mann bewarb sich auf eine Lehrstelle. In diesen Zeiten war es nicht üblich, eine Lehre zu beginnen. Die Gymnasiasten schreiben sich an Universitäten ein. Die Hörsäle waren voll, man suchte Ausweichquartiere und Professoren. Um die gewöhnlichen Schreibtischberufe reizvoller zu machen, wandelte man sie um und nannte sie fortan Officies. Unter dem eigentümlichen Namen, der sich jeder Änderung widersetzte, wurden alle denkbaren Büroberufe zusammengefasst, mit verschiedenen Fachrichtungen. Man vermittelte das Wissen immer als vereinfachtes Betriebswirtschaftsstudium oder dergleichen.
Die Handelsberufe wurden in einem weiteren, der Ökonomie unterstellten Studiengang zusammengefasst und in Spezialrichtungen unterteilt. Selbst für die Handwerke ließen sich entsprechende Studiengänge einrichten, mit angeschlossenen Werkstätten.
Wettbewerbsfähigkeit war das Stichwort, das die Regierung täglich verkündete. International. Global. Und die Bürger richteten sich danach. Sie schickten ihre Kinder auf die besten Schulen. Lehrer wurden regelmäßig Prüfungen unterzogen, von denen abhing, an welcher Schule sie unterrichten durften.
Das neue System wirkte. Nach vier Jahren hatte es sich etabliert. Erfolge wurden gefeiert. Proteste der Leute von unten wurden ignoriert. Die jungen Leute, die die Universitäten verließen, wurden mit offenen Armen empfangen. Sie verdienten genug Geld, um sich zu gegebener Zeit die notwendige Kinderbetreuung leisten zu können.
Und dann gab es die Hauptschüler. Diese Schulform, die sich hielt, die genauso wuchs wie die des Gymnasiums, in der die Schüler landeten, deren Eltern nicht das Geld für Gymnasium und Universität aufbringen konnten – und Schüler, deren Eltern die finanziellen Mittel hatten, die aber hoffnungslos im Konkurrenzkampf der Intelligenz unterlagen und auf der Hauptschule die Leistungen brachten, die ihnen gute Zeugnisse bescherten und hinterher irgendwo einen Job, bei dem keiner nach Zensuren fragte.
Die wenigen echten Lehrstellen in richtigen Betrieben waren verpönt – man bot sie an, sie waren der Bodensatz des Systems, in dem es eine Statusfrage war, ganz oben oder ganz unten dazuzugehören. Aber auch diese Betriebe nahmen fürs Büro Gymnasiasten, für die Werkstatt Hauptschüler oder Gymnasiasten mit einer außergewöhnlich eskapistischen Ader.
Das Paar blätterte durch die Bewerbungsunterlagen des jungen Mannes. Sie seufzten. Sie bekamen zweifelnde Falten auf die Stirn.
Schließlich gaben sie ihm die Mappe zurück und empfahlen ihm, es doch in einem anderen Betrieb zu versuchen. Der junge Mann nahm die Mappe entgegen und steckte sie in eine unauffällige Aktentasche. Er knöpfte sein Jackett zu und bedankte sich höflich für die Zeit der Tischler.
Als er gegangen war, tauschten die Eheleute einen Blick. Sie waren sich einig, dass es wirklich keinen Sinn hatte, diese jungen Leute zu Gesprächen einzuladen. Sie hatten den jungen Mann bereits halb wieder vergessen.
Die Ehefrau ging ins Büro und unterwies die junge Abiturientin mit dem A in Mathematik in Controlling. Ihr Mann betrachtete in seiner Werkstatt einen halbfertigen Schrank mit ungewöhnlichen Elementen und gab dem Hauptschüler mit den Tätowierungen am Hals ein paar hilfreiche Tipps.
„Weiter so“, sagte er.
Der junge Mann mit dem Abschlusszeugnis einer Realschule aus einem Elternhaus mit mittlerem Einkommen aus einer Reihenhaussiedlung mitten in der Stadt kehrte zurück und ging unter in der Masse der Pendler, die stadteinwärts die Straßenbahn verstopften.

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