Schall und Rauch 1
von Sabine Herzke (melody)

 

1. Woche

1.Dezember, Sonntag
Beim Frühstück stellten sie fest, dass sie vergessen hatten, einen Adventskranz zu besorgen. Carina schrieb einen Zettel und legte ihn Martin hin. Ihr Mann arbeitete in der Nähe von einem Blumenladen und sollte am nächsten Tag einen mitbringen. Carina hatte dazu keine Zeit. Ihre Arbeitsstelle lag viel weiter weg und an Blumenläden kam sie gar nicht vorbei. Früher hatte Chantal diese Aufgabe erledigt. Sie liebte Dekorationen und alles, was damit zusammenhing. Aber ihre älteste Tochter war im Frühjahr nach einem heftigen Streit ausgezogen und verschwunden. Martin sagte, er sei erst bereit, wieder mit ihr zu sprechen, wenn sie von sich aus ankam und sich entschuldigte.
Carina hielt das nicht durch. Als sie rausfand, dass Lucy heimlich mit ihr bei Facebook schrieb, bat sie sie, Chantal Grüße auszurichten. Und als die Sommerferien begannen, telefonierte sie das erste Mal heimlich mit ihr.
Und jetzt hatten sie keinen Kranz.
Lucy guckte enttäuscht. Kevin behauptete, es sei ihm egal. Weil Carina es beim besten Willen nicht schaffte, übertrug sie die Aufgabe, einen Adventskranz zu besorgen, ihrem Mann.


2. Dezember, Montag
Carina fuhr um sieben Uhr zur Arbeit. Martin hatte mehr Zeit, aber an diesem Tag war er in Hektik Im Betrieb stand mal wieder alles Kopf. Vier Mitarbeiter waren krank, sie erwarteten Lieferungen, die zu spät kamen, weshalb die halbe Belegschaft länger bleiben musste. Auf dem Nachhauseweg steckte sie in einem Stau auf der Autobahn, weil ein LKW einen Unfall hatte.
Als sie nach Hause kam, war Andreas schon da und hatte sich immerhin um Kevins Hausaufgaben gekümmert und Essen gemacht. Sie hatte kaum Zeit, die Füße hochzulegen. Lucy hatte eine Stinklaune und tippte das ganze Abendessen auf ihrem Handy herum, bis Carina es ihr wegnahm und der Ärger vorprogrammiert war. Als sie ihren Mann spätabends nach dem Adventskranz fragte, zeigte er ihn ihr voller Stolz. Carina fiel fast in Ohnmacht. Der Kranz hatte einen Durchmesser von über einem halben Meter und war voller glitzernder Kugeln, Schleifchen, Glitter und dazwischen irgendwo die Kerzen und das Ganze in Rotgold mit bestäubten Tannennadeln, so dass sie silbern glitzerten. Carina starrte das Kunstwerk sprachlos an und warf ihrem Mann einen mörderischen Blick zu.
Er hob sofort die Hände. „Was willst du denn? Ich sollte einen Adventskranz besorgen, und da hast du ihn!“
„Aber… doch nicht so ein Ungetüm!“
„Dann mach‘s nächstes Jahr selber. Oder schick Lucy los. Aber nicht mich, wenn ich dir dann das verkehrte mitbringe!“
„Erinnerst du dich an die Kränze der letzten Jahre?“ fragte Carina, um Ruhe bemüht. Sie setzte sich auf dem Sofa in den Lotussitz und atmete tief ein und aus, in der Hoffnung, dass es auch während eines Streits half.
Andreas schaute Carina aus zusammengekniffenen Augen an, stemmte die Hände in die Hüften und holte mit ihr gleichzeitig Luft – und sagte dann nichts.
„Nein?“ fragte sie. „Keine Erinnerung? An keinen der Kränze der letzten 20 Jahre? Wo hast du eigentlich deine Augen?“ Sie schrie jetzt fast los. Yoga half also doch nicht, wenn man sich gerade stritt.
„Jetzt beruhige dich doch wieder“, sagte Andreas. Immer, wenn er versuchte, aus so einer Situation herauszukommen, bekam er eine höhere Stimme. Carina hörte das jetzt und musste wider Erwarten auf einmal lachen. Er wurde rot.

Kevin
Papa wurde rot, als ich ins Wohnzimmer kam und Mama sah echt sauer aus.
„Wasn hier los?“
Keine Antwort.
„Habt ihr was?“
„Geh in dein Zimmer, Kevin.“
„Nein, will ich nicht! Kann ich fernsehen?“
Da drehten sie sich gleichzeitig zu mir um.
„Du musst noch lernen, ab in dein Zimmer.“
„Kevin, hör auf deine Mutter.“
„Nein!“ Da sah ich das Monsterteil.
„Ist das ein Adventskranz? Der ist ja VOLL geil. Woher habt ihr den denn?“ Ich musste mir den einfach aus der Nähe ansehen. Hab‘s ja sonst nicht so mit Deko, aber das Teil war sowas von krass.
„Du sollst auf dein Zimmer gehen!“
„Nein!“
Papa stand auf einmal neben mir und packte mich am Oberarm. Meine Eltern sind sonst echt cool, aber da war ich wohl in einen Streit reingeplatzt. Ich ging rückwärts aus dem Wohnzimmer und verzog mich auf mein Zimmer, wo ich gegen die ätzende Langeweile Papierflieger baute.

Martin dachte „Gottseidank.“ Dann wandte er sich an Carina.
„Siehst du, zumindest noch einer findet den Kranz gelungen!“ Kevin war genau zur richtigen Zeit hereingekommen.
„Schön, die Mädchen werden sicher ganz anderer Meinung sein!“ Carina regte sich immer mehr auf. Langsam machte ihm das Spaß. Außerdem dachte er an den Zettel, der noch in seiner Jackentasche steckte. Aber von dem würde er Carina noch nichts erzählen.


3. Dezember, Dienstag
Carina kam von der Maniküre und brach sich beim Aufschließen der Wohnungstür einen Fingernagel ab.
„Ey, was meckerst du hier so rum, Mama?“ Lucy kam aus ihrem Zimmer.
„Du hast wohl nichts anderes zu tun, als dich dafür zu interessieren, was?“
Lucy zuckte mit den Schultern und zupfte sich das knappe T-Shirt wieder zurecht. „Ist einfach zu langweilig alles“, sagte sie. „Warum nimmst du mich nicht mal mit zur Maniküre?“
Carina stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihre Tochter demonstrativ von Kopf bis Fuß. „Du hast eine Maniküre überhaupt nicht nötig.“
„Ach und warum nicht? Du gibst mir kein Geld mehr zum Shoppen, und jetzt willst du mich nicht mit zur Maniküre nehmen? Was kommt als nächstes, ich darf nicht mehr zum Friseur? Du verbietest mir meine Freundinnen? Wobei, wenn ich nicht mehr shoppen gehen kann, wollen die bald sowieso nichts mehr von mir wissen!“
„Dann such dir doch einen Job!“ keifte Carina zurück und versuchte immer noch ihren abgebrochenen Nagel zu retten.
„Brauch ich nicht, ihr verdient doch genug!“
Carina klappte der Kiefer herunter. Sie schaute ihre Tochter an, die völlig von dem überzeugt war, was sie da gerade gesagt hatte.
Ihr Mann kam die Treppe herunter.
„Hast du was von Chantal gehört?“ fragte Andreas.
„Ach, schön, dass ich dich auch mal wieder zu Gesicht bekomme!“ Carinas Laune war auf dem Nullpunkt angekommen. Sie versuchte sich zu beruhigen. „Sie hat mir vor drei Wochen eine letzte E-Mail geschrieben. Die Arbeit ist krass und die Leute cool.“
„Immerhin scheint es ihr zu gefallen.“
Für die Prinzessin den passenden Job oder Ausbildungsplatz zu finden, hatte sich bis zum Frühling nämlich praktisch als unmöglich erwiesen. Chantal hielt sich einen Hofstaat und wollte vor allem Spaß haben. Bis sie dann von einer Reise nicht zurückkehrte mit der lapidaren Aussage: „Hab nen Job gefunden.“ Und jetzt meldete sie sich nicht mehr.
„Bin nochmal weg!“ rief Kevin.
„Du bleibst hier!“ Martin sprang auf. „Freundchen!“
Die Haustür fiel ins Schloss.
„Lass ihn doch“, sagte Lucy. „Der nervt doch eh immer nur rum.“
„Genau wie du!“
„Bei dir hackt’s wohl!“ Lucy drehte sich um und warf ihre Zimmertür zu.
Martin und Carina starrten sich an. „Wie hast du es geschafft, unsere Kinder so zu verziehen?“ fragte er.
„Ich habe die Kinder verzogen?“ Sie kam näher. „Ich habe die Kinder… Jetzt hör mir mal gut zu!“
Martin schaltete die Ohren auf Durchzug und ließ seine Frau einfach stehen. Er suchte auf der Straße nach seinem Sohn. Aber Kevin blieb verschwunden.


4. Dezember, Mittwoch
Der Tag begann mit der üblichen Hektik. Carina versuchte Kevin und Lucy zu wecken. Kevin war spät abends wieder aufgetaucht, wortkarg und verschwitzt und nach Rauch riechend und natürlich hatte er seine Eltern ignoriert. Und natürlich stand er jetzt nicht auf. Carina hatte keine Zeit darauf zu warten. Martin hatte wie immer das Haus vor allen anderen verlassen. Carina hasste das. Als sie heiratete, träumte sie von täglichem gemeinsamen Frühstück, gut gelaunter Familie, einem Mann, der sie auf Händen trug. Dreiundzwanzig Jahre später war nichts mehr davon übrig.
Lucy kam in die Küche, als Carina sich für die Arbeit fertigmachte. Sie holte sich wortlos einen Joghurt aus dem Kühlschrank und schob ihre Mutter zur Seite, als sie an die Besteckschublade ging.
„Guten Morgen!“ sagte Carina betont fröhlich und überprüfte, ob sie alles dabei hatte.
„Morgen.“
Lucy löffelte ihren Joghurt in Rekordzeit und warf den Becher weg, dann kontrollierte sie im Flurspiegel ihr Aussehen, legte jede Haarsträhne so, wie sie sein sollte und zog sich die Lippen nach.
„Hast du deinen Bruder gesehen?“
„Nee.“ Lucy steckte ihr Schminktäschchen in die überdimensionale Shopping Bag, die sie als Schultasche benutzte und schwang sie sich über die Schulter.
„Muss los. Tschüs!“
Dann fiel die Haustür ins Schloss. Carina seufzte und machte sich selber fertig. Nach Kevin schaute sie nicht noch einmal.

Kevin schlief noch. Er verschlief die ersten beiden Schulstunden. Als er dann langsam erwachte, schien die fahle Sonne in sein Zimmer. Er knurrte und drehte sich noch einmal um. Dann schaute er erst auf sein Handy nach der Uhrzeit. Er stöhnte und reckte sich, lauschte, aber natürlich war es still im Haus. Er schickte Lukas eine Nachricht und fuhr ins Zentrum. Sein bester Freund tauchte kurz nach elf Uhr auf.
„Und, schon was vor?“ fragte er und knetete unternehmungslustig seine Hände.
„Weiß nicht, hab kein Bock auf Schule.“
„Bist auch schon gesucht worden.“
„Lass mal was zu essen holen. Gucken wie hoch das Wasser am Stau ist.“
Lukas überlegte. „Hab kaum Geld.“ Dann grinste er. „Darf mich halt nicht erwischen lassen.“
Kevin kapierte. Sie schlugen verschwörerisch ihre Fäuste aneinander.
In dem kleinen Discounter versteckten sie sich vor den klatschsüchtigen Nachbarinnen und suchten sich ihre Sachen zusammen.
„Mist“, sagte Lukas auf einmal.
„Was ist?“
„Der Ladendetektiv. Hier, bezahl für mich, okay?“
Er drückte Kevin seine Sachen in die Hand, der sie fast fallen ließ und rannte hakenschlagend zum Ausgang, stieß mit einem übervollen Einkaufswagen zusammen und hob ein paar Teile auf, die heruntergefallen waren, und dann war er verschwunden.
Kevin zuckte zusammen, als eine Hand auf seiner Schulter landete. Drehte sich langsam um.
„Na, wen haben wir denn da? Bist mit Lukas befreundet, was?“
Kevin schluckte und rührte sich nicht.
„Ist das ein Problem?“
Der Detektiv sah ihn an wie ein Insekt. „Gib’s her.“
„Was soll ich hergeben?“
„Was ihr geklaut habt.“
„Ich hab nix geklaut, ehrlich! Ich wollte gleich zur Kasse!“
„Zeig mal das Zeug.“
Kevin lud alles auf dem Deckel einer Kühltruhe ab. Der Detektiv durchsuchte die Sachen. Richtete seinen scharfen Blick auf Kevin, der sich immer unwohler fühlte.
„Hat Lukas dir gesagt, dass er hier nicht rein darf?“
Kevin nickte. „Ihm war’s egal.“ Er zögerte. „Kann ich gehen? Ich hab nix gemacht, ehrlich!“
„Dreh mal deine Taschen um.“
Kevin gehorchte. Inzwischen hatte sich eine Traube von Frauen um sie geschart. Der Ladendetektiv kam gerade zu dem Schluss, dass Kevin tatsächlich einfach nur einkaufen gewollt hatte, als sich eine Frau durch die Menge schob.
„Lassen Sie mich sofort durch! Das ist mein Sohn!“
Kevin stöhnte auf und stützte sich auf der Kühltruhe ab, den Kopf in den Händen vergraben. Carina packte ihn am Arm.

Erst als sie in ihrer Wohnung vor zwei Bechern Schnellkaffee saßen, sagte Carina ihm was sie von seiner Aktion hielt.
„Ich bin wirklich enttäuscht von dir.“
„Ja Mama.“ Er verdrehte die Augen.
„Lass das. Willst du mir dazu nicht noch was sagen?“ fragte sie scharf.
„Meine Idee war das nicht, und ich wollte nix klauen!“
„Kevin“, sagte Carina.
„ich hatte nur die Idee zu schwänzen, hatte ja eh verpennt.“
Carina wartete. Kevin trank wütend seine Becher aus.
„hab ihn halt gefragt, ob wir zum Stau wollen.“
Er schielte zur Seite, versuchte die Reaktion abzuschätzen.
„In Zukunft passt Lucy auf dich auf“, verkündete Carina.
Kevin sah sie entsetzt an. „Mama, bitte nicht!“
„Was für ein Problem hast du? Wenn du nicht zur Schule gehst, muss ich Lucy ja darum bitten!“
Er riss sich zusammen. Wenn er so tat, als würde er das einsehen, hatte er auch schneller wieder seine Ruhe.
„Was ist mit Lukas?“
„Ich habe vorhin seine Eltern angerufen.

Martin benahm sich abends merkwürdig.
„Hau ab und geh joggen oder sowas!“ herrschte Carina ihren Mann an. Sie hatte ihm gerade von Kevins Vormittag erzählt und regte sich jetzt auch noch darüber auf, dass Martin stoisch zuhörte und sogar lachte.
„Passt dir was nicht?“
„Deine Laune passt mir nicht! Und am besten nimmst du deinen Sohn gleich mit!“
„Der ist deine Sache.“
Carina nahm ihm das Bierglas weg und stellte es mit in den Geschirrspüler.
„Was soll das denn?“ rief er.
„Ich hab’s doch gesagt, verschwinde! Du verpestest mit deiner Laune die Luft!“
Er drehte sich um und verließ wortlos die Küche. Verdammte Kuh. Manchmal ärgerte er sich so über seine Frau, dass er über Scheidung nachdachte. Es waren immer dieselben Kleinigkeiten. Das weggeräumte Glas, der aufgeräumte Tisch in seinem Hobbyraum, wenn sie nur geputzt hatte, wie sie sagte, die Störungen, wenn er seine Ruhe wollte, der mangelnde Sex. Dazu kamen zwei Kinder in der Pubertät und knapp darüber. Ihn nervte alles kolossal. Er loggte sich an seinem PC unten im Keller ein und ging auf die Seite mit den Lottozahlen, bevor er World of Warcraft öffnete. Das hier hatte er nicht einmal seiner Frau erzählt. Er spielte seit Jahren Lotto, während Carina jedem, der es hören wollte verkündete, ihre Familie spiele kein Lotto. „Für so etwas ist kein Geld da“, sagte sie jedes Mal. Martin saß dann neben ihr und schwieg dazu.
Er rief die Ergebnisse der aktuellen Ziehung auf und verglich sie mit seinem Lottoschein. Sein Herz klopfte. Oben rief Carina nach Lucy. Kevin war mal wieder verschwunden oder er saß in seinem Zimmer. Martin glich die Zahlen mehrfach ab. Es gab keinen Zweifel. Er grinste breit, sprang auf und ging auf und ab, konnte gerade noch einen triumphierenden Schrei unterdrücken. Er wollte nicht, dass seine Familie davon aufgescheucht wurde. Was dann passierte, mochte er sich gar nicht ausmalen. Er hatte gewonnen. Soviel Geld, dass sie sich erstmal keine Sorgen mehr machen mussten.
Zur gleichen Zeit saß Carina im Wohnzimmer vor dem Fernseher und sah die Nachrichten. Sie starrte ungläubig auf die Wetterkarte, als sie kam und hörte die Worte, mit denen vor einem Sturm gewarnt wurden. So schlimm konnte es überhaupt nicht werden, wie da stand.


5. Dezember, Donnerstag
Lucy zuckte nur mit den Schultern. Kevin stieß die Faust in die Luft und rief „Cool!“, als sie erfuhren, dass die Schule am Tag vor Nikolaus ausfiel.
„So ein Quatsch“, sagte Martin. „Wir gehen ja schließlich auch zur Arbeit.“
„Das ist nicht dasselbe“, sagte Lucy und knabberte an ihrem Toast.
„Iss richtig“, sagte Carina.
„Ich esse richtig!“
„Du willst mir doch nicht erzählen, dass das kleine Eck da reicht?“
„Mama, ich frühstücke nie richtig, das weißt du auch!“
„Und du weißt genau, dass der Arzt gesagt hat, dass du mehr essen musst, damit du nicht ständig umkippst!“
Bevor er um seine Meinung gebeten wurde, stand Martin auf. „Ich fahre jetzt zur Arbeit. Mit euren Problemen habe ich nichts zu tun.“
„Ja, überlass sowas immer nur mir! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich diese Kinder gar nicht erst bekommen, oder zumindest nicht mit dir!“
„Schön. Ich fahre jetzt zur Arbeit. Vielleicht bist du ja wieder normal, wenn ich heute Abend nach Hause komme.“
Er warf die Küchentür hinter sich zu. Auf dem Tisch klirrten die Tassen.
„Total krass!“ sagte Kevin, der aus seinem morgendlichen Koma erwacht war. „Ich find‘s geil, wenn ihr euch streitet!“
„Ach ja? Schön, dass du dich amüsierst!“ Carina stand auf und begann mit lautem Geklapper den Tisch abzuräumen. „Anstatt hier rumzuhängen und das Kino anzusehen, kannst du auch mal was tun! Du bleibst heute doch sowieso zu Hause!“
„Wer sagt das? Ey Mann, ich hab frei, schon vergessen?“
„Ich geh jedenfalls nicht raus bei dem Wind“, erklärte Lucy und rührte in ihrem Kaffee. „Ich ruinier mir doch nicht meine Haare!“
„Oh Mann, du bist SO ein Perlhuhn“, stöhnte Kevin.
„Besser als ein Nerd zu sein, der eh nie ne Freundin haben wird!“ konterte seine Schwester.
„Okay, ihr beiden, raus hier.“ Carina reichte es. Sie warf einen hektischen Blick auf die Uhr und packte ihre Sachen.
„Stellt nichts an.“
Dann verließ sie das Haus.
Lucy holte ihr Smartphone aus der Tasche und checkte die Nachrichten.
„Oh Mann, guck dir das hier mal an! Das glaubst du nicht!“
Die Geschwister lasen die Meldungen über den Sturm, der Großbritannien heimsuchte und jetzt direkten Kurs auf das Festland nahm. Sie warfen unwillkürlich einen Blick aus dem Küchenfenster. Die Bäume in der Straße bogen sich, letzte Blätter wurden von den Zweigen gerissen und leichtere Gegenstände wirbelten über den Asphalt.
„Windstärke 12“, las Lucy vor. „Wow, guck dir das an, Windgeschwindigkeiten von 140 Stundenkilometern! So schnell darf man ja manchmal nicht mal auf der Autobahn fahren!“
„Hat was“, sagte Kevin.
„Also, dann kann ich ja mal mit meinen Mädels chatten“, sagte Lucy. „Ich gehe heute jedenfalls nicht raus.“
„Ja ich weiß schon. Wegen deiner Frisur.“
Kevin stand auf. „Ich bin dann mal weg.“
„Mach was du willst.“ Lucy verspürte keine Lust auf ihren Bruder aufzupassen.
Kevin zog sich feste Schuhe und einen dicken Pullover an. Dann verließ er das Haus.

Später am Vormittag holte Lucy die Post herein. Sie ging den Stapel durch und sortierte ihn. Die Werbeblätter kamen ins Altpapier. Die Briefe an ihren Vater auf den Teller vor seinem Hobbyraum. Die Briefe an ihre Mutter auf den Teller im Wohnzimmer. Heute war ein Brief an ihren Vater dabei. Von der Lottogesellschaft. Das konnte nur Werbung sein. Niemand in der Familie spielte Lotto. Sie wussten alle, was die Mutter davon hielt. Trotzdem hatte der Vater jetzt einen solchen Brief bekommen. Sie legte ihn achselzuckend auf seinen Briefstapel.
Der Wind heulte um die Ecke, ließ die Fensterscheiben erzittern und auf der Straße krachte etwas gewaltig. Lucy rannte zum Fenster und riss es auf, hielt den Fensterflügel nur mit Mühe fest und lehnte sich hinaus. In dem Moment krachte es ein zweites Mal.
Auf der Straße war der Teufel los. Leichte Plastik- und Holzteile wirbelten durch die Luft, die Bäume bogen sich, Äste fegten über den Gehweg und nicht weit entfernt war die Straße blockiert. Die alte Eiche, die vor dem Haus mit den blauen Ziegeln stand, war umgekippt. Die Autos stauten sich, irgendwo quietschten Bremsen, es krachte erneut. Und dann flog ein Ziegel vom Dach gegenüber direkt auf Lucy zu. Sie schrie auf und duckte sich. Der Ziegel schoss durchs Fenster und landete auf dem Boden.
„Scheiße!“ Sie starrte auf den Ziegel, auf das Fenster und schloss es. Immerhin war die Fensterscheibe noch heil. Sie schnappte sich ihr Smartphone und fragte auf Facebook, wer schon Probleme mit dem Sturm hatte. Dann las sie die neusten Nachrichten. Die Wetterwarnungen wurden immer ernster.

Kevin rannte über die Straße, er entkam knapp einem Metallschild, das vorher vor einem Geschäft gestanden hatte und nicht rechtzeitig gesichert worden war. Seine Kumpels waren schneller gewesen. Sie standen schon auf der anderen Straßenseite.
„Fuck, was war das denn?“
„Oh Mann, bin fast abgekratzt wegen so einem Schild!“ Er keuchte. „Lucy hat gesagt, sie will nicht raus wegen ihren Haaren.“
Die anderen lachten los.
„Oh Mann, das kann ich mir denken!“
„Shit, runter!“
Sie warfen sich auf den Boden. Als sie wieder aufschauten, lag direkt vor ihnen ein zerbeulter leerer Müllcontainer.

„Wo ist Kevin?“
Carina holte Luft und atmete langsam wieder aus. Ruhig bleiben, befahl sie sich. Lucy sollte auf ihren Bruder aufpassen. Aber rund um die Uhr ging das nicht.
„Keine Ahnung.“
„Und warum ist dein Vater noch nicht da?“ Carina setzte den Einkaufskorb auf dem Tisch ab und begann hektisch in ihrer Handtasche zu wühlen.
„Mama!“
Und dann entdeckte Carina den Ziegelstein.
„Was ist das denn?“
Lucy hatte überhaupt nicht mehr an den Ziegel gedacht. Sie war aus der Küche geflüchtet, nachdem sie das Fenster geschlossen hatte.
„Der ist hier reingeflogen.“
Carina sah sie ungläubig an.
„Wirklich! Warum sollte ich denn mit Dachziegeln werfen? Spinnst du?“
„Und wie kommt der Ziegel hier sonst rein?“
„Durchs Fenster!“
Carina drehte sich um. „Das Fenster ist heil.“
„Es stand ja auch offen, weil ich rausguckte“, sagte Lucy und sprach jetzt gefährlich leise.
„Hinten ist die Eiche umgefallen. Weißt du, was für einen Krach das gemacht hat?“
„Und wieso ist Kevin nicht hier?“
„Hätte ich ihn etwa festhalten sollen? In seinem Zimmer einschließen?“
„Okay. Dann steh hier nicht so rum, sondern räum das weg und dann kannst du Abendessen machen!“
„Und was machst du?“
„Ich gehe aus. Ich bin mit meinen Freundinnen verabredet.“
„Na danke. Und mir lässt du den Rest übrig, was?“
Lucy verließ die Küche und knallte die Tür zu.
Kevin kam so rechtzeitig, dass er von Lucy verdonnert wurde, die Küche wieder aufzuräumen. Als Lucy später nachschaute, war natürlich nichts getan. Und ihr Vater war immer noch nicht da. Sie räumte flüchtig auf und verzog sich wieder auf ihr Zimmer. Ihr Fenster war fest verschlossen.

„Und wo warst du?“ fragte Carina, als sie am späten Abend nach Hause kam und ihren Gatten im Wohnzimmer antraf. Er deutete auf die Couch.
„Setz dich mal hin.“
„Ich will mich nicht setzen. Wo warst du?!“
„Genau das will ich dir ja erzählen, aber ich will, dass du dich hinsetzt!“
Carina schmollte. Sie nahm Platz und fing an, ihre Fingernägel zu kontrollieren. Ein Besuch im Nagelstudio war mal wieder fällig. Und ein Besuch beim Friseur. Das konnte sie eigentlich gleich nächste Woche machen.
„Kannst du mich mal ansehen?“
Sie hob genervt den Kopf.
„Dieser Orkan“, begann er.
„Der nervt“, sagte Carina. „Hoffentlich fliegt uns nicht das Dach weg.“
„Also, wenn du das so nennst…“ Er stockte.
„Was ist passiert?“ fragte sie scharf.
„Unser Wagen ist Schrott. Da ist ein Baum draufgefallen.“
„Das ist ein Witz, oder?“
„Nein. Siehst du?“ Er zog sein Smartphone hervor und zeigte ihr die Fotos, die er von dem Auto gemacht hatte, bevor es der Abschleppdienst mitnahm.
„Toll. Wirklich gut gemacht! Und was denkst du jetzt, wie wir unsere Termine schaffen sollen, ohne Wagen?“
Er grinste. „Das weiß ich ganz genau.“
„Da bin ich aber gespannt.“ Jetzt war sie richtig sauer.
Er zog den Ausdruck von der Lottoseite hervor und legte sie triumphierend vor ihr auf den Tisch.
„Ich habe im Lotto gewonnen!“
„Du spielst Lotto?“
„Schon lange“, sagte er. „Hey, hat doch geklappt oder?“
„Ich habe jedem. JEDEM! erzählt, dass in unserer Familie kein Lotto gespielt wird, dass wir hart arbeiten und unser Geld zu schade für sowas ist und jetzt legst du mir diesen Wisch hin?“
„Jetzt schau ihn dir doch mal genau an!“
„Nein. Es interessiert mich nicht. Steck ihn dir sonstwo hin. Und lass ihn verfallen. Und sprich nicht drüber!“
„Und ob ich ihn einlösen werde. Wir haben fünfhunderttausend gewonnen. Fünf-hunderttausend!“
Sie riss ihm den Ausdruck aus der Hand und starrte auf die Zahl.
„Verdammt“, sagte sie. „Wie krass ist das denn?“
Er lächelte, immer noch zurückhaltend und dann grinste sie breit, fing an zu lachen und lachte und hörte überhaupt nicht mehr auf.
„Wir haben Geld!“
Ihr Sparkonto war gefüllt, aber es reichte nur für das nötigste. Ein neuer Wagen? War nicht drin.
„Den Kindern erzählen wir das nicht“, sagte Carina. „Wie gesagt, ich will nicht, dass die Nachbarn anfangen zu reden. Und unsere Freunde und Kollegen. Wenn die Kinder das erstmal wissen, ist es bald in der ganzen Stadt rum.“
„Gut“, sagte Martin. „Den Kindern erzählen wir es nicht.“
„Wir sind reich!“ wiederholte Carina und sah glücklich aus.
Draußen heulte weiter der Sturm.

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