Schall und Rauch 2
von Sabine Herzke (melody)

 

1. Woche

6. Dezember, Freitag
Lucy wachte vom Kaffeeduft auf. Sie versuchte herauszufinden, was daran verkehrt war, bis sie auf den Wecker sah. Neun Uhr. An einem Freitag. Es war überhaupt alles verkehrt. Sie hatten immer noch schulfrei. Der Landkreis konnte das nicht verantworten, wie er sagte, da noch nicht klar war, was für Schäden entstanden waren. Kevin hatte sich wie ein Gorilla aufgeführt, als er am Abend vorher hörte, dass es ein richtig langes Wochenende geben würde.
Lucy rekelte sich noch einmal träge, bevor sie aufstand. Der Wind heulte noch genauso um die Häuser wie am Abend zuvor. Sie öffnete ihr Fenster und checkte den Garten. Er war von Ästen und den letzten Blättern übersät, die noch an den Bäumen gehangen hatten. Gartenwerkzeuge waren über den Rasen geweht, ein Fahrrad umgekippt, die Gartenstühle, die Martin längst reinbringen wollte, klebten am Gartenzaun. Im Badezimmer hörte es auf zu rauschen. Eine Tür klappte. Lucy stand auf und ging unter die Dusche um richtig wach zu werden. Sie musste einfach wissen, warum ihre Eltern noch zu Hause waren.
„Guten Morgen.“
„Morgen.“ Ihre Mutter stellte gerade die Teekanne auf den Tisch und schaute Lucy irritiert an.
„Warum bist du denn an einem freien Tag so früh auf? Und schon fix und fertig?“
„Ach, ich wollte wissen, warum ihr noch zu Hause seid“, erwiderte sie beiläufig. „Und? Sind den Läden Bäume aufs Dach gefallen und ihr habt keine Arbeit mehr?“
„Lucy!“
Das war ihr Vater.
„Was denn? Ich seh doch, wie das da draußen aussieht!“
Ihre Augen leuchteten auf, als sie das frische Gebäck sah. „Du warst ja sogar beim Bäcker.“
„Junge Dame…“
„Warum seid ihr denn nun zu Hause?“
„Ich bleibe nicht lange, sie haben mich zur Arbeit am Deich eingeteilt“, sagte Martin.
Lucy hatte vom Brötchen abgebissen und den Mund voll.
„Warum?“
„Mach den Mund leer!“
Lucy sah ihre Mutter böse an.
„Zieh dir alte Sachen an und eine Regenjacke und Gummistiefel – du hast doch noch welche?“
Lucy nickte widerwillig.
„Und dann kommst du mit an den Deich und hilfst uns.“
Lucy hatte den Mund wieder leer. „Ganz bestimmt nicht!“ rief sie entsetzt.
„Ich finde, das ist eine gute Idee“, sagte Carina. „Und Kevin kann auch mitgehen. Dann kommt er nicht auf irgendwelchen Blödsinn.“
„Mama!“
„Ich mach nie Blödsinn.“
„Guten Morgen“, sagte Carina spitz.
Kevin schlurfte in Shorts und ausgeleiertem T-Shirt in die Küche und gähnte.
„Wieso seid ihr noch hier?“
Martin musterte ihn genervt.
„Neugierig bist du gar nicht, was? Und was hast du heute vor?“
„Abhängen. Ist doch geil, dass wir schon wieder frei haben, was?“
„Schön. Du hast also nichts vor. Du kannst dir gleich nach dem Frühstück feste Kleidung anziehen und mich zum Fluss begleiten.“
„Nee.“
Damit war das Thema für ihn erledigt. Martin schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Du kommst mit. Das ist Mein letztes Wort!“
Lucy grinste.
„Was lachst du so?“
„Ich muss auch“, sagte sie.
„Echt?“ Kevin schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. „Ich komm mit“, sagte er.
Martin und Carina wechselten einen Blick. So einfach war es also, die Kinder zu etwas zu bringen, etwas, das sie schon lange nicht mehr geschafft hatten.
„Und, warum bist du noch zu Hause?“ fragte Lucy sie.
Carina lächelte sie an. „Die Firma hat mich gebeten Überstunden abzubauen“, sagte sie. Ihr Herz klopfte. Sie belog die Kinder nicht gern, aber ganz falsch war es ja nicht einmal. Sie hatte vorhin im Geschäft angerufen und eine wilde Geschichte wegen der Sturmnacht erzählt und sofort den Tag freibekommen.

Erstaunlich viele Teenager waren am Flussufer, schleppten Säcke, schaufelten Sand und räumten auf. Und ständig machten sie Fotos oder filmten sich gegenseitig auf der Deichkrone. Lucy schimpfte auf ihren ignoranten Vater und versuchte sich vor dem Typ aus dem Sägewerk, auf den sie einen Blick geworfen hatte nicht zum Affen zu machen. Von ihren Freundinnen war nicht eine einzige am Deich. Sie schwitzte unter ihren Klamotten, schob fluchend die Schubkarre den Deich hinauf und kippte die Sandsäcke da ab, wo sie gebraucht wurden und drehte dann gleich wieder um.
„Hey Supergirl!“
Sie zeigte dem Kerl den Finger ohne hinzusehen und packte die nächsten Säcke auf die Karre. Als sie das nächste Mal unten ankam, war er da. Hielt einen Becher in der Hand und es sah aus, als könnte ihm der Sturm und Regen nichts anhaben.
„Willst du einen Kaffee?“
„Was?“
„Ob du einen Kaffee willst?“
Sie stellte die Karre ab und stapfte zu ihm rüber. Er reichte ihr den Becher, den er in der Hand hielt und aus dem es dampfte. Sie sog den Kaffeeduft ein und lächelte selig.
„Du hast mich gerade zum Teufel geschickt“, sagte er, „und jetzt nimmst du Kaffee von mir an?“
Sie schenkte ihm einen Augenaufschlag und lächelte zart.
„Habe ich das?“
„Mir den Mittelfinger gezeigt?“
„Ich muss dich wohl verwechselt haben.“
Er schüttelte den Kopf.
„Soso. Warum bist du hier?“
„Ach, mein Alter .. Er fand, es wäre gut für mich.“
Er lachte und musterte sie. „Du machst dich gut.“
Sie lächelte und zog sich den Schal über ihre brennenden Wangen. „Danke. Ich muss dann wohl mal wieder was tun.“
„Nichts zu danken. Hey. Wie heißt du?“
„Lucy“, sagte sie.
Er hielt ihr die Hand hin. „Hallo Lucy. Ich bin Tim.“
Sie lächelte. „Hallo Tim.“
Schweigen. „Ich geh dann mal wieder…“
„Man sieht sich.“
Lucy fehlten auf einmal die Worte. Sie lächelte nur. Tim fotografierte sie für ihre Freundinnen.

Kevin konnte nicht mehr. Fünf Stunden lang schleppte er jetzt schon Säcke und packte sie dahin, wo die Männer sie haben wollten. Was für eine beschissene Arbeit. Gleichzeitig sah er, wie das Wasser im Fluss stieg und gegen die Deichwand schlug. Er konnte sich nicht erinnern, den Fluss schon einmal so gesehen zu haben. Seine Freunde schufteten an einem anderen Abschnitt. Sie hatten kaum Zeit mal miteinander zu reden, zu simsen oder Fotos zu machen. Er verfluchte seinen Vater, der auf so eine Idee gekommen war. Für ihn gab es keinen Kaffee von jemandem, der meinte, dass er eine Pause gebrauchen konnte. Es wurde schon fast dunkel, als Lukas zufällig in seiner Nähe am Schleppen war.
„Hey.“
„Hey.“
Sie blieben kurz stehen, wischten sich über die schweißnassen Stirnen. Kevin keuchte atemlos.
„Hast du noch Bock?“
„Nee.“
Sie starrten auf die Wellen.
„Ich weiß, was wir machen.“
„Und was?“
„Hier sind doch genug Leute. Wir gehen in den Wald!“
Lukas grinste breit. „Das ist mal ‘ne Idee. Lass uns abhauen!“
Sie dachten nicht daran, ob sie erwischt werden könnten, so kurz nach der Sache mit dem Discounter.
Sie beobachteten die Männer und als gerade alle auf der anderen Seite des Deiches beschäftigt waren, gingen sie los, stemmten sich gegen den Wind. Entfernten sich Schritt für Schritt. Als sie jenseits der Deichstraße ankamen, drehten sie sich um. Die Dunkelheit kam schnell. Sie waren allein auf der Straße. Der Wind trug ihnen ab und zu Gesprächsfetzen zu, abgehackte Rufe der Deicharbeiter. Keiner folgte ihnen.

Der Wald umschloss die kleine Stadt von drei Seiten, die vierte Grenze war der Fluss. Der Wald hörte im Westen wie abgeschnitten auf. Dort wuchs im Sommer Getreide und Mais und die Landstraße führte dort in die Stadt.
Die Jungs mussten laufen. Der Bus fuhr nicht, die Straßen waren immer noch voller abgebrochener Äste und Trümmerteile und sie hatten ihre Räder zu Hause gelassen.
„Scheißidee“, keuchte Kevin irgendwann.
„Sollen wir umdrehen?“
„Wir können auch nach Hause gehen.“
„Ja klar, um uns dann wieder zum Deich schleifen zu lassen.“
Sie lachten. Der Wald lag jetzt vor ihnen. Es dauerte nicht mehr lang bis zur Dämmerung.
„Okay, wer geht vor?“
Der Witz dünn und das wussten sie beide. Eigentlich schissen sie sich vor Angst in die Hosen. Sie gingen los.

Am Abend wurden die Hilfsmannschaften am Deich abgelöst. Martin hatte eine heulende Lucy im Schlepptau, die ihn wild beschimpfte und Carina gar nicht erst begrüßte, sondern direkt in ihrem Zimmer verschwand, wo sie sich einschloss.
„Was ist denn mit der los?“
„Die Deicharbeit ist nichts für Damen wie sie, was dachtest du denn?“ schnaubte ihr Mann. „Sie muss jetzt erstmal den ganzen Dreck loswerden und ihre Fassade wieder herrichten. Und dann wird sie vermutlich stundenlang mit ihrer besten Freundin telefonieren und sich darüber auslassen, was sie für einen schrecklichen Vater hat.“
Carina lachte.
„Du bist ja genauso schrecklich“, schob er hinterher.
„Und du weißt bestimmt, wo dein Sohn ist?“
„Ist er nicht hier?“
„Nein“, sagte sie spitz. „Er ist nicht hier. Sag bloß, dass du ihn mitgenommen hast und dann hast du nicht weiter drauf geachtet, was er macht?“
„Er ist kein Kleinkind!“
„Er ist ein Fünfzehnjähriger, der drauf pfeift, wenn ihm was gesagt wird, wenn man nicht aufpasst, dass er es tut!“
„Ich hab den anderen Männern gesagt, sie sollen ihn einarbeiten und im Auge behalten, was willst du denn noch?“
„Kannst du mir sagen, wo er ist? In diesem Sturm?“
Sie verschränkte ihre Arme und starrte ihn an. Er richtete sich auf und starrte zurück.
„Hau ab. Zieh dir die Schuhe wieder an und such ihn!“
Martin atmete tief ein und aus. Ihm fiel kein Argument mehr ein. Er hätte sie nie hinausgeschickt um Kevin zu suchen.
Es klingelte an der Tür.
„Ich geh schon!“ rief Lucy, riss ihre Zimmertür auf und stürmte in den Flur. Sie hatte sich immerhin umgezogen und trug ihre typische, für die Jahreszeit zu knappe Kleidung und sich die Haare ausgebürstet.
„Wolltest du nicht duschen gehen?“ fragte Carina spitz. Lucy achtete eigentlich extrem auf ihr Äußeres.
„Ja, gleich!“ Sie riss die Tür auf und lächelte breit. „Hallo…“
Vor der Tür stand Thomas Meyer.
„Ist Lukas bei euch?“
„Nein“, sagte Lucy. Sie öffnete die Tür weit. „Kommen Sie doch herein.“
„Thomas, was machst du denn hier?“
„Lukas ist verschwunden. Ich sag dir, wenn ich den erwische! Erst ignoriert er das Hausverbot vom Discounter und dann…“
Martin fiel ihm ins Wort.
„Kevin ist auch weg. Ich wollte gerade los und ihn suchen.“
„Was? Dann komm!“
Sie verließen das Haus. Draußen warteten ein paar Männer.
„Haben sie Andeutungen gemacht? Irgendeine Ahnung, wo sie sein könnten?“
„Am Deich waren sie nicht. Hier in der Stadt sind sie euch auch nicht begegnet?“
Kopfschütteln.
„Lukas sagte vor ein paar Wochen was davon, dass er mal im Dunkeln in den Wald will.“
„Im Dunkeln?“
„Ach komm“, sagte Herbert gereizt. „Wir haben in dem Alter doch genau den gleichen Unfug gemacht.“
Ein paar der älteren Männer nickten zustimmend.
„Also, auf in den Wald. Sorgt für Licht und wo ist der Förster?“
„Ich bin hier. Der Wald wird von einigen Leuten gesichert. Eigentlich hätten die Jungs da gar nicht ungesehen reinkommen können“ sagte er.
„Wenn die sich was in den Kopf gesetzt haben, schaffen sie das auch.“
Sie teilten sich auf und verstärkten die Mannschaften, die den Wald sicherten.
„Wir haben die Jungs nicht gesehen“, versicherten sie. „Wir haben den Wald unter Kontrolle!“
„Ganz offensichtlich nicht!“ sagte Martin scharf. „Sonst hättet ihr die Jungs doch längst erwischt!“
„Das hilft uns jetzt nicht weiter! Wir teilen uns in Gruppen auf und durchsuchen den Wald, soweit weg können sie ja nicht sein.“
Sie standen unentschlossen weiter rum. „Wo sollen wir denn anfangen?“ fragte der alte Meyer.
„Vater, überall gleichzeitig! Los los los!“ Lukas Vater nahm die Organisation in die Hand und teilte die Männer in Gruppen ein. Jede Gruppe wurde mit genug Licht ausgestattet, die Dämmerung kam jetzt schnell.

„Mist“, stöhnte Kevin.
Sie stolperten durch den Wald und hatten allmählich das Gefühl im Kreis zu laufen. Mitten im Wald gab es ein Funkloch. Ihre Smartphones hatten keinen Empfang mehr und selbst der eingebaute Kompass in Lukas‘ Handy funktionierte nicht mehr.
„Das war deine Idee, Mann!“
„Ja, aber du hast auch nix gesagt oder? Scheiße!“
„Vorsicht!“
„Was denn?“
„Lauf!“ brüllte Kevin.
Der Wind war die ganze Zeit laut gewesen, ständig brachen irgendwo Äste, die bis jetzt gehalten hatten und neben ihnen rauschte der Bach, der sonst ein kleines Rinnsal war und jetzt die Breite einer Gasse hatte. Lukas wusste nicht, was Kevin meinte, er stürzte seinem Freund hinterher ohne sich umzudrehen. Kevin sprang einen Erdbruch hinunter und landete einen Meter tiefer. Erst als er unten stand, traute Lukas sich umzuschauen.
„Scheiße“ keuchte er, als er sah, was da unterwegs war.
Sie waren den Baumstämmen nur knapp entkommen, die den abschüssigen Weg herunterrollten und dabei immer schneller wurden und mitnahmen, was ihnen in den Weg kam. Dahinter donnerte eine Schlammlawine den Weg abwärts.
Sie begrub drei Gärten unter sich und die Landstraße. Auf dem Feld daneben kam sie langsam zur Ruhe. Dann war Stille. Nur die Krähen schimpften und flogen über den Wald.

„Habt ihr das gehört?“ Die Männer erstarrten, als die Lawine sich durch den Wald schob.
„Das kam von der Landstraße! Los, wir müssen schauen, ob sie dort sind!“
Sie rannten, jeder so schnell er konnte. Sie stürzten, halfen sich auf und hetzten weiter, keiner wollte es aussprechen, dass die Jungen unter dem, was da den Berg runtergekommen war, begraben lagen.
„Hat hier jemand ein Telefon dabei? Könnt ihr nicht versuchen sie anzurufen?“
„Hier im Wald haben wir kein Netz!“
Sie näherten sich von allen Seiten der Stelle, wo die Lawine abgegangen war. Oben war klar, was passiert war, der Starkregen vom Vortag hatte den Boden weggespült. Der Sturm hatte die Bäume entwurzelt.
Sie stiegen den Hang hinauf und durchkämmten die Trümmerstellen.
„Hallo! Hallo! Hier sind wir!“
Sie saßen auf einem umgestürzten Baumstamm, kämpften sich hoch, als die Männer zu ihnen kamen und ihnen leuchteten. Lukas stützte sich auf Kevin.
„Was ist passiert?“ fragte Thomas.
Lukas verzog das Gesicht. „Wir sind vor der Lawine weggerannt. Bin gestolpert und umgeknickt.“
„Na, dann komm. Wir stützen dich. Hast Glück gehabt, dass das hier oben passiert ist.“
„Wieso?“
„Wir sind gerade von unten hochgestiegen. Weiter unten kommt man noch schwerer durch.“
„Mein Wagen ist in der Nähe“, sagte Jäger.
Kevin stolperte neben seinem Vater her. Sie schwiegen beide. Lukas wurde gestützt und folgte in einiger Entfernung. Jägers Wagen stand direkt an der Straße, da, wo die Lawine den Weg aus der Stadt heraus versperrte.
„Fahr mit ihm ins Krankenhaus“, sagte Meyer. „Ich gehe nach Hause und sage Elke Bescheid. Dann komme ich nach.“
Lukas wimmerte laut, als die Männer ihm in den Wagen halfen. „Mein Fuß!“
„So schlimm wird’s schon nicht sein. Steht ja kein Knochen raus“, brummte Jäger.

Carina schrubbte die Fliesen im Treppenhaus. Lucy kam die Treppe herunter und schlängelte sich um Putzeimer und Wischmopp herum.
„Wieso putzt du denn jetzt?“
„Putzen beruhigt“, schnappte Carina. „Solltest du auch mal probieren.“
„Sehr komisch“ sagte Lucy. „Außerdem muss ich jetzt wirklich ins Nagelstudio!“
„Warum denn das?“
„Weil ich mir da draußen am Deich bei dieser Scheiß Arbeit alle Fingernägel ruiniert habe! Das ist keine Arbeit für ein Mädchen!“
„Dann such dir einen Job und verdien Geld fürs Nagelstudio!“
Lucy warf die Tür zur Küche hinter sich ins Schloss. Carina seufzte und schrubbte weiter.

Spät am Abend kehrten Martin und Kevin heim. Lucy zappte sich durch die Fernsehsender, Carina räumte die Küche auf.
„Da sind wir wieder. Ich habe ihn.“
„Das war aber eine lange Suchaktion. Wo – warst du?“
Kevin zog den Kopf ein.
„Im Wald. Mit Lukas.“
„Was hattet ihr im Wald zu suchen?“
„Mama! Papa hat mich deswegen schon fertiggemacht, jetzt nicht auch noch du!“
„Ich habe das Recht zu erfahren, wo du dich rumtreibst!“
„Lukas hat einen Bänderriss im Fuß“, sagte Martin. „Die Jungs sind vor einer Lawine geflüchtet.“
„Um Himmels willen!“
„Jetzt reg dich nicht auf. Ist doch alles gut gegangen.“
Carina schnaubte.
„Kannst ja mit angeben, wenn die Schule wieder anfängt“, rief Lucy. „Dann hast du wenigstens wirklich mal was zu erzählen und musst dir keine Lügen mehr ausdenken!“
„Lucy!“
Kevin war in der Küche auf einen Stuhl gesackt. „Hab Hunger.“
Lucy ging betont langsam an der Küche vorbei. „Dann erzähle ich es halt allen.“


7. Dezember, Samstag
Als Kevin aufwachte, war es still in der Wohnung. Er war kein Frühaufsteher. Wenigstens am Wochenende ließen ihn seine Eltern ausschlafen.
Als er nach der Dusche durchs Haus ging, fand er niemanden. Aus dem Keller drang kein Geräusch. Seine Eltern schienen zu dem Großeinkauf unterwegs zu sein, den sie heute machen wollten. Nicht einmal Lucy war da. Ein Blick auf die Uhr. Fast elf. Er machte sich irgendwas zum Essen und dann verließ er das Haus.
Am Marktplatz traf er seine Freunde. Sie warteten auf ihn. Lukas war dabei, auf Krücken.
„Hey das Hinkebein ist ja auch wieder da!“
Er schlug ihm auf die Schulter. Die anderen gröhlten.
„Hast du nicht gesagt du hast ‘ne geile Idee?“ Sie sahen Alex an. „Ich weiß, was wir machen können. Leider ohne dich, Luke.“
„Wenn‘s lustig wird, verpass ich mal wieder alles.“
„Kannst dir ja hinterher alles anhören.“
„Ja geil. Ich setz mich hier mal hin okay? Ihr könnt mich dann ja wieder abholen.“

Sie machten sich auf in den Westen der Stadt.
„Wohin jetzt?“ Alex führte sie zu einer Bushaltestelle.
Sie fuhren mit der Linie Richtung Westbahnhof.
„Hehe, ich weiß, wo wir hinfahren!“ brüllte Kevin und schlug Alex auf die Schulter.
Mehrere Fahrgäste schauten sie irritiert an.
„Sei leise!“ zischte Alex. Er sah sich schnell um, aber als sie sich still verhielten, versenkten sich die Mitfahrer wieder in ihre Zeitungen und Smartphones.
Die anderen hatten keinen Schimmer, wovon Alex und Kevin redeten. Alex öffnete seinen Rucksack und ließ sie hineinsehen.
„Ist das das, was ich denke?“
„Ist es“, sagte Alex knapp, aber man hörte seinen Stolz heraus.
„Und du denkst, dass wir da draußen was machen können?“
„Absolut sicher.“
„Scheiße, das ist doch gefährlich. Und wenn sie uns kriegen?“
„Die kriegen uns nicht. Ich kenn mich aus.“
„Tagsüber?“
„Mann, gerade tagsüber! Nachts sind die da auf Streife und sehen jeden Lichtstrahl.“
Max rutschte unruhig auf seinem Platz und warf Blicke über die Schulter.
„Mach den Rucksack wieder zu. Sonst erwischt uns noch jemand, bevor wir da sind.“
Alex schloss den Rucksack. Sie schwiegen. Fuhren bis zum Busbahnhof, stiegen dort in die Linie um, die raus aus der Stadt ins Gewerbegebiet führte.
Der Busfahrer kannte seine Fahrgäste. Er musterte die Jungs misstrauisch.
„Aufräumen“ nuschelte Max. „Da is bei dem Sturm ne Menge kaputt gegangen.“
Der Busfahrer nickte und ließ sie passieren. Kevin schlug Max auf die Schulter. Sie waren angespannt. Alex schien der einzige Relaxte zu sein. Um diese Uhrzeit hatten sie den Bus fast für sich allein. Alex und Max spielten mit ihren Smartphones, Kevin holte seinen MP3-Player heraus und stöpselte die Welt draußen aus.
Sie stiegen irgendwo mitten im Zentrum aus, an einer unauffälligen Straßenecke, wo sie der Busfahrer vergessen würde. Schlenderten davon, scheinbar mit dem Ziel einer bestimmten Firma. Als der Bus fort war, änderte Alex die Richtung. Sie behielten ihr Tempo bei, drei Jungs auf dem Weg irgendwohin. Angestellte, die um diese Uhrzeit auf den Straßen unterwegs waren, schauten sie manchmal fragend an, aber auch sie hatten ihre eigenen Terminpläne.
„Da vorn ist es.“
Sie sahen die Häuser von weitem. Im dem relativ hellen Mittagslicht stachen sie aus den neuen oder zumindest gepflegten Fassaden der Firmen und Fabriken hervor. Um den Komplex herum war ein Zaun errichtet worden. Er war windschief und wirkte nicht mehr, als sollte er noch jemanden davon abhalten, das Gelände zu betreten. Totes Unkraut und wilde Büsche wucherten im Pflaster.
„Für diese Häuser interessiert sich keiner mehr“, sagte Alex. „Platz genug für uns.“
Als sie näher kamen, erkannten sie, dass die Wände gereinigt und neu übermalt worden waren.
„Sie kommen alle paar Monate her und machen sauber“, sagte Alex. „Sie hassen es, wenn wir das hier tun.“
Kevin grinste gemein. „Umso besser.“
„Wir sind nicht die ersten heute.“
Tatsächlich bewegten sich zwischen den Häusern im Schatten schwarz gekleidete Gestalten, die erste Umrisse aufsprühten, anfingen, Flächen auszufüllen, konzentriert arbeiteten. Als die Jungs in den Hof kamen, erstarrten sie.
„Alles okay!“ rief Alex. „Ich bin’s. Hab ein paar Freunde dabei.“
Sie blieben wachsam, entspannten sich aber wieder und begannen sich zu bewegen. schauten ihnen entgegen. Kevin wurde nervös.
„Wie sind die denn drauf?“
„Genauso wie ich. Wir haben alle kein Bock auf Besuch von den Bullen oder irgendwelchen Sicherheitsdiensten, verstehst du?“
„Ja, absolut“, sagte Max und schauderte.
„Wollt ihr jetzt kneifen? Ihr wisst jetzt, was wir hier machen. Ich hab’s euch vorhin erzählt. Ihr hättet noch gehen können.“
„Nein“, sagte Kevin. „Ist doch cool. Ich bleibe.“
„Also gut. Ich hab Mützen für euch dabei. Sollte uns jemand sehen, kann er keine Gesichter erkennen. Wenn ihr das regelmäßig machen wollt, besorgt euch Schals und Sonnenbrillen oder sowas. Neutrale Klamotten. Wenn euch einer sieht, ist das Mist, wenn ihr wegen irgendwelchen auffälligen Logos oder so dran seid.“
„Jetzt mach doch nicht so nen Stress, Mann.“
„Mach ich nicht.“ Jetzt zeigte sich, dass Alex der älteste von ihnen war. Er hatte das schon hinter sich, wichtige Regeln zu ignorieren, er wusste, dass er sie manchmal einhalten musste. Auch wenn es Regeln waren, die beim Gesetzesbrechen halfen.
Die anderen kamen näher. Man musterte sich, sie gaben sich die Hand. Keiner zeigte sein Gesicht. Max und Kevin waren keine von ihnen.
„Zeigt ihnen ein bisschen was.“
„Das musst du allein machen. Sie gehören nicht dazu.“
Alex und Zero veränderten ihre Haltungen. Bulle und Fish standen hinter Zero. Ihnen entging nichts.
„Vielleicht gehören sie aber bald dazu.“
„Dann unterhalten wir uns wieder. Du kennst die Regeln. Wer jemanden mitbringt, ist für ihn da.“
Zero hatte Recht. Alex gab sich geschlagen.
„Kommt mit.“ Er führte Kevin und Max zu einer Wand, die geschützt lag, an der das Licht gut war, wo sie aber von den drei anderen nicht gestört wurden.
Sie zogen sich die Mützen über. Alex öffnete seine Tasche und gab ihnen erste Tipps. Kevin griff sofort zu, nahm eine Spraydose, schaute aufmerksam zu, was Alex ihnen zeigte und testete es.
„Hammer.“
„Kommst du klar?“
„Jo Mann.“
Sie teilten sich die Wand auf. Max stand daneben. Er hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben und wippte auf den Fußballen.
„Willst du nicht mitmachen?“
„Nee… das ist nichts für mich.“
„Ach komm schon.“
„Nein, wirklich nicht. Ich kann ja Fotos machen.“
„Na gut.“
Alex und Kevin bearbeiteten weiter ihre Wand. Allmählich zeigten sich die Bilder in den Umrissen. Kevin benutzte die Spraydosen wie ein Alter.
„Hast du schon mal gesprayt?“
„Nee, nur so mal…“
„Was?“
„Halt mit Farben auf Papier. Mit Bleistift. Dachtest du, das erzähl ich? Dann heißt das ’die malende Schwuchtel‘ oder so.“
„Nee, hör auf, ist doch cool!“ Alex kam rüber und betrachtete das, was Kevin fertig hatte.
„Das ist krass. Du bist gut, Mann.“
Kevin versuchte sein Gesicht zu wahren. Das Grinsen verkniff er sich, hier, vor den Jungs. Alex verlor keine Worte mehr. Er kehrte zu seiner Wand zurück. Max fotografierte.
Kevin fühlte sich groß. Er dachte nicht an Gefahr, an Verbote. Er hatte ein Bild im Kopf, in dem Moment, in dem er die ersten Linien gezogen hatte. Innerhalb von Minuten bekam er ein Gefühl für die Spraydosen, für Abstand und Druck beim Sprayen. Er ließ locker. Entspannte sich und dachte an nichts Bestimmtes, während er die Flächen mit Farbe füllte.
„Scheiße, pack die Dose ein, kommt mit!“
Er wurde abrupt aus seinen Träumen gerissen, packte die Dose nicht in den Rucksack, sondern rannte blind hinter den anderen her, irgendwo hin zwischen die Häuser, aber sie schafften es nicht.
„Bleib stehen!“ Die Stimme gehörte nicht zu Alex und auch zu keinem der anderen Jungs. Sie gehörte einem Mann, der wusste, was er tat. Kevin rannte weiter.
„Bleib sofort stehen!“
Kevin drehte sich im Laufen um. Von seinen Freunden war keiner mehr bei ihm. Er geriet aus dem Takt. Der Mann hinter ihm erreichte ihn kurze Zeit später und riss ihn an der Schulter zurück. Kevin stolperte und fiel auf die Knie.
„Wer sind Sie?“
Er keuchte, heulte fast, hielt mühsam die Tränen zurück. Scheiße, er war kein Kleinkind!
„Sicherheitsdienst. Und wir warten jetzt mal schön auf die Polizei.“
Er half ihm hoch und führte ihn langsam zum Hof zurück, wo die anderen warteten. Offen-bar war keiner entkommen. Zero kämpfte gegen den Mann, der ihn festhielt, Bulle und Fish lehnten teilnahmslos an der Wand.
„Wo ist Max?“ fragte Kevin leise, als er zu Alex kam.
„Weg.“ Mehr sprachen sie nicht miteinander. Die Sicherheitsleute hatten Ohren wie Luchse.
Die Polizei brauchte nicht lang. Der Wind pfiff, es hatte zu regnen begonnen und jetzt, als sie gezwungen waren still zu halten und das Adrenalin weg war, fingen sie an zu frieren. Kevin war fast erleichtert, als er das Blaulicht sah.
Er leistete keinen Widerstand bei der Übergabe. Dachte daran, was seine Eltern sagen würden. Mit Alex und den anderen dreien gingen die Polizisten rüder um als mit ihm. Er war der erste, der im Wagen saß, konnte zuschauen, wie sie seine Freunde einsammelten.
Bulle trug sogar Handschellen. Er setzte sich neben Kevin, schaute stur aus dem Fenster und reagierte auf nichts.
Kevin begriff allmählich, dass es hier um mehr ging als um das Pech, erwischt worden zu sein.
Auf dem Revier wurden sie getrennt. Sie fragten ihn nach seinem Namen, seiner Adresse, Telefonnummer der Eltern. Sie fragten ihn aus. Was sie da gemacht hatten, warum er dabei gewesen war. Kevin schwieg. Er begriff auf einen Schlag, in welcher Lage er sich befand. Er war kein toller Typ. Nicht einmal bei den Jungs, mit denen er die letzten drei Stunden verbracht hatte. Vorgestern die Geschichte mit dem Discounter, gestern die Sache mit dem Wald und heute das hier. Wären sie nicht erwischt worden, wäre es gar nicht raus gekommen. Jetzt musste er das hier auch noch seinen Eltern beichten.
Er gab die Festnetznummer an und die Handynummer von seinem Vater. Allmählich zog sich sein Magen zusammen.

Der Anruf erreichte seine Eltern mitten im Elektronikmarkt. Es war laut, es war voll, Martin verstand kaum ein Wort von dem, was Kevin sagte.
„Wo bist du? Hast du völlig den Verstand verloren? Wir kommen.“
Er legte auf. Carina hatte ihn am Arm gepackt. „Was ist los?“
Martins Gesicht war knallrot vor Wut. „Er ist festgenommen worden. Sie haben ihn beim Sprayen im Gewerbegebiet erwischt.“

Kevin saß zusammengesunken in einem Verhörraum, als seine Eltern auf der Wache ankamen. Sie hatten einen Anwalt erreicht, der gleichzeitig mit ihnen ankam.
„Spinnst du jetzt total? Was sollte das?“ brüllte Martin, als er endlich zu seinem Sohn durfte.
„Herr Wolter, halten Sie sich zurück!“
„Kannst du nicht einmal versuchen, keinen Scheiß zu machen, wenn wir nicht da sind?“
Jetzt hielten ihn zwei Polizisten fest, während Carina Martin anschrie, ihren Sohn in Ruhe zu lassen und der Anwalt sich zwischen sie stellte.
„Sie gehen hier jetzt mal raus. Wir klären das! Fahren Sie nach Hause. Ich bringe Ihren Jungen, wenn wir hier fertig sind.“
An Einkaufen war jetzt nicht mehr zu denken. Sie fuhren nach Hause. Carina hatte das Steuer übernommen. Ihr Mann war viel zu wütend zum Fahren.

Kevin blieb bei der Polizei. Der Anwalt war an seiner Seite. Bevor ihn die Polizisten verhören konnten, forderte er ein paar Minuten, in denen er mit dem Jungen ungestört sprechen konnte.
Kevin war völlig fertig. Die Situation hatte ihn erledigt. Er beichtete dem Anwalt alles. Zwei Stunden später wussten auch die Polizisten alles. Kevin war nicht in der Lage gewesen zu schweigen und seine Freunde rauszuhalten. Die Polizei lobte ihn, er selber war am Boden, fühlte sich schlecht. Er schlich hinter dem Anwalt her.
„Ich kann nach Hause laufen.“
„Ich habe deinen Eltern versprochen, dass ich dich fahre und das werde ich tun.“
„Hey, Kevin!“
Kevin ignorierte den Ruf.
„Kevin!“ brüllte der Typ von der anderen Straßenseite.
Kevin drehte kurz den Kopf. Leon. Der sah, wie er auf dem Polizeiparkplatz in eine fette Karre stieg. Verdammter Mist.

„Was hast du dir dabei gedacht?“
Kevin stand vor seinem Vater und starrte an ihm vorbei an die Wand. Martin versuchte seit einer halben Stunde Antworten von ihm zu bekommen, aber Kevin hatte vollkommen auf stur geschaltet.
„Mann, Papa, jetzt lass ihn mal in Ruhe!“ Lucy konnte das nicht mehr mit ansehen.
„Hab ich dir erlaubt, uns zu stören?“
„Papa!“
Kevin drehte sich um und sah sie erschöpft und traurig an.
„Toll, jetzt fängst du auch noch an, oder was?“
„Nein“, sagte Lucy. „Papa, hör auf. Er kriegt doch noch genug Ärger.“
Kevin sah sie verdutzt an. Seine Schwester wollte ihm helfen.
Martin atmete schwer. Er hatte sich hinreißen lassen. Sein Sohn ein Krimineller.
„Wie oft haben wir dir gesagt, dass du nichts machen sollst, was verboten ist?“
Bla bla, dachte Kevin.
„Wir waren sprayen!“ schleuderte er seinem Vater entgegen. „Okay? Kunst! Kennste das Wort?“
„Das ist Sachbeschädigung!“ bellte Martin. „Freundchen, du wirst das alles abbezahlen.“
„Das müsst ihr erstmal.“
„Du weißt genau, dass wir dir das in Rechnung stellen.“
Carina ging dazwischen. „Schluss jetzt!“
„Misch dich nicht ein.“
„Kevin!“
Er war blass, ein krasser Gegensatz zu Martin.
„Papa hat Recht. Ich aber auch. Lasst mich in Ruhe.“
Er schob sie alle zur Seite und stampfte die Treppe rauf. Kurze Zeit später hörten sie den Schlüssel im Schloss seiner Zimmertür.

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5320 Beiträge veröffentlicht!