Schall und Rauch 4
von Sabine Herzke (melody)

 

3. Woche

13. Dezember, Freitag
„Ich bleibe lange weg“, sagte Carina beim Frühstück. „Unsere Firma hat heute ihre Weihnachtsfeier.“
„Super“, sagte Lucy. „Und du, Paps?“
„Bin verabredet“, sagte er.
„Und mit wem?“
Martin antwortete nicht. Er gab Carina einen flüchtigen Kuss.
„Bis morgen also.“
Er flüchtete aus der Küche. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss.
„Was hat er denn?“
Carina zuckte mit den Schultern. „Wer weiß das schon…“
„Habt ihr euch gestritten?“
„Musst du nicht los?“
Lucy warf einen Blick auf die Uhr. „Scheiße!“
Sie sprang auf, wand sich in ihren Mantel und schnappte ihre Tasche.
„Tschüs!“
Carina hatte es ebenfalls eilig. Sie packte ihre schicke Abendkleidung ein und fuhr los. Daran, nach Kevin zu sehen, dachte sie nicht.

Kevin war genauso schweigsam wie immer neuerdings. Lucy hatte es aufgegeben, ihn zum Sprechen bringen zu wollen. Aber an diesem Morgen war er besonders entspannt, pfiff schräg die Songs von seinem MP3-Player vor sich hin und schien mehr Schwung zu haben als sonst.
„Was ist denn mit dir los? Hast du heute Nachmittag ein Date?“ spottete Lucy.
„Sehr witzig.“
„Komm, sag schon.“
„Nee.“ Kevin blockte ab. Lucy kam nicht an ihn heran.

In der Klasse schob Alex eine Sporttasche in einen leeren Wandschrank und schloss die Tür.
„Hey Alex.“
Er richtete sich erschrocken auf. „Lucy.“
„Was ist da in der Tasche?“
Er richtete sich auf und stellte sich vor den Schrank. „Nichts.“
„Ihr wollt wieder los heute, stimmt’s?“ Ihr Blick nagelte ihn fest.
„Lucy, das geht dich nichts an.“
„Es geht hier um meinen Bruder, also geht mich das was an!“ Sie kam näher, versuchte an die Tasche zu kommen.
„Lucy, hör auf!“
„Was ist hier los?“
„Nichts.“ Er hatte blitzschnell ihre Arme losgelassen, Lucy hatte sich umgedreht, und es sah so aus, als unterhielten sie sich nur.
„Nichts“, wiederholte der Kanther, schaute von Alex zu Lucy, die Augen misstrauisch zusammengekniffen. „Wenn nichts ist, können Sie sich ja auch setzen, damit wir mit dem Unterricht beginnen können.“
Wehe du sagst was, sagte Alex‘ Blick, als er Platz nahm. Lucy zuckte mit den Schultern und machte ein harmloses Gesicht. War was?
Sie holten beide ihre Smartphones heraus und texteten an Kevin.

Bei dem hatte der Unterricht ein paar Minuten früher begonnen, weil die Lehrerin pünktlich war.
Das Piepen war laut genug und kam direkt in der Ankündigung der nächsten Physikarbeit.
„Lucy hat mich erwischt, wie ich die Tasche mit den Spraysachen in den Schrank gestellt hab. Wir fahren heute Mittag, egal was kommt!“
„Alex hat Sprayzeugs im Schrank. Ich sag dir, wenn du mit dem fährst, bist du dran!“
Kevin schüttelte den Kopf. „Oh Mann“, murmelte er.
„Wenn deine SMS so interessant sind, kannst du sie ja vorlesen“, sagte die Kaiser spitz.
Alles lachte.
„Nee, lieber nicht“, sagte Kevin und steckte das Smartphone mit roten Ohren zurück in die Tasche.
„Wer war das, dein Freund?“ stichelte Clara.
„Halt’s Maul.“
Sie grinste. „Ich wusste doch, du stehst auf Jungs.“
„Blödsinn.“ Kevin wurde noch röter.
„Hört auf“, sagte die Kaiser. „Clara, hol lieber deine Hausaufgaben raus. Und du auch, Kevin.“
Er war nochmal davongekommen.

Alex und er mieden sich in den Pausen. Er verbrachte die Zeit mit Lukas und Max. Für ihn war Max immer noch ein Freund, auch wenn er nicht bei der Sprayer Community mitmachen wollte.
Nach der achten Stunde hatten sie alle unterrichtsfrei. Trafen sich in einer abgelegenen Schulhofecke. Alex kam als letzter.
„Deine verdammte Schwester“, knurrte er.
„Warum?“
„Sie hat versucht, mich daran zu hindern, die Tasche aus dem Schrank zu holen. Sie hat gesagt, wenn ich dich da reinziehe, sagt sie das euren Eltern.“
„Fuck.“
Alex lachte. „Hast etwa Schiss vor ihr?“
„Nee, natürlich nicht. Aber es nervt.“
„Ja, is klar.“
Ihre Handys summten kurz nacheinander. Schauten drauf.
„Lucy“, sagten sie gleichzeitig.
Lukas, immer noch auf Krücken, war zumindest in die Ecke mit gekommen, auch wenn er noch nicht mitgehen konnte zum Sprayen.
„Was ist mit euch denn los?“
„Die Zicke dreht langsam durch, was mich angeht“, sagte Kevin. „Sie will mich davor bewahren, in Schwierigkeiten zu geraten. Dabei spinnt sie doch selber, oder was denkst du, Alex?“
„Sie ist mit diesem Tim zusammen“, sagte Alex. „Sie spinnt definitiv.“
„Bist etwa selber in sie verknallt?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“
„Arsch.“
„Wollt ihr los oder wollt ihr euch erwischen lassen?“ fragte Lukas.

Eine halbe Stunde später erreichten sie den Bauhof, in dem sie dieses Mal sprayen wollten. Sie waren auch dieses Mal nicht die ersten.
„Kenn ich nicht“, sagte Alex auf Kevins Frage, wer das sei.
Sie musterten sich. Die anderen kamen zum Schluss, dass von Alex und Kevin keine Gefahr ausging.
„Lass uns dahinten hingehen“, sagte Alex. „Da kommen wir denen nicht in die Quere. Und die uns auch nicht.“

„Wo ist Kevin?“
Carinas erste Frage, als Lucy nachmittags aus der Schule kam.
„Mama!“ Lucy blieb vor Carina stehen, verschränkte ihre Arme und hatte nicht die Absicht, den Platz zu räumen.
„Hast du versucht ihn davon abzuhalten?“
„Das war eine abgefuckte Scheiß-Idee, weißt du das?“ explodierte Lucy. „Bin ich Mata Hari? Und wenn du es wissen willst: Ich find’s geil, was er macht.“

Als Kevin irgendwann abends zurückkam, fing Lucy ihn ab.
„Ich hab Mama gesagt, dass ich nicht mehr versuch, dich vom Sprayen abzuhalten.“
„Oh Mann, danke.“
„Ich rate dir, mach das nie wieder. In diesem Fall steh ich hinter dir, okay?“
„Du findest das okay?“
„Ist doch krass, was ihr da macht. Aber lass dich bloß nicht wieder erwischen. Gibt’s keine Wände, die nicht verboten sind?“

Die Geschwister klebten einen Zettel an den Kühlschrank und verzogen sich in ihre Stammpizzeria. Sie hatten keine Lust, den Eltern zu begegnen.

Carina trug zur Weihnachtsfeier das leuchtend rosa Abendkleid, das über und über mit Pailletten bestickt war und im Licht glitzerte. Es lag hauteng an und hatte selbstverständlich keine Schulterträger. Die neuen Pumps passten dazu perfekt. Dann mal los, dachte Carina, als sie den Saal betrat und gleich im Eingang an eine Kollegin geriet, die sie überhaupt nicht ausstehen konnte. Das beruhte auf Gegenseitigkeit.
„Du siehst toll aus.“
Anne verzog die Lippen und sah an ihr einmal herunter.
„Schickes Kleid.“
„Deines auch“, erwiderte Carina lächelnd. „Mal sehen, wer heute Abend die Partyqueen wird, was?“
„Das brauchen wir nicht zu sehen, das steht fest“ erwiderte Anne.
„Oh Hans, warte doch bitte, ich muss unbedingt mit dir sprechen!“ Sie ließ Carina stehen und folgte ihrem Abteilungsleiter in die Halle.
„Hat sie dich stehen lassen? Arme, arme Carina.“
„Euch hat sie aber genauso stehen lassen“, erwiderte Carina. Sie genoss es, den Spieß umzudrehen und dem Hofstaat von Anne zu sagen, was sie von ihnen hielt. Hinter ihr standen tatsächlich Tatjana und Trixi in identischen roten Kleidern.
„Immerhin hat sie uns. Und du? Bist ganz ganz allein“, sagte Trixi und seufzte schwer.
Carina lächelte. „Nicht so allein, wie ihr denkt.“ Damit drehte sie sich um und ging hüftschwingend auf Kersten zu, der das Spiel sofort durchschaute und ihr Küsschen auf die Wangen gab.
„Denen zeigen wir es mal“, sagte er leise. „Ich erkläre das morgen deinem Mann.“
Carina lachte und warf den Kopf zurück. „Das werde ich ihm schon selber erklären.“

Um zehn Uhr abends war auf der Weihnachtsfeier die Hölle los.
„Schau mal, wie sich Anne aufführt.“
„Eklig“, kommentierte Carina so laut, dass es die Umstehenden mitbekamen. „Aber wer es nötig hat…“
„Du stehst ja über so etwas“, erwiderte Kersten und meinte das vollkommen ernst.
„Genau. Ich hole mir jetzt ein Glas Sekt. Heute Abend will ich Spaß haben.“
„Carina.“
„Ja?“ Sie schaute über die Schulter und lächelte ihn an.
„Was zum Teufel hast du vor?“
Carina schnappte sich ein Glas Sekt und trank es in wenigen Zügen aus. Dann griff sie nach einem zweiten und deutete auf den Tisch in der Mitte.
„Draufsteigen und Karaoke singen.“
„Carina… wie viel hast du schon getrunken?“
„Aaaach komm schon Kersten. Sei mal locker.“
Carina nahm ein weiteres Glas Sekt von einem Tisch und gab es ihm.
„Prost, Kersten. Jetzt feiern wir!“
Kersten machte eine ergebene Miene. Jetzt war keine Gelegenheit, über Konsequenzen nachzudenken. Er kippte den Sekt auf Ex und griff nach dem zweiten Glas.
Anna knutschte in einer Ecke mit ihrem Abteilungsleiter. Das Aufsehen erregte sie in diesem Moment und nicht Carina.
Kersten sah verächtlich zu.
„Die hat es wohl nötig.“
„Sind wir so viel besser?“
„Nein“, sagte Kersten. „Nicht heute Abend.“ Er beugte sich zu ihr und küsste sie.
„Ich wette, du traust dich nur betrunken, nachher auf den Tisch zu steigen und Karaoke zu singen.“
„Stimmt“, erwiderte Carina. „Mit dem Betrinken fange ich nach dem Essen an.“

Ihr Chef behielt sie unauffällig im Auge, als sie sich zu ein paar Kolleginnen zurückzog und mit denen den Rest des Abends verbrachte, mit ihnen aß und hinterher wieder und wieder zuprostete.
Keiner informierte Carina, dass die jüngste Azubi den Auftrag bekommen hatte, die ganze Feier zu fotografieren.

Die Feier hatte ihren Höhepunkt erreicht und die älteren Kollegen waren längst gegangen, als Carina ihren Rock raffte und auf den großen Tisch in der Mitte stieg. Laute Pfiffe, ihre Kolleginnen schrien vor Begeisterung und feuerten sie durch Klatschen an.
„Los Carina! Gibt’s ihr!“
Am anderen Saalende standen Anna und ihr Hofstaat und starrten voller Hass auf sie.
Kersten und Hans hatten sich zu den übrigen Chefs gesellt und schienen sich zu unterhalten. Nebenbei behielten sie ihre Kolleginnen im Auge.
„Ich glaube, an diese Weihnachtsfeier werden wir uns noch in ein paar Jahren erinnern“, sagte Hans. „Was hat sie vor, verdammt nochmal?“
„Sie will Karaoke singen.“
„Auf dem Tisch?“
„Frag nicht.“
„Das wird ja immer schlimmer. Hat das Auswirkungen auf die Arbeit? Müssen wir dazwischen gehen?“
„Noch nicht. Aber wir sollten sie künftig im Auge behalten.“
Die Musik wurde aufgedreht, der Discjockey reichte ihr ein Mikro. Jetzt spätestens hatte Carina die Aufmerksamkeit der kompletten Belegschaft. Sie pfiffen und klatschten.
Anna stand an der hintersten Wand, der Mund zu einem schmalen Strich zusammengekniffen und mit verschränkten Armen.
Keiner beachtete sie mehr.


14. Dezember, Samstag
Carina schloss kichernd und nicht gerade leise die Haustür auf, stolperte ins Haus und schlug gegen die Wand. Sie ließ ihre Jacke fallen, taumelte ins Wohnzimmer und sackte in einen Sessel. Sie streifte ihre Pumps ab und rollte sich zum Schlafen zusammen.

„Psst!“ Unterdrücktes Lachen.
„Nicht so laut, du weckst sie auf!“
Carina blinzelte. Die Sonne schien ins Wohnzimmer und blendete sie.
Als sie sich aufrichtete, sah sie gerade noch, wie Kevin im Flur verschwand. Dann schaute sie an sich herunter. Sie trug immer noch das rosa Kleid, die Schuhe lagen vor ihr auf dem Boden. Sie stand auf und wartete, bis der Schwindel verschwunden war. Dann wankte sie in die Küche. Sie war steif und hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Trank ein Glas Wasser, fand eine Kanne nicht mehr ganz frischen Kaffee, den Lucy gemacht haben musste und goss sich eine Tasse ein.
„Willst du eine Kopfschmerztablette?“
„Oh ja“, stöhnte Carina.
Lucy hielt sie ihr hin, dazu ein Glas Wasser.
Carina schluckte die Tablette und vergrub den Kopf in den Händen.
„Was hast du denn gemacht?“
„Geh weg.“
„Nö.“
Lucy drehte einen Stuhl um und setzte sich verkehrt herum drauf, verschränkte ihre Arme auf der Rückenlehne und betrachtete ihre verkaterte Mutter in dem schicken Abendkleid.
„Muss ja ’n heißer Abend gewesen sein.“
„Geh in dein Zimmer oder so“, murmelte Carina. Sie kämpfte sich hoch und machte einen Schritt nach dem anderen, bewegte sich langsam in Richtung Tür.
„Ich geh ins Bett.“
Lucy grinste. „Ja Mama, mach das mal.“
Perfekt, dachte sie. Als aus dem Schlafzimmer nichts mehr zu hören war, zog Lucy die Schublade auf, in der ihre Eltern Kreditkarten und Bargeld aufbewahrten. Bingo. Sie griff sich eine der Karten, die auf ihren Vater ausgestellt war. Die Karte sah neu aus und auf einmal fiel ihr die Lösung ein. Der Brief der Lottogesellschaft vor ein paar Tagen. Die neuen Kreditkarten, das neue Kleid und die superschicken Schuhe ihrer Mutter.
Lucy horchte nach oben, aber ihre Eltern schliefen. Schaute auf die Uhr.
„Wo willst du hin?“
Kevin interessierte sich sonst nie dafür, was sie machte, aber jetzt stand er hinter ihr und schaute zu, wie sie ihre Wimpern tuschte.
„Ich geh shoppen“, sagte sie. „Papa hat im Lotto gewonnen, wusstest du das noch nicht?“
„Was?“ rief Kevin. Seine Stimme setzte kurz aus und er wurde rot. Der Stimmbruch machte sich voll bemerkbar.
„Ja, die haben richtig Kohle eingesackt. Und ich geh jetzt shoppen.“
„Warte.“ Kevin verschwand im Bad und dann in seinem Zimmer.
„Ich komme mit.“

Vier Stunden später saßen sie in ihrem gemeinsamen Lieblingscafé, was sie natürlich nie zugegeben hätten, und aßen zu Mittag.
„Was glaubst du, wann die das merken?“
„Wenn wir zurückkommen“, sagte Lucy. „Aber das ist kein Problem. Wir dürfen einkaufen gehen. Uns gehört das Geld genauso wie ihnen.“
Kevin schaute auf die Einkaufstüten. „Langsam gefällt mir die Sache.“
Zu Hause schloss Lucy so leise wie möglich die Haustür auf. Kevin konnte das Kichern kaum unterdrücken, als sie die Treppe nach oben schlichen und die Tüten in ihre Zimmer brachten.
Kevin öffnete leise die Tür zum Elternschlafzimmer. Keiner da.
Sie sahen sich an und zuckten mit den Schultern.
„Vielleicht sind sie in der Küche?“
So war es.
„Na, wo habt ihr denn gesteckt?“ fragte Martin.
„Wir waren brunchen“, sagte Kevin.
Carina sah sie verblüfft an. „Ihr beiden wart brunchen?“
Lucy grinste. „Warum denn nicht?“
„Ihr bekriegt euch doch sonst die ganze Zeit.“
„Manchmal können wir aber auch ganz lieb zueinander sein“, erwiderte Lucy. „Hat Spaß gemacht, aber“, sie rümpfte die Nase, „ich muss das in nächster Zeit nicht wieder haben. Reicht schon, dass bald Weihnachten ist.“
Kevin steckte seine Nase in sein Glas Orangensaft, um sich nicht zu verraten. Lucy verließ die Küche und klapperte im Bad herum, zog die Klospülung und als sie wiederkam, zwinkerte sie Kevin zu. Alles okay, sollte das heißen. Sie hatte die Kreditkarte an ihren Platz zurück-gelegt.
„Hast du auch das Gefühl, dass sie uns was verschweigen?“ fragte Martin.
Carina blinzelte. „Ja.“
„Geht’s dir nicht gut?“
„Du brauchst gar nicht zu lachen. Ich glaube, ich habe gestern Abend zu viel getrunken…“
„Das hast du“, bestätigte Martin grinsend. „So besoffen hab ich dich seit … dem Urlaub auf Korsika nicht mehr erlebt!“
„Wirklich? Dann wurde es ja mal wieder Zeit. Obwohl wir so viel zu Feiern hatten seitdem.“
„Mich interessiert trotzdem, was die Kinder angestellt haben.“
„Mich auch.“ Carina sprang auf und verzog das Gesicht vor Schwindel. Dann eilte sie aus der Küche.

„Nein, Mama. Ich sage dir nicht, wo wir waren.“
Kevin zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. „Nerv nicht, okay?
„Kevin, ich habe ein Recht darauf…“
„Frag doch Lucy!“
„Kevin“, mahnte Carina.
„Finde es doch selbst heraus.“ Er konnte Lucy einfach nicht verraten. Er konnte es nicht.

„Mama, ich hab dir gesagt, was wir gemacht haben, hör auf zu nerven!“ Lucy nahm ihren Schuh und warf ihn Richtung Zimmertür.
„Lucy!“

Martin zuckte mit den Schultern.
„Damit ist es wohl vorbei, dass uns die Kinder Auskünfte geben.“
„Du bist auch auf ihrer Seite!“ Carina war richtig sauer.
„Jaja und dann willst du Weihnachten ausfallen lassen. Wie jedes Jahr“, erwiderte er gelangweilt.
Carina rauschte aus der Küche.


15. Dezember, Sonntag
Beim Sonntagsfrühstück herrschte ausnahmsweise Familienfriede.
„In den Zoo können wir mit euch ja nicht mehr gehen“, sagte Carina, als sie beisammen saßen.
„Würde sagen, du spinnst“, warf Kevin ein.
„Genau. Lucy, leg mal das Handy weg.“
Lucy zog einen Flunsch.
„Lucy!“
„Ja doch.“
Sie legte es weg.
„Wir machen heute den Wellnesstag. Und gehen auch zur Maniküre.“ Sie lächelte Lucy an.
„Echt? Wie krass ist das denn… Danke!“ Lucy sprang auf und fiel Carina um den Hals.
„Und ich?“
„Und du, mein Sohn“, sagte Martin und betonte das übertrieben, „gehst mit mir heute zum Spiel.“
„Wahnsinn!“ brüllte Kevin los.
Lucy hielt sich die Ohren zu. „Hey willst du, dass wir taub werden?“

Sie gingen zum Mittagessen gemeinsam zum Italiener.
„Ah willkommen! Möchten Sie ihren Gewinn feiern, ja?“ fragte Guido.
Guido war ihr Stammkellner. Sie kamen mindestens einmal im Monat in das Restaurant. Es war ein Familienritual, das Lucy und Kevin liebten. An diesem Sonntag war es anders als sonst. Jeder Gast und jeder Angestellte schien von ihrem Lottogewinn gehört zu haben.
„Wer hat das denn erzählt?“ fragte Martin. Er hatte sich so eine Mühe gegeben, das geheim zu halten!
„Also… Ich war’s nicht“, sagte Kevin.
Frau und Tochter schüttelten den Kopf.
„Ich habe nur mit Barbara darüber gesprochen“, sagte Carina. „Das ist doch nicht verboten. Wir waren shoppen.“
„Und du hast es ihr erzählt.“
„Na – ja. Habe ich.“
„Und sie hat es gleich weitererzählt.“
Schweigen.
Martin seufzte. „Gut. Wir machen das Beste daraus. Und hoffentlich halten die Geier still.“
Sie bestellten beim Kellner, der sie neugierig anschaute und länger blieb als nötig, bemühten sich Themen zu finden, ohne über das Geld zu reden und versuchten die anderen Gäste im Lokal zu ignorieren.
Sogar Kevin benahm sich ausnahmsweise, Lucy spürte, dass die Eltern nervös waren und das Restaurant so schnell wie möglich wieder verlassen wollten. Sie beeilten sich mit dem Essen und unterhielten sich nicht mehr als notwendig.
„Das war ja gruselig“, sagte Lucy, als sie hinterher wieder draußen standen.
„Ich will trotzdem zum Spiel.“
Martin und Carina sahen sich an. Sie hatten es den Kindern versprochen.
„Jetzt siehst du, was du mit deiner Lottospielerei angerichtet hast“, zischte Carina.
„Vor ein paar Tagen hast du dich über das Geld noch gefreut“, erwiderte er ziemlich spitz.
„Vor ein paar Tagen habe ich darüber nachgedacht, was für dafür alles kaufen können“, gab sie zurück. „Und nicht an neugierige Leute!“
„Gehen wir jetzt mal?“ unterbrach Lucy sie. „Sonst gib mir das Geld und ich geh allein!“
„Genau“, sagte Kevin. „Ich kann auch allein ins Fußballstadion gehen. Ich will meine Karte haben!“
Sie kapitulierten. Schauten sich in die Augen und teilten die Hoffnung, noch ein paar Tage Ruhe zu haben. Wenigstens bis Weihnachten. Danach würden sie den Gewinn selber veröffentlichen.
Neuigkeiten verbreiten sich schneller, als einem lieb sein kann. Sie hatten nicht einmal mehr einen Tag.

Lucy genoss das Wellnessprogramm und ließ sich danach die Finger- und Fußnägel verschönern. Die Frau, die sich um sie kümmerte, unterhielt sich mit ihr über dieses und jenes und fragte sie nebenbei aus, aber Lucy hatte aus der Sache im Restaurant gelernt.
„Ich habe gehört, ihr habt ‘ne Menge Geld gewonnen?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Lucy und bewunderte ihre linke Hand. „Kannst du hier nicht noch ein bisschen was mit Glitzer oder Steinchen machen?“
„Klar.“
Nebenan bei Carina lief das Gespräch ganz ähnlich ab.
„Aber Barbara hat das doch erzählt. Warum sollte die sowas denn erfinden?“
„Barbara lügt. Sie hat eine blühende Phantasie“, behauptete Carina. Es machte ihr überhaupt nichts aus, ihre Freundin als Lügnerin hinzustellen. Sie hatte ihr das erzählt und Barbara musste danach versprechen, es keinem zu erzählen. Und sie hatte sich nicht daran gehalten. Klatschweiber, alle miteinander! Nicht, dass Carina noch nie ein Geheimnis weitererzählt hätte. Aber selber etwas weiterzuerzählen, machte eben viel mehr Spaß als selber ein Geheimnis zu haben, das nicht rauskommen sollte.

„Hey, guck mal, da ist Martin. Der hat doch im Lotto gewonnen!“
„Wo?“
„Na, da hinten neben der Bierbude!“
„Jetzt kommt er auf uns zu. Hat der seinen Jungen mit?“
„Hat er. Das ist richtig. Wir brauchen hier Unterstützung!“
Die Männer riefen nach Martin und winkten ihn heran.
Martin schob Kevin langsam durch die Besuchermassen.
„Da drüben stehen meine Freunde.“
Kevin zog den Schal über die Ohren und stapfte über die Tribüne.
„Hallo Martin. Na Kevin? Kommst endlich mal mit zum Spiel, was?“
„Hmmm, ja.“
„Das find ich gut, dass du deinen Vater begleitest.“
Kevin zog unbehaglich die Schultern hoch.
„Ihr habt jetzt doch so viel Geld, bekommst du zu Weihnachten eine Dauerkarte für deinen Lieblingsverein?“
Martin lief rot an. „Wer hat euch davon erzählt?“
„Das weiß hier doch schon jeder. Wusstest du das nicht? Ihr seid Stadtgespräch!“
Martin bleib die Luft weg.
„Spinnt ihr? Papa fällt ja gleich tot um!“ rief Kevin. Er rannte zur Bierbude. „Krieg ich ‘nen Glas Wasser? Schnell!“ Er fummelte ein paar Münzen aus der Tasche und legte sie auf die Theke, dann rannte er mit dem Becher zurück zu seinem Vater. Martin hielt sich an einem Sitz fest und nahm das Wasser dankbar entgegen.
„Äh… also du hast wirklich im Lotto gewonnen?“ fragte Peter.
„Ja hab ich“, schnappte Martin. Seine Gesichtsfarbe wurde wieder normal. „Und ihr bekommt keinen Cent davon ab, kapiert?“
„Hey Mann, beruhig dich. Wir wollen doch gar nichts von deinem Geld.“
Peter warf Christian einen Blick zu.
„Also.. du könntest uns schon mal einladen. Wenn wir nach Weihnachten zum Bowlen gehen zum Beispiel.“
Das Bowling war eine Tradition. So eine Einladung war es nicht.
Martin rechnete das durch. Seine Freunde plus ihren Familien, für gewöhnlich waren sie etwa dreißig Leute.
„Da muss ich Carina fragen“, sagte er schließlich.
„Mann, ist das dein Lottogewinn oder ihrer? Geht doch nur um eine Einladung zum Bowling, oder? Was hast du gewonnen, fünfzig Euro?“
Martin brummte nur.
„Erzähl doch mal. Die Gerüchte erzählen ja alles Mögliche.“
„Nein.“
Sie schafften es nicht, Martin zu knacken. Und Kevin hatte keine Lust, ihnen etwas zu erzählen. Langsam kapierte er, dass das hier eine riesengroße Sache war. Er rammte die Hände in die Jackentaschen und folgte seinem Dad und dessen Freunden. Dann begann das Spiel und zumindest bis zur Halbzeit vergaßen sie das verdammte Geld.

„Wir laden alle unsere Freunde beim Bowling ein? Wo hast du diese Schnapsidee denn her?“
„Lass mich mal überlegen. Stimmt, ich war das ja gar nicht selber!“
Carina stemmte die Hände in die Hüften. „Wie bitte? Willst du mich verarschen?“
„Die Einladung war wirklich nicht meine Idee!“
„Und von wem war sie dann?“
„Von Peter“, gab Martin zu.
Carina begriff. Peter war mit Barbara verheiratet.
„Oh dieses Miststück!“
„Carina…“
„Barbara. Ich habe es ihr erzählt und ihr das Versprechen abgenommen, dass sie die Klappe hält.“
Martin holte tief Luft und befahl sich, ruhig zu bleiben.
„Okay. Dann wissen wir jetzt ja, warum die halbe Stadt Bescheid weiß. Du bist mit der Tratschtante vom Dienst befreundet. Der kann man halt keine Geheimnisse erzählen.“
„Also laden wir die ganze Bagage zum Bowling ein“, sagte Carina. „Tut mir leid, Martin.“
Er drückte sie an sich. „Muss es nicht. Unser neuer Wagen und mein Motorrad kosten viel mehr.“


16. Dezember, Montag
Der Morgen im Geschäft nach der Party war für Carina ein Spießrutenlauf. Sie stellte ihre Handtasche auf ihrem Schreibtisch ab und hängte den Mantel auf.
„Guten Moorgen“, zwitscherte Lea.
„Guten Morgen.“
Lea grinste. „Sie hatten ja so richtig Spaß auf der Weihnachtsfeier.“
Carina fuhr ihren Computer hoch und öffnete die Arbeitsprogramme. „Was haben Sie gesagt?“
„Sie hatten Ihren Spaß, oder? Oh Mann, da ging ja richtig die Post ab.“
Carina zuckte mit den Schultern. „Als hätten Sie nicht genauso Spaß gehabt. Sind Ihre Fotos was geworden?“ Sie achtete darauf, ihre Stimme frei von Gehässigkeit zu halten.
„Ich habe nicht mit dem Chef geknutscht, und mir ist nicht das Kleid runtergerutscht“, sagte Lea.
„Was?“
Lea kicherte. „Echt, die Bilder sind voll scharf! Ich dachte ja schon auf der Party, wow, die zeigt’s uns jetzt mal richtig!“
Verdammt, dachte Carina. Sie hatte irgendwann nicht mehr aufgepasst. Kurz nach Mitternacht war ihr tatsächlich das Kleid runtergerutscht, aber sie hatte nicht mitbekommen, dass Lea es fotografiert hatte.
„Haben Sie die Bilder dabei?“
„Klar…“
Carina stellte sich hinter Lea und wartete, bis sie einen Ordner hochgeladen hatte.
„Ist das nicht cool?“
„Ist es“, antwortete Carina.
Sie sah sich selbst inmitten ihrer Kollegen in ihrem rosa Kleid. Mit Sektglas, im Gespräch, sich vor Lachen biegend…
Und wie sie den Chef küsste, mit Hilfe eines Stuhls auf einen Tisch stieg und dort ihren Rock raffte und Bein zeigte. Beim Karaoke-Singen.
Und wie ihr das Kleid bis zur Hüfte runterrutschte.
Carina stöhnte auf und vergrub eine Hand in ihrer Mähne.
„Hey, war doch toll, was Sie da gemacht haben! Wissen Sie, wie langweilig die Feier bis dahin war? Man unterhält sich mit denselben Leuten wie in der Mittagspause, die Themen sind die gleichen, nur die Location ist eine andere.“
„Gibt es noch mehr Fotos?“
„Bestimmt“, sagte Lea.
„Könnten Sie mir alle besorgen bitte?“
„Das werden aber ziemlich viele werden.“
„Ich will wissen, was da passiert ist.“
Vor dem Feierabend bekam sie die Bilder nicht mehr, aber dafür war sie das Gespräch des Tages in der Firma.
„Kommen Sie mal in mein Büro.“
Carina seufzte. Alle anderen waren auf einmal sehr beschäftigt, als sie ihre Bluse glattstrich und sich dann auf den Weg zum Chef machte.
„Setz dich bitte.“
„Geht es um Freitagabend?“
„Leider, ja. Hast du die Fotos gesehen?“
„Ein paar“, sagte Carina und überlegte, wie sie aus der Sache wieder herauskam.
„Ich habe die Kollegen schon angewiesen, die schlimmsten zu löschen.“
„Danke.“
„Ich habe das nicht nur für dich gemacht, Carina“, sagte Kersten ernst. „Es geht um den Ruf der Firma und um meinen. Ich möchte dich bitten, solche Sachen in Zukunft zu unterlassen.“
Carina senkte den Kopf und nickte.

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5320 Beiträge veröffentlicht!