Schall und Rauch 5
von Sabine Herzke (melody)

 

4. Woche

17. Dezember, Dienstag
Lucy hatte keine Lust, nach dem Unterricht gleich nach Hause zu gehen. Sie traf sich mit ihren Freunden im Café. Bei Latte und Cappuccino sprachen sie über das, was wirklich wichtig für sie war.
„Habt ihr schon Kleider für die Party nächsten Samstag?“
„Nee“, sagte Laura und rekelte sich in ihrem Sessel.
„Ihr habt doch soviel Geld auf einmal, oder?“ fragte Tine.
„Ja, und? Du meinst, wir könnten davon noch shoppen gehen?“
„Ja, warum denn nicht? Wir decken uns mit richtig tollen Kleidern ein.“
Selbst die Jungs waren von der Idee angetan.
„Dann haben wir die geilsten Bräute auf der Party.“
Lucy lächelte. „Ganz genau.“

Sie gingen nicht nur shoppen, noch am gleichen Nachmittag. Lucy hatte auch an diesem Tag wieder eine der neuen Kreditkarten dabei und kam damit durch.
Sie machten eine Fotoserie daraus. Fotografierten sich gegenseitig in den teuersten, schönsten Kleidern, machten die Boutiquen zu Laufstegen. Als sie sich endlich verabschiedeten und in die verschiedenen Busse stiegen, die sie nach Hause brachten, versprachen sie sich, die Bilder sofort hochzuladen.

Kevin meldete sich irgendwann abends bei Facebook an und scrollte aus Langeweile durch die Posts seiner Freunde. Da sah er es.
Er klickte sich durch die Fotoserie seiner Schwester und ihrer Freundinnen. Ein heißes Kleid nach dem anderen, Schuhe, Modeschmuck. Dutzende Gefällt-mir-Angaben, obwohl die Fotos noch keine drei Stunden im Netz waren.
„Fuck!“ schrieb er darunter. „Du nutzt das ja total aus, dass wir jetzt so viel Geld haben!“
„Was?“ folgte sofort der nächste Kommentar von einer Klassenkameradin von Lucy, die offenbar noch von nichts wusste.
„Ihr habt Kohle? Wie viel? Seit wann das denn?“
Mist, dachte Kevin. Er schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch und löschte den Post sofort wieder, aber es war zu spät. Der Versprecher war in der Welt. Wobei – wussten die Mädels, mit denen Lucy shoppen gegangen war, nicht sowieso längst davon? Noch ein Informationsleck.
Lucy würde ihm die Haut abziehen für das, was er jetzt vorhatte. Aber das nahm er in Kauf. Hier ging es um die Familie. Er ging zu Carina.
„Ich muss dir mal was sagen.“
„Hm?“ Carina dekorierte das Wohnzimmer und hatte sichtlich anderes im Kopf.
„Geh da mal weg.“
Kevin machte einen Schritt zur Seite. „Lucy hat deine neue Kreditkarte geklaut und war shoppen.“
Carina stoppte, beide Hände voller Weihnachtsschmuck.
„Das hat sie nicht getan.“
„Nein? Dann zeig ich dir mal was.“
Carina legte die Sachen ab und rannte hinter Kevin her. „Und was willst du mir zeigen?“
„Das hier.“
Er rief das Album mit den Bildern vom Shoppen auf.
Die Kommentare zu den Bildern hatten sich in der Zeit, in der er nicht reingeschaut hatte, vervielfacht. Und natürlich wurde am meisten über den neuen Reichtum der Familie spekuliert.
Seine Mutter schaute sich jedes einzelne Foto genau an und schüttelte ab und zu den Kopf.
„Von meiner Kreditkarte, sagtest du?“
„Sie hat ja laut genug in meiner Gegenwart darüber geredet“, sagte Kevin gereizt. „Frag sie doch selber.“
Carina atmete tief ein. „Ich werde mit ihr reden. Aber ich habe euch auch etwas zu sagen.“

Wenige Minuten später saßen sie zu viert am Küchentisch um Kevins Laptop herum. Martin hatte Lucy den Kopf gewaschen und die Herausgabe der Kreditkarte verlangt. Und dann hatte Carina ausgepackt. Sie rief das Profil der Firma auf, wo die Bilder öffentlich zu sehen waren und überließ es ihrer Familie, sich durch das Album zu klicken. Sie hatten in der Firma Wort gehalten und die schlimmsten Bilder entfernt. Trotzdem waren Martin und die Kinder geschockt.
„Mama, das bist nicht wirklich du, oder?“
„Doch.“
„Hast du den Verstand verloren?“ rief Martin. Er starrte auf das Bild, wo sie auf dem Tisch stehend den Rock raffte. Auf dem nächsten küsste sie den Chef. Das Bild hatten sie also doch drin gelassen. Diese miesen Idioten.
„Ich war betrunken!“
„Sonst warst du auch schon auf irgendwelchen Partys betrunken. Jetzt komm mir nicht damit."
„Hör mal, das ist kompliziert…“
„Was ist daran kompliziert?“ Er klickte hektisch die Bilder durch, suchte nach weiteren Bildern, die vielleicht noch schlimmer waren. Lucy und Kevin wagten nicht, dazu etwas zu sagen. Das hier war zu ernst.
Aber noch schlimmer wurde es nicht. Carina im kurzen Rock, Carina, die den Chef immer wieder küsste, das war alles. Auf einem Foto lag seine Hand auf ihrem Hintern. Carina verkroch sich in ihrem Pullover.
„Du warst also betrunken, was? Die ganze Zeit?“
Carina schwieg.
„Lucy, Kevin, geht mal raus. Ich muss mit eurer Mutter reden.“
Kevin schüttelte den Kopf.
„Kevin, bitte.“
Lucy ergriff Kevin am Arm und zog ihn mit sich. „Das willst du nicht mit anhören“, sagte sie.
Kevin maulte.
„Sie erzählen uns hinterher bestimmt, was sie machen werden. Wenn sie sich deswegen trennen, bekommen wir das mit.“
Kevin sah nicht glücklicher aus, aber er folgte seiner Schwester.
Lucy schloss die Küchentür.

Carina hatte das Gesicht in die Hände gestützt. Martin ging auf und ab.
„Warum?“ fragte er.
„Du verstehst das nicht…“
„Dann erklär es mir! Erklär mir, warum ich nicht meine Sachen packen und verschwinden soll! Warum soll ich dich nicht verlassen?“
„Martin, bitte!“
Er stützte sich dicht vor ihr auf den Küchentisch und schaute ihr in die Augen. Carina wich zurück.
„Das verdammte Geld macht echt alles kaputt, da hast du ganz Recht gehabt! Du erzählst mir jetzt, was da abgeht!“
„Ich habe ein Problem mit einer Kollegin“, begann Carina. „Wir fetzen uns die ganze Zeit, versuchen uns auszustechen im Job, beim Chef besser anzukommen als die andere, es geht um Verkaufszahlen, um Punkte, Gratifikationen, einfach alles.“
„Warum steigst du dann auf einen Tisch und knutschst mit deinem Chef?“
Carina lächelte schwach.
„Anne war mit ihrem Hofstaat da. Sie hat das wirklich provoziert. Wer die Partyqueen werden würde und so weiter.“
Martin brummte. Er kannte Anne flüchtig und konnte sich vorstellen, was für einen Auftritt sie hingelegt hatte.
„Ich hasse sie und es war mir einfach zu viel… Und da bin ich auf den Chef zu. Und der hat mitgespielt. Und alle anderen auch. Du hättest Anne und ihre Damen mal sehen sollen.“ Carina grinste in Erinnerung daran.
Martin entkrampfte sich wieder. Er ging auf und ab, um sich zu lockern.
„Okay“, sagte er. „Es gefällt mir immer noch nicht.“
Carina stand auf und ging zögernd auf ihn zu. Martin nahm sie in den Arm.
„Tut mir leid“, sagte sie.
„Mir auch. Dass ich dir was unterstellt hab.“
„Kommt auch nicht wieder vor.“
Martin küsste sie auf den Scheitel.
„Das hoffe ich. Lass uns ins Bett gehen. Der Tag war lang genug.“


18. Dezember, Mittwoch
Martin wurde neugierig angeschaut, im Betrieb redeten sie über ihn, sobald er den Rücken drehte. Lucy und Kevin wurden in der Schule angesprochen.
„Stimmt das? Dein Dad hat im Lotto gewonnen? Wie viel denn?“ Und das war noch die netteste Frage.

Kevin erwischte es schon in der ersten Pause. Die Mädchen kicherten, schauten ihn an und dann kam die erste.
„Sag mal…“
„Was?“ Er versuchte sie zu ignorieren.
„Du hast doch jetzt so viel Geld. Lädst du mich ein?“
„Ich hab überhaupt nicht viel Geld. Wie kommst du auf den Mist?“ Er schüttelte sie ab und wollte den Raum verlassen. An der Tür standen die Jungs.
„Hey.“
„Bleib mal stehen.“
„Machst ne große Party für uns von dem Geld?“
„Weiß nicht, wovon du sprichst.“
Kevin war es leid. Er bedauerte alle seine Ausrutscher, jedes Mal, dass er über den Gewinn gesprochen hatte.
„Okay okay. Papa hat im Lotto gewonnen, und wir haben jetzt ne Menge Geld, zufrieden? Ich lade euch alle zu einer Party ein. Am Tag vor Heiligabend!“
„Geile Ansage. Aber alle, das ist doch klar!“
„Klar Mann. Mach ich sofort!“
Aber erstmal verließ Kevin das Klassenzimmer. Er suchte Lucy. Musste sich darüber klar werden, was er jetzt schon wieder ausgelöst hatte. Sie stand mit ihren Hanna, Edda und Maryam unter einem ausladenden Baum, ihrem Stammplatz. Er drang in ihren Bereich ein, darüber war er sich klar, als die Mädchen ihn ansahen wie ein störendes Insekt.
„Ich muss mit dir sprechen.“
Lucy verzog das Gesicht.
„Jetzt.“
„Okay.“ Sie wandte sich an ihre Freundinnen. „Sorry.“
Auch wenn Kevin manchmal wirklich eine Nervensäge war, wenn er einen dringenden Grund hatte, mit ihr zu sprechen, erkannte sie das auch.
„Ich glaube, ich hab Mist gebaut.“
„Was hast du gemacht?“
„Ich hab Max und Ali versprochen, dass wir am dreiundzwanzigsten eine Party feiern. Bei uns zu Hause. Wegen dem Gewinn von Papa.“
„Spinnst du?“ schrie Lucy. „Bist du völlig ausgetickt jetzt? Wie willst du das denn Mama und Papa erklären?“
„Ich dachte, du hilfst mir vielleicht dabei.“
„Vergisses! Kannst du vielleicht EINMAL darüber nachdenken, was du tust, bevor du es machst?“
„Nee, kann ich nicht. Merkst du ja! Scheiße!“
Er trat gegen einen Mauerstein. Lucy verschränkte die Arme und wartete.
„Kommst du wenigstens mit, wenn ich das erzähle?“
„Aber nur ausnahmsweise.“
„Du bist die Beste.“
„Ja, ist gut!“ Lucy drehte sich um und ließ Kevin stehen.
„Na, wollte er?“
„Ach, Familienkram.“ Lucy fühlte sich unwohl.
„Hat das zufällig was mit eurem Lottogewinn zu tun?“ Lucy stürzte sich auf Hanna.

Lucys Klasse war auf einmal gespalten. Ihre Freundinnen, die weiter zu ihr hielten, Mädchen, die sie auf einmal bewunderten und Mädchen, die ganz offen ihren Hass zeigten. Und Jungs, die sich entweder raus hielten oder ebenfalls voller Hass gegen sie waren.
Als Lucy in der Mittagspause mit ihren Freundinnen zum Bistro ging, fing es an.
Drei Typen bauten sich vor ihnen auf. Musterten Lucy von oben bis unten.
„Bist ja schon richtig schick angezogen, was? Erstmal mit Papis Geld losgezogen und richtig was ausgegeben?“
Lucy wich zurück. Der größte der Kerle streckte den Arm aus und griff sich ihre Halskette.
„Na, wie viel hat die gekostet? Schenkste mir die?“
„Nein! Lass mich los!“
Lucy machte einen Schritt rückwärts, blieb mit ihrem Stöckelschuh in einer Ritze zwischen zwei Steinen hängen. Hanna und Maryam konnten sie gerade noch festhalten.
„Haut ab“, sagte Hanna.
„Ach ja? Wie willste das denn hinkriegen?“
„Sie hat euch nichts getan!“
„Sie ist jetzt reich. Sie hat Kohle! Wir wollen auch was davon haben, verstehste?“
„Das ist ein Irrtum“, sagte Lucy verzweifelt. „Wir haben gar kein Geld, das ist ein Gerücht. Ich weiß nicht, wer das erzählt!“
„Echt? Dann waren die Facebook-Fotos ein Fake?“
Sie erreichten das Bistro. Hanna öffnete die Tür und zog Lucy hinein. Die Typen lachten hinter ihnen her und dann machten sie sich davon. Warum sie nicht mit rein kamen, erklärte sich, als sich die drei Mädchen umdrehten. Vor ihnen standen zwei Polizisten.
Die Mädchen waren aufgelöst und in Unordnung, und die Polizisten hatten eindeutig gesehen, was auf der Straße passiert war.
„Brauchen Sie Hilfe?“
Lucy, Hanna und Maryam schauten sich an.
„Ja“, sagte Lucy.
Sie erzählte den Polizisten alles. Und wie sich herausstellte, war die Neuigkeit schon bekannt. Wolters waren Millionäre. Auch wenn es nur ein paar Hunderttausend Euro waren.

Nach der Mittagspause suchte Lucy ihren Bruder.
„Was ist los?“
„Ich hab jetzt auch Ärger“, sagte sie und erzählte von den Jungs und der Erpressung.
„Ach, aber mich schreist du an? Vielen Dank auch.“
„Tut mir leid. Der ganze Mist nervt einfach.“
„Schaffen wir schon irgendwie“, sagte Kevin. Und merkte in dem Moment, dass er das auch so meinte. Ausnahmsweise war ihm die Familie wichtiger als sein Spaß oder seine Freunde.
„Kanntest du die Typen?“ fragte er.
„Nein.“ Sie beschrieb sie, so gut sie konnte. Kevin biss die Zähne zusammen.
„Leon und seine Kumpels. So ‘ne Motorradgang mit Hass auf alle, die Geld haben.“
„Sind die gefährlich?“
„Die sind wirklich gefährlich“, bestätigte Kevin. „Ich komme nachher mit. Das müssen Mama und Papa auf jeden Fall wissen.“

Carina starrte ihre Kinder nur an. Martin schüttelte den Kopf und schlug langsam einen Takt mit den Fingerknöcheln auf dem Küchentisch. Lucy und Kevin lehnten an der Spüle und hatten die Arme verschränkt.
„Eine Party?“
„Das ist die einfachste Lösung“, sagte Lucy. „Ich meine, offenbar ist es ja eh raus gekommen, oder? Wir werden doch alle drauf angequatscht. Wir machen am Tag vor Weihnachten einfach eine riesige Party. Davon haben alle was, und es wird ein paar Tage drüber geredet und dann ist wieder Ruhe.“
„Lucy hat Recht“, sagte Martin auf einmal nach einigen Sekunden, in denen sie geschwiegen hatten.
„Echt, Papa?“
„Ja. Wir machen einfach eine Flucht nach vorn. Kurz vor Weihnachten ist gar kein schlechter Zeitpunkt. Danach kommen die Feiertage, danach gibt’s überall Feiern zum Jahresende und dann ist das wieder vergessen, was hier los war.“
„Wenn du das so sagst, klingt das sogar vernünftig“, sagte Carina widerstrebend.
„Also, kann ich die Jungs einladen?“
„Langsam, Kevin. Wenn wir das machen wollen, müssen wir das planen. Sonst endet es im Chaos. Und ich kann nicht auch noch Ärger mit der Polizei oder der Versicherung gebrauchen.“
„Okay, ich hab’s verstanden.“
Kevin grinste in sich hinein, als er daran dachte, was er und seine Freunde so machen könnten…
„Kevin, du hast mich verstanden, oder?“
„Ja!“ bellte er.
„Ich seh doch, dass du überlegst, was ihr machen könnt.“
„Na und? Nur ne Party.“
„Bei der deine Freunde nicht die einzigen Gäste sein werden. Ihr feiert zusammen mit uns allen.“
Kevins gute Laune war schon wieder weg. Er hatte tatsächlich darauf gehofft, dass er allein mit seinen Freunden und höchstens noch Lucy und ihren Freunden feiern konnte. Dass Martin und Carina mitmachten und es eine große Familienfeier werden würde, hatte er nicht geahnt.
„Kevin, dir ist doch klar, dass das Geld Papa gehört, und er entscheiden kann, wer davon was ausgibt und wer davon eine Party feiert?“ fragte Carina eindringlich.
Er grinste noch immer, jetzt war er verlegen. Bewegte sich unruhig. Lucy daneben kontrollierte ihre Fingernägel, als würde sie das nichts angehen.
„Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, das zu ändern. Wir werden im Haus sein.“
Kevin kapierte langsam, dass er seine Eltern nicht umstimmen konnte. Er hatte gedacht, er könnte mal eine Party feiern, die größte, die sie je erlebt hatten, und zwar ganz allein mit seinen Freunden. Mit Eltern war das Ganze nicht mehr cool. Er würde sich was einfallen lassen.


19. Dezember, Donnerstag
Die Familie traf sich zum Frühstück um sieben. Ohne es zu merken, waren sie in den letzten Tagen enger zusammengerückt. Das Geld hatte sie nicht noch weiter auseinander getrieben. Sie sprachen wieder miteinander. Machten sich um halb acht gemeinsam auf den Weg. Kevin war als erster an der Haustür und öffnete sie.
„Scheiße!“
Er warf sie wieder zu und drückte sich dagegen.
„Kevin? Was ist los? Wieso hast du dein Rad noch nicht geholt?“
„Ich bleib zu Hause“, sagte er.
„Ach komm, geht das schon wieder los?“ Carina schob ihn zur Seite. Kevin versuchte noch, sie davon abzuhalten. Dann machte er Platz und sprintete die Treppe ins Obergeschoss hoch.
Carina öffnete die Tür.

Die Reporter stürzten sich auf sie, die Blitze der Fotografen machten sie fast blind und nahmen ihr jede Sicht.
„Frau Wolter, wie lebt es sich so als Millionärin?“
„Frau Wolter, ein Exklusiv-Interview!“
„Carina, erzählen Sie uns, waren Sie schon groß shoppen?“
Carina knallte die Tür zu und drehte sich zu ihrer Familie um.
„Wir haben ein Problem.“
Sie kehrten in die Küche zurück. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Martin dachte, jetzt erfuhren sie, wie sich ein Belagerungszustand anfühlte. Als Kind hatte er das spannend gefunden und mit seinen Freunden die Burg der Jungs aus der Nachbarschaft belagert und manches Mal waren sie selber eingeschlossen gewesen, ganz genau wie in den alten Ge-schichten über Ritterburgen oder von Indianern belagerten Forts.
„Gehen wir heute nicht in die Schule?“
„Nein, Kevin.“
Carina holte das Telefon. „Ich rufe bei der Arbeit an.“
„Sollen wir die Polizei holen?“
„Wir versuchen erstmal so damit fertig zu werden.“
Sie wählte die Nummer und wartete.
„Jaaa, hier Wolter, guten Morgen! Ich kann heute nicht zur Arbeit kommen. Oder vielleicht ab Mittag, hoffe ich.“ Sie sah ihren Mann an. Martin griff nach ihrer freien Hand und drückte sie beruhigend.
„Wir haben hier ein kleines Problem zu Hause. Nein, darüber kann ich Ihnen gerade nichts Näheres erzählen. Nein, warum sollte ich kündigen wollen? Wegen dem Lottogewinn? So ein Quatsch! Nein, ich komme spätestens morgen wieder zur Arbeit.“
Sie legte entnervt auf.
„Das wird immer schlimmer. Warum musstest du nur spielen?“
Martin sah jetzt endlich aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
„Tut mir leid. Das war echt ein Fehler – aber wer konnte das denn vorher wissen?“
„Sowas gibt’s doch immer wieder. Jemand gewinnt eine Million und die Leute rennen ihm die Bude ein. Jetzt ruf deine Arbeit an.“
Martin wusste, dass er sich nicht länger davor drücken konnte.

„Und?“
„Ich soll meinen Hintern in die Firma bewegen, und zwar pronto. Dem Chef ist egal, wie ich aus dem Haus komme.“
Kevin lachte.
„Lach lieber nicht so laut. Ihr könnt nämlich nicht so einfach die Schule schwänzen. Du ziehst dich jetzt mal schön an – und du auch, Lucy.“
„Das ist gemein! Warum kann Mama zu Hause bleiben?“
„Ja, warum?“
„Ich kann nicht aus dem Haus gehen, solang die Zeitungsleute da sind.“
Carina hatte sich noch nicht von dem Krach um die Fotos mit ihrer Familie erholt.
„Wieso das denn nicht? Du stellst dich vielleicht an.“
„Wegen der Fotos!“
„Seit wann stört dich sowas?“
„Lucy!“
„Was denn? Ich hab doch genauso Bilder online gestellt und angegeben. Mama ist doch selber schuld, wenn sie sich so benimmt.“
Martin und Carina sahen Lucy geschockt an.
„Ich geh da jetzt raus. Ich hab keinen Schiss vor den Zeitungen. Vielleicht rede ich ja auch mit ihnen, dann sind sie erstmal ruhig!“
„Das wirst du nicht tun!“
„Oh doch, das mach ich!“
Carina stellte sich in den Kücheneingang. „Du bleibst hier!“
„Ich dachte, wir sollen zur Schule gehen?“
Jetzt standen sie einander gegenüber, keine gab nach.
„Vielleicht sollten wir die Polizei rufen?“ fragte Martin.
„Warum das denn?“
„Damit sie was gegen die Geier da draußen tun!“
„Oder einen Anwalt. Der uns raten kann, was wir tun sollen.“
Stille. Martin und Carina sahen sich an. Die Kinder hatten das Gefühl, sie tauschten Informationen aus, ohne miteinander zu sprechen.
Das konnten sie früher schon gut, wenn Lucy und Kevin etwas angestellt hatten und sie darauf warteten, dass die Eltern dazu eine Meinung hatten.
Jetzt schien sich das Blatt zu wenden. Lucy hatte offenbar die beste Idee gehabt.
„Ich gehe mit raus“, sagte Martin. „Allein lass ich dich nicht vor die Tür, Lucy.“
Lucy begann zu grinsen. „Echt? Ich darf nach draußen? Und mit der Presse sprechen?“
„Ja.“
Sie fiel ihren Eltern um den Hals. „Super, danke! Ich muss mich eben fertig machen.“
Sie schob Carina zur Seite und rannte zu ihrem Zimmer.
„Fertig machen?“ fragte Martin.
„Hübsch machen“, sagte Carina.
„Muss ich auch mit?“ fragte Kevin mürrisch.
„Hör auf so eine Fresse zu ziehen“, fuhr Martin ihn an.
„Muss ich?“
„Nein! Du holst jetzt endlich dein Fahrrad. Wir lenken die Zeitungsleute vorn ab und du fährst hintenrum zur Schule.“
Kevin zog erneut ein Gesicht, sah aber eindeutig erleichtert aus. Für ihn war das nichts.
„Carina…“ Martin wusste nicht, wie er anfangen sollte.
„Ja?“ Ihre Stimme klang auf einmal sehr dünn. Höher als sonst.
„Vielleicht solltest du doch mit uns vor die Tür gehen. Sie stürzen sich doch eh auf dich, irgendwann erwischt dich einer. Sie verfolgen dich und nächste Woche…“
„… Lauert mir einer bei der Arbeit auf?“
„Genau.“


20. Dezember, Freitag
Das Telefon klingelte, als Martin mittags auf dem Weg von der Arbeit nach Hause war. Er hatte sich eher freigenommen, das Rathaus hatte ihm auf seine dringende Bitte hin einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem er mit den Zeitungen und lokalen Sendern sprechen konnte.
„Wolter.“
„Guten Tag Herr Wolter. Fischer hier!“
„Herr Fischer. Haben Sie Neuigkeiten?“
Der Bankberater antwortete nicht sofort. Martin wurde misstrauisch. Er hatte seinen Wagen erreicht und stieg ein, fuhr aber nicht los.
„Erzählen Sie.“
Meyer atmete schwer. „Es gibt ein Problem.“
„Haben Sie mein Geld verzockt?“ fragte Martin grinsend. Er fand es komisch, wie sich der Mann anstellte.
„Also… gewissermaßen…ja.“
„Das glaube ich Ihnen nicht. Sie hatten doch so todsichere Anlagen für uns!“
„Ich bemühe mich um Schadensbegrenzung“, versuchte Fischer ihn zu beruhigen.
„Das reicht mir nicht!“ Jetzt wurde er wirklich wütend.
Oh Gott, wie sollte er das nur seiner Familie beibringen. Vor allem, weil sie alle schon munter dabei waren Geld auszugeben, das sie offenbar gar nicht besaßen. Das neue Auto. Er schloss die Augen. Er fuhr seit dem Sturm einen Leihwagen, der auch bezahlt werden musste.
„Ich hoffe, Sie haben noch nicht allzu viel ausgegeben“, sagte Fischer. Ihm rann ein Schweißtropfen in den Kragen.
„Natürlich haben wir von dem Geld schon was ausgegeben! Was glauben Sie denn? Dass wir darauf warten, dass die Bank es uns erlaubt?“
„Es war wirklich keine Absicht…“
„Schieben Sie sich Ihre Entschuldigung sonst wo hin. Finden Sie eine Lösung, wie wir unser Geld wiederbekommen!“
Martin legte auf und warf das Handy auf den Beifahrersitz, legte den Kopf nach hinten und versuchte zur Ruhe zu kommen. Was für eine absolute Pleite. Die Pressekonferenz! All die Leute! Er fuhr so schnell nach Hause, wie es der Straßenverkehr zuließ.
Carina stand im Schlafzimmer und machte sich schön.
„Carina, wir haben ein Problem.“ Er erzählte es ihr.
Sie starrte ihn an. „Nein. Nein!“ Sie griff nach einem Kleiderbügel und warf ihn durchs Zimmer. Dann folgten ihre Haarbürste vom Frisiertisch und nacheinander mehrere Kleidungsstücke. Sie tobte. Martin steppte beiseite und lehnte an sich die Wand neben der Tür im Flur. Er kannte Carinas Launen und wusste, dass man sich dann am besten in Sicherheit brachte. Es dauerte mehrere Minuten, bis drinnen endlich Ruhe herrschte.
„Carina…“
Sie saß auf dem Bett und weinte. Er setzte sich langsam neben sie und nahm sie in den Arm.
„Was machen wir denn jetzt?“
„Wir müssen es den Kindern sagen. Aber sonst niemandem.“ Er nickte zur Bekräftigung. Die Idee war ihm erst in diesem Moment gekommen. „Wir sagen es sonst keinem. Etwas Geld ist ja noch da. Ich bestelle das Auto und das Motorrad wieder ab, zum Glück haben wir diese Bedenkzeit eingebaut. Ein kleinerer Gebrauchtwagen tut es auch. Und den bezahlt auch die Versicherung. Wir feiern die Party, die wir angekündigt haben und zeigen es einmal so richtig allen. Und dann passieren wieder andere Dinge. In ein paar Tagen ist ja schon Silvester.“
Sie lächelte, wischte sich die Augen ab und putzte sich die Nase. Dann gab sie ihm einen zärtlichen Kuss.
„Du hast das Chaos angerichtet, aber du hast auch eine wirklich tolle ldee, um das wieder grade zu biegen.“
Er warf sich in Schale, die guten Hosen, Oberhemd. Punkt fünfzehn Uhr traten sie in den Saal, in dem die Meute schon auf sie wartete. Hand in Hand. Carinas war kühl, Martins feucht. Sofort ging das Blitzlichtgewitter los.
Irgendwie, dachte Carina, war es tatsächlich gut gewesen, dass ihr das an der Haustür auch schon passiert war. So war sie jetzt nicht vollkommen aus dem Takt, konzentrierte sich darauf, trotzdem ruhig zu dem verabredeten Platz hinter dem schmalen Tisch zu gehen. Sie würden sich nicht setzen. Der Tisch diente als Barriere.
„Frau Wolter, wie finden Sie es, dass Sie jetzt so viel Geld ausgeben können?“
„Herr Wolter, was haben Sie gedacht, als Sie von dem Gewinn erfuhren? Was haben Sie als erstes gekauft?“
„Bekommen Ihre Kinder auch was von dem Geld ab? Gehen Sie mit ihnen shoppen?“
„Helfen Sie jetzt den Bedürftigen in ihrem Bekanntenkreis? Spenden Sie das Geld?“
Martin und Carina sahen sich kurz an und waren sich einig: Sie würden das eine Weile ausstehen und dann dazwischen gehen. Also lächelten sie nur weiterhin und ließen die Reporter Fragen stellen. Nach einigen Minuten merkten selbst die hartnäckigsten, dass sie so nicht weiterkamen.
In dem Moment öffnete sich die kleine Seitentür, durch die Martin und Carina den Raum betreten hatten und ihr Anwalt erschien.
„Gerade noch rechtzeitig“, flüsterte Carina. Sie sah extrem erleichtert aus.
„Meine Damen und Herren, bitte Ruhe!“
Der Mann brachte Ordnung in die Angelegenheit. Er bestimmte, wer wann seine Frage stellen durfte. Das Paar gewann seine Sicherheit zurück. Nicht einmal ihr Anwalt wusste, dass sie das Geld verloren hatten. Sie beantworteten alle Fragen. Manche mit der Wahrheit. Und andere mit hübschen Geschichten, die die Presseleute in ihrer Gier nach Sensationen sofort und ohne daran zu zweifeln aufnahmen.
Kurz vor Ende der Pressekonferenz, als sie dachten, alle Fragen seien gestellt, kam doch noch die, die Carina gefürchtet hatte.
„Frau Wolter, was haben Sie sich dabei gedacht, als Sie auf der Firmenparty die Sau raus gelassen haben?“
Carina schwankte und schloss die Augen. Sie wurde knallrot.
„Sie müssen da nicht drauf antworten“, sagte der Anwalt.
Martin drückte ihre Hand.
Carina öffnete die Augen und lächelte jeden der Reporter an. Ihr war gerade die Idee gekommen.
„Alles ganz harmlos! Wir haben eine Art Daily Soap in der Firma laufen! Die Party war einfach mal so ein richtiges Highlight! Also, kein Grund zur Aufregung.“
„Das klingt aufregend!“ sagte die Reporterin, die die Frage gestellt hatte. „Wir werden einen Termin mit Ihrer Firma machen und uns danach erkundigen.“
„Tun Sie das“, sagte Carina lächelnd. Sie würden Kersten informieren, damit der vorgewarnt war. Aus der Firma würde nichts nach außen dringen.
„Sonst noch Fragen?“
„Feiern Sie Ihren Gewinn noch richtig? Oder war es das?“
„Wir werden mit Freunden feiern. Wenn es da etwas zu berichten geben sollte, erfahren Sie das rechtzeitig. Vielen Dank.“ Das Schlusswort von Martin klang endgültig, und obwohl die Reporter sie jetzt erneut mit Fragen bestürmten und erneut das Blitzlichtgewitter losging, folgten sie ihrem Anwalt, der ihnen die Tür aufhielt und sie dann sofort schloss.
„Das hätte auch schlimmer sein können“, sagte Carina. Sie war immer noch ganz blass. Eine Rathausangestellte reichte ihr ein Glas Wasser.
„Danke.“
„Sie haben das Schlimmste hinter sich“, sagte der Anwalt. „Wie viel von dem, was Sie erzählt haben, ist wahr?“
Martin lachte. „Sie haben es also gemerkt? Wir haben ihnen Märchen erzählt. Davon stimmt kaum was. Die alten Geier. Die wollen doch sowas hören, und das haben sie auch bekommen!“
„Und was ist die Wahrheit?“ Der alte Jurist sah sie eindringlich an.
Martin und Carina sahen sich um und beugten sich zu ihm. „Das Geld ist fast komplett weg“, sagte Martin leise. „Ich habe heute Mittag einen Anruf von unserem Bankberater bekommen, der das Geld für uns angelegt hatte. Er hat sich völlig verspekuliert.“

Lucy und Kevin reagierten hysterisch, als sie das hörten.
„Ihr spinnt doch!“ schrie Lucy. Dann brach sie in Tränen aus.
Kevin ging auf seinen Vater los. Er stieß ihn mit beiden Händen vor die Brust und schubste ihn gegen den Küchenschrank.
„Jetzt reicht‘s!“ brüllte Martin los.
Lucy schlug die Hände vors Gesicht. Carina versuchte sich zwischen ihren Mann und ihren Sohn zu stellen.
„Martin, nicht!“
Martin hatte sich schon vom Schrank gelöst und war los gestürmt. Die Ohrfeige, die er eigentlich Kevin geben wollte, bekam Carina ab. Er schlug ihr mit voller Kraft auf die linke Wange. Carina kippte rückwärts. Lucy schrie auf. Kevin fing Carina auf, bevor sie gegen den Tisch stoßen konnte. Für ein paar Sekunden waren alle wie erstarrt.
„Du hast sie geschlagen!“ rief Lucy.
„Das wollte ich nicht!“ Martin schob Kevin zur Seite und nahm Carina in den Arm.
„Sag doch was! Geht es dir gut? Carina!“
Sie regte sich nicht. „Carina? Schatz?“ Er schlug ihr sanft ins Gesicht.
Carina schlug die Augen auf. „Was war das denn?“
„Hol ein kühles Tuch!“ befahl Martin seinem Sohn. Kevin stürzte ins Bad und kam mit einem nassen Handtuch zurück.
„Mama!“ Lucy kniete neben ihrer Mutter nieder.
Martin kühlte ihr Gesicht mit dem Tuch. Carina nahm es ihm aus der Hand und stand langsam auf.
„Martin Wolter, spinnst du jetzt komplett?“
„Oh oh“, sagte Kevin hämisch und zog sich zur Küchentür zurück.
„Du bleibst hier! Lucy, verlass bitte die Küche.“
„Ganz sicher nicht!“
Carina setzte sich auf einen Küchenstuhl.
„Lucy… putz bitte nochmal durch Chantals Zimmer und lüfte es.“
„Warum?“
„Weil Chantal morgen nach Hause kommt. Sie bringt ihren Freund mit.“

Am Ende hatte Lucy maulend getan, was Carina von ihr wollte.
Martin war weiterhin sauer auf Kevin, Kevin löcherte Carina mit Fragen über Chantals neuen Freund und Carina versuchte ihren Mann zu beruhigen, bei dem das schlechte Gewissen dazukam, dass er sie geohrfeigt hatte. Bei Kevin entschuldigte er sich nicht.

Als sie später ins Bett gingen, nahm Martin sie in den Arm. Carina gewöhnte sich wieder an seine Nähe.
„Tut mir leid, das mit der Ohrfeige“, sagte er und küsste sie auf die Wange.
Carina seufzte. „Okay. Ich weiß jetzt ja, dass du mich nicht gemeint hast. Das verdammte Geld hat alles kaputt gemacht.“
„Ich glaube nicht“, erwiderte Martin. „Wir reden wieder miteinander. Und wir haben uns alle dumm benommen. Ich verstehe dich besser. Und die Kinder auch. Vorher wusste ich nichts von Kevin und nichts von Lucy. Was sie sich wünschen. Wie sie denken.“
„Und jetzt?“
„Jetzt feiern wir erstmal eine große Party. Alle zusammen. Erst war ich vorhin total sauer, als du erzählt hast, dass Chantal einfach so nach Hause kommt und ihren Freund mitbringt.“
„Ich nicht. Ich habe mich gefreut.“
„Du hast die ganze Zeit Kontakt zu ihr gehabt?“
„Ja.“
„Warum?“
„Sie ist unser Kind.“
Martin schwieg.
„Ich hätte es dir sagen sollen.“
„Das hättest du.“
„Tut mir leid.“
Martin drehte sich auf den Rücken und rieb sich die Stirn. Er dachte nach. Carina kannte die Geste von ihm.
„Wie lang wollen sie bleiben?“
„Über die Feiertage.“
„Klasse.“
„Sie ist erwachsen, Martin. Sie bleiben nur drei Tage. Bitte versuch mit ihr auszukommen.“
Martin brummte was in sein Kissen. Carina löschte das Licht. Sie hoffte, dass dieses Weihnachten nicht in einem großen Streit endete.

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