Schall und Rauch 8
von Sabine Herzke (melody)

 

4. Woche

24. Dezember, Dienstag
Spät am Abend brachte Vincent Chantal in ihr Zimmer. Sie sollte sich ausruhen, unter der Androhung, er würde sie im Zimmer einschließen, wenn sie vor Mitternacht wieder auf der Matte stand. Sie pflaumte ihn vor versammelter Gesellschaft an, dann hakte er sie behutsam unter und führte sie aus dem Raum. Das Gelächter und die Spekulationen, was Chantal mit ihm machen würde, verfolgten sie die Treppe hinauf.
Unten ging Gertrud mit der Weinflasche herum, die Mädchen hatten sich ein einer Ecke versammelt und hatten endlich Ruhe zum Lästern und abchecken – Maryams neues Interes-se an Alex war das Thema schlechthin. Und natürlich das, was an diesem Abend passiert war. Und dann wurde es noch besser. Zumindest aus Sicht der Gäste.
„Hört nochmal her!“
Jeder drehte sich um. Martins Gesicht war gerötet, er hielt eine Bierflasche in der Hand.
„Hey Martin!“ rief Herbert. „Was willste uns erzählen? Du hast gar nicht im Lotto gewonnen, was?“
Dröhnendes Gelächter von allen Seiten. Sie waren alle genug betrunken, um das irre komische zu finden und lachten lauthals. Es schaukelte sich immer mehr hoch. Martin stand hilflos davor und wusste nicht weiter.
„Du kannst es dir noch überlegen“, sagte Carina. „Wir müssen es ihnen nicht sagen.“
„Doch“, sagte Martin entschlossen. „Das müssen wir.“
Das Gelächter brandete immer wieder auf in immer neuen Witzen.
„Also, wollt ihr jetzt wissen, was Martin euch sagen wollte?“
Diese fast gebrüllte Nachfrage von Barbara sorgte für Ruhe.
„Also.“ Martin atmete durch, nahm einen Schluck aus der Flasche. Gegröhle von den Jungs.
„Wir haben wirklich im Lotto gewonnen. 500.000 Euro. Aber das Geld ist praktisch weg. Und ich glaub nicht, dass wir das wiederbekommen.“
„Was, ihr habt das ganze Geld auf den Kopf gehauen?“
Noch mehr Gelächter. Martin verließ der Mut schon wieder. Er trank noch mehr Bier. Wusste nicht, wie er weitermachen sollte.
Carina sprang ein, sein Engel. „Nein, die Bank hat es falsch angelegt! Wir hatten nur ein bisschen was behalten. Klar haben wir was davon ausgegeben! Dieses Kleid zum Beispiel. Lucy, du warst auch shoppen.“
Lucy grinste nur. Ihre Freunde klatschten Beifall. „Das war die geilste Shopping-Tour seit langem“, verkündete Hanna.
„Schön, dass ihr alle was davon hattet“, sagte Carina.
Gelächter.
„Wir wollten unseren Gewinn mit dieser Party feiern, damit ihr alle was davon habt und hinterher keiner ankommt, dass er nichts gewusst hätte.“
„Richtig!“ rief Peter.
„Wie hätte das denn ausgesehen, wenn wir die Party wieder abgesagt hätten? Also feiern wir. Machen wir Party!“
„Du weißt aber schon, dass die Zeitungsleute genug mitbekommen haben?“ fragte Thomas. „Als wir überfallen wurden, haben sie alles gesehen. Sie wissen von der Party.“
„Verdammt.“
„Wenn wir wissen, wer es war, können wir vielleicht mit ihm reden.“
„Ihr wollt euch mit der Presse anlegen?“ fragte Martin schwach.
„Fällt dir was Besseres ein? Wenn wir ihnen ein bisschen von der Party erzählen, wird es vielleicht nicht allzu schlimm.“
„Und eigene Fotos einreichen?“
„Sowas in der Art.“
Vincent und Thomas zogen sich ihre Jacken an. „Ich habe mindestens einen von ihnen erkannt, und da fahren wir jetzt hin!“
„Muss das denn sein?“ fragte Gertrud.
„ich fürchte, ja“, seufzte Carina. „Sie meinen es doch nur gut. Wer weiß, was die sonst schreiben!“

Die Stimmung war zugleich aufgekratzt, überdreht und heiter und die Luft war raus. Es war bereits nach ein Uhr morgens. Ein paar der Nachbarn waren gegangen, vor allem diejenigen, die noch kleinere Kinder zu Hause hatten und ihre Babysitter entlassen mussten.
Jacques drehte endgültig die Musik leise und legte Sachen auf, die sie runterholten und nicht weiter aufputschten. Lucy und Maryam schleppten Wasserflaschen herein, räumten das Buffet um. Auf einmal hatten sie alle Heißhunger, jetzt, wo die Aufregung vorbei war.
Sie unterhielten sich nur noch leise, es lag ein Summen aus Stimmen in der Luft. Sie warteten auf Thomas und Vincent.
„Wisst ihr was?“ fragte Ali auf einmal. „Die haben hier echt alles beschädigt, was? Aber euer krasser Adventskranz hat nix abbekommen.“

Kurz vor zwei Uhr kamen die beiden Männer zurück, sie sahen erschöpft aus.
„Habt ihr es geschafft? Konntet ihr was verhindern?“
Sie redeten alle gleichzeitig auf die beiden ein.
„Verdammt, lasst uns doch erstmal reinkommen!“ brüllte Vincent.
Er gab eine beeindruckende Figur ab mit dem zerschlagenen Gesicht und der lauten Bass-stimme.
Chantal nahm ihm den Mantel ab, Thomas bahnte sich einen Weg ins Wohnzimmer, füllte einen Teller mit Essen und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Wir haben den Zietkowski erreicht. Gerade noch so“, sagte Vincent und schaufelte sich ebenfalls einen Teller voll.
„Was für ein sturer Schwachkopf.“
„Was ist denn los?“
Die beiden Männer antworteten nicht. Sie aßen. Lucy sprang auf und holte Wein und Bier.
„Mir ist das zu langweilig!“ verkündete Kevin auf einmal.
„Dann geh doch“, erwiderte Chantal.
Kevins Schulfreunde waren ziemlich bald nach Hause gegangen, als klar war, dass die Party vorbei war.
Nur Alex war noch da – er hielt Händchen mit Maryam, Tim fehlte natürlich nicht, er hatte das auch standhaft gegenüber Lucys Eltern und Großeltern vertreten.
„Sollten Sie nicht nach Hause fahren?“ hatte Gertrud die Jungs gefragt. Für einen Moment war sie wieder die missbilligende alte Dame, als die sie früh am Abend aufgetreten war.
Die anderen hatten sie einfach ausgelacht und selbst Erwin grinste in sich hinein.
„Mama, lass gut sein“, sagte Carina und war selber am Grinsen. „Irgendwie gehören sie ja auch zur Familie.“

Am Ende kam heraus, dass sie den Journalisten kurz vor der Redaktionstür erwischt hatten. Hatten ihn regelrecht genötigt, sie mit ins Büro zu nehmen. Er hatte keine Wahl gehabt. Er hatte sich noch damit herausgeredet, dass es ein Pressegeheimnis gebe, aber darüber hatten Vincent und Thomas nur gelacht. Der Reporter war entsetzt gewesen, wie die beiden Männer aussahen. Als Zietkowski begriff, dass sie ihm nichts antun, sondern nur über die Fotos verhandeln wollten, die er geschossen hatte, entspannte er sich. Ein bisschen.
„Sie wollen was?“ Er lachte. „Nee, das können Sie vergessen, dass ich Ihnen erlaube, mir in den Artikel zu pfuschen!“
„Herr Zietkowski, Sie schreiben wirklich tolle Artikel“, sagte Thomas und nahm auf der Tischplatte Platz, schob das Notebook darauf hin und her. Zietkowski saß auf seinem Schreibtischstuhl, die Hände auf den Lehnen, und schaute nervös zu.
„Danke.“ Er rieb sich seine schwitzenden Handflächen an den Hosenbeinen ab und um-klammerte wieder die Armlehnen. Warum, zum Teufel, hatten sie gerade ihn aufgesucht? Warum nicht einen Kollegen, die zum Teil viel dreister als er gewesen waren?
„Wir wollen nicht, dass Ihr Ruf leidet, indem Sie so eine böse Geschichte schreiben“, fuhr Vincent fort. „Ich meine, es geht doch nur um eine Familie. Um Sachen, die jedem mal passieren können, richtig? Und das, was da heute abgegangen ist… Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir die Randalieren bestellt hätten, damit es mehr fetzt?“
„Ich hatte gar nicht vor, so etwas zu schreiben!“ protestierte Zietkowski.
„Zeigen Sie doch mal Ihre Fotos her“, forderte Thomas ihn auf.
„Glauben Sie wirklich, wenn Sie mich bearbeiten, dass die anderen dann nettere Berichte schreiben? Sie sind heute noch, aber spätestens nach Weihnachten, der Aufmacher!“
„Wenn wir Sie auf unserer Seite haben, als wichtigster Redakteur vor Ort, sieht die Sache schon wieder ganz anders aus“, gab Thomas zurück.
„Sie können mir nicht sagen, wie ich meine Arbeit machen soll!“
„Können wir nicht?“ Vincent sah Thomas nachdenklich an. „Ich ruf mal Martin an. Der schickt uns bestimmt Carina, und mit der möchte ich mich ja nicht einmal anlegen!“
„Okay, okay.“ Zietkowski war ein Einheimischer, ganz im Gegensatz zu den anderen Reportern, die in den Garten eingefallen waren. Er hatte hier Frau und Kinder und die kannten wiederum die Familie Wolter. Es war zum Auswachsen. Er beugte sich zu seiner Tasche runter.
„Was haben Sie vor?“
Zietkowski hielt inne. „Ich hole nur raus was Sie haben wollten.“
„Okay. Langsam.“
Der Redakteur ließ sich Zeit, legte Kamera und Diktiergerät auf den Tisch, daneben einen Notizblock, den Thomas sich sofort griff.
„Interessant.“
„Geben Sie den her.“ Zietkowski schwitzte.
„Nein, ich find’s einfach zu genial…“
Vincent hatte sich die Kamera geschnappt und spielte daran herum.
„Sind Sie verrückt, geben Sie her!“
Sie ließen ihn noch eine Weile zappeln, bevor sie ihm sein Arbeitsmaterial zurückgaben.
„Dann zeigen Sie mal her.“
Zietkowski lud die Fotos herunter, während Vincent die Notizen auf dem Block durchlas.
„Spinnen Sie?“ rief er aus. „Offensichtlich legt Familie Wolter es auf einen neuen Lebensstil an! Sie feiern laute Partys, bei denen auch die Mitglieder von Motorradclubs willkommen sind… Die Damen zeigen ihre neuesten Kleider, für die sie sichtbar ein Vermögen ausgegeben haben… Wann bekommen wir die nächsten Exzesse zu sehen?“
Vincent knallte den Block auf den Tisch und stützte sich dicht vor Zietkowski auf der Platte auf.
„Das werden Sie ja wohl nicht schreiben, oder?“
„Stimmt es denn nicht?“ konterte der Redakteur.
„Das ist nicht wahr, und das wissen Sie genau!“
„Ich dachte, zumindest ein paar von Ihren Gästen wären mit denen befreundet gewesen. Für mich sah das so aus.“
„Die konnten sich nicht benehmen“, sagte Thomas. „Na und? Waren Sie noch nie auf ner Party, wo ein paar den Hals nicht voll kriegen konnten?“
Zietkowski spielte mit einem Stift und wich seinem Blick aus.
„Sehen wir uns doch lieber die Fotos an“, schlug er vor.
Das taten sie. Zietkowski war gründlich gewesen. Er war so dicht rangekommen, dass er sogar den Moment eingefangen hatte, in dem Leon Vincent das blaue Auge verpasste.
„Das kann drinbleiben“, sagte Vincent.
„Bist du sicher?“ fragte Thomas verblüfft.
„Das Foto rehabilitiert uns“, erklärte Vincent. „Wenn die Leser sehen, wie ich, als Schwiegersohn, eine reingedonnert bekomme, sind sie mehr auf unserer Seite.“
„Hmmm“, machte Thomas.
„Er hat Recht“, sagte Zietkowski, „auch wenn Sie meine Meinung gerade vielleicht ungern hören.“
„Ist ja dein Gesicht“, sagte Thomas.
Dann wandten sie sich den anderen Fotos zu. Als eines auftauchte, auf dem Thomas unter einem Angreifer am Boden lag, entschied er sich, es drin zu behalten. „Wie gesagt, es kann uns nur helfen.“ Die Auswahl fiel ihnen nicht leicht. Fast eine Stunde und eine heftige Diskussion später warf Zietkowski sie aus der Redaktion. Zurück am Haus kontrollierten sie ohne sich vorher groß abzusprechen das Grundstück. Der Garten war verwüstet. Die Motorräder hatten tiefe Furchten in den vom Regen aufgeweichten Rasen gerissen. Was leicht genug gewesen war, hatten sie durch die Gegend geworfen, was der Sturm drei Wochen zuvor nicht zerstört hatte, war jetzt kaputtgegangen. Dabei hatten sie gerade erst einigermaßen Ordnung geschaffen.
„Hat Martin sich seinen Garten eigentlich schon richtig angesehen?“ fragte Thomas.
„Ich glaube, das will er gar nicht. Dann kriegt er einen Nervenzusammenbruch.“
Sie sahen sich nachdenklich um, inspizierten den kaputten Gartenzaun und die Terrasse.
„Was ist denn das hier?“
Thomas hob einen Zweig auf, der ihm unter den Händen zerbröselte.
„Ich fürchte, das war mal der Tannenbaum.“

Sie beendeten ihre Erzählung, bei der sie sich abwechselten und tranken noch mehr Bier und Wein. Sie waren beide nicht nüchtern. Was spielte das noch für eine Rolle nach dieser Nacht? Sie waren alle zu aufgekratzt, um jetzt schlafen zu gehen. Martin, Peter und Thomas mussten an Heiligabend bis mittags arbeiten, aber wer scherte sich schon darum?
Lucy hielt ein Glas Rotwein in der Hand, was erstaunlich gut mit ihrem roten Oberteil harmonierte. Sie saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa an Tim gelehnt.
„Also haben wir jetzt nicht einmal mehr einen Weihnachtsbaum“, sagte sie.
„Warum eigentlich nicht?“
„Was meinst du?“
Barbara stemmte sich aus ihrem Sessel hoch. „Ja, überlegt doch mal. Wir sammeln hier mal. Ihr braucht den nicht allein zu bezahlen. Wir haben alle mitgefeiert. Und dann bekommt ihr einen neuen Baum. Ich bin sicher, es gibt noch welche. Beim Supermarkt im Gartencenter haben sie ein Schild gehabt, dass sie bis heute Mittag verkaufen.“
„Barbara, nein. Das können wir nicht annehmen!“ protestierte Carina.
„Doch“, sagte Chantal.
Alex und Kevin standen auch auf. „Okay, wie viel Geld habt ihr mit?“
Jeder fing an, in Portemonaies und Taschen zu kramen. Chantal holte eine Schale und ließ sie herumgehen. Sie füllte sich im Handumdrehen.
„Na also“, sagte Barbara zufrieden.
Carina drückte ihre Freundin an sich. „Du bist ein Engel, danke!“
„Wir gehen gleich nachher rüber und kaufen einen Baum“, sage Vincent.
„Danke, danke!“
„Wie seid ihr denn jetzt eigentlich mit Zietkowski einig geworden?“
„Ganz einfach – unsere Fotoauswahl, ein paar Sätze hat er gestrichen oder geändert. Und weil er der exklusivste Zeuge von unserer Party ist, werden sich die anderen künftig erst auf ihn stürzen und dann auf uns“, sagte Thomas zufrieden.
„Das ist aber ein echtes Risiko.“
„Dafür ist er auf unserer Seite. Und er hat echt Gewicht hier in der Stadt.“
„Da hat Thomas Recht.“
„Okay, es ist ja sowieso passiert, wir können jetzt nur noch abwarten, wie es ausgeht.“
„Wisst ihr, wie spät es ist?“ fragte Alex plötzlich.
„Schon halb sechs? Wie konnte das denn passieren?“ fragte Peter so entsetzt, dass sie anfingen zu lachen.
„Frohe Weihnachten!“ sagte Chantal und umarmte ihre Großmutter.
„Frohe Weihnachten, Kind!“ gab Gertrud zurück.
Das löste ein allgemeines Umarmen aus, Ali und Maryam standen daneben und gähnten.
„Ups“, sagte sie und hielt sie die Hand vor den Mund.
Barbara bekam das mit. „Ich glaube, wir sind alle übermüdet.“
Sie holte die ersten Mäntel herein.
„Können wir euch mit dem Chaos hier wirklich allein lassen?“ fragte sie besorgt.
Carina winkte ab. „Das meiste haben wir ja schon geschafft und den Rest erledigen wir heute Nachmittag. Wenn wir wieder fit sind.“
„Wir auch?“ fragte Martin entsetzt.
„Ach ja. Papa kommt ja erst mittags von der Arbeit nach Haus“, sagte Kevin schadenfroh.
Carina schoss einen tödlichen Blick auf ihn ab. „Ich dachte eher an dich, junger Mann. Du brauchst doch so wenig Schlaf, wie du uns immer wieder erzählt hast. Dann kannst du ja auch heute ein paar Stunden weniger schlafen und Papas Teil übernehmen.“
Damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.
Ein paar Minuten später war endlich, endlich Ruhe im Haus. Sie hatten Jacques geholfen, seine Anlage wieder einzupacken, jedem nachgewinkt und kehrten ins Haus zurück.
Chantal konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. „Ich weiß auch nicht, seit das Baby unterwegs ist, schlafe ich wie ein Murmeltier“, klagte sie.
Vincent übernahm das und brachte sie höchstpersönlich ins Bett. Carina löschte bald darauf das letzte Licht im Haus.

Früh um kurz vor acht machte Else sich auf zum Einkaufen. Ihr Weg führte sie an dem Haus der Wolters vorbei. Dort war Licht. Natürlich, dachte sie, die haben bestimmt noch die ganze Nacht gefeiert, obwohl die Polizei die Lärmbelästigung und den Radau beendet hatte. Sie stand vor dem zerstörten Garten und machte sich ihre ganz eigenen Gedanken dazu, als zwei junge Männer das Haus verließen und geradezu unverschämt fröhlich aussahen.
„Guten Morgen, Frau Tammen!“ rief der Junge. Wie hieß er doch gleich? Ach richtig, Kevin.
„Guten Morgen“ sagte sie spitz. „Sie haben ja reichlich Spaß gehabt letzte Nacht. Ich gratuliere Ihnen. Von nun an wird Sie die ganze Nachbarschaft schneiden.“
Der andere Mann grinste. „Das glaube ich nicht, Frau Tammen. Von denen haben nämlich die meisten mitgefeiert und viel Spaß gehabt!“
Else schnaufte empört. „Wer sind Sie denn?“
„Ich bin Chantals Freund.“
Sie musterte ihn verächtlich. „Noch so einer!“
Vincent lächelte entspannt. „Freut mich auch, Sie kennenzulernen.“
„Nun, immerhin hat die Polizei dem Lärm bei Ihnen ein Ende bereitet.“
„Haben Sie die Polizei gerufen?“
„Selbstverständlich! Ruhestörung dulden wir nicht in unserer Straße! Und dann auch noch diese Rüpel auf ihren Motorrädern! Das waren wohl Freunde von Ihnen?“
„Klar, unsere dicksten Kumpel!“ sagte Kevin hitzig. „Was denken Sie denn? Die haben uns überfallen! Lesen Sie doch Zeitung, dann kriegen Sie das auch mit, dass die Bullen die ver-haftet haben!“
„Weil wir nämlich auch die Polizei gerufen haben“, fügte Vincent ruhig hinzu.
Die alte Schachtel wurde offenbar unsicher. Sie kniff die Lippen zusammen und schaute von einem zum anderen.
„Hm. Soso. Wenn ihr das sagt. Aber das mir das nicht noch einmal vorkommt!“ rief sie noch, als sie bereits ein paar Meter entfernt war.
Kevin und Vincent sahen sich an, hielten die Luft an und prusteten los, als die alte Tammen außer Hörweite war.

Natürlich brachten sie nicht nur einen Weihnachtsbaum mit sondern auch eine große Tüte Brötchen.
Die Nacht hat uns näher zusammengebracht, dachte Carina, als sie Kaffee und Tee zubereitete und zuschaute, wie Lucy und Gertrud gemeinsam den großen Tisch im Wohnzimmer fürs Frühstück eindeckten. Sie hatten auch jetzt noch mehr Gäste als anfangs gedacht. Und alle verstanden sich!
Gertrud und Erwin hatten im Gästezimmer übernachtet, Tim hatte kurzerhand seine Eltern angerufen und dann sich bei Lucy im Zimmer einquartiert – obwohl Martin ihn ansah, als wollte er ihn aus dem Haus jagen. Zum Nachmittagskaffee hatten sich Carinas und Martins Geschwister mit ihren Familien angesagt. Immerhin das war schon vor Wochen abgesprochen worden. Bescherung fand alle Jahre wieder in einem anderen Haus statt.
Vincent und Kevin wurden begeistert begrüßt, der neue Tannenbaum bewundert und sofort von den Männern mit vereinten Kräften im Wohnzimmer vor der Terrassentür aufgestellt – wie jedes Jahr. „Den Flitterkram überlassen wir den Damen“, sagte Martin keuchend und wischte sich über die Stirn, als der Baum endlich grade stand.
„Na hör mal!“ sagte Carina empört.
Sie drehten sich zu ihr um. „Was, habe ich denn nicht Recht?“ fragte er.
Sie schnaubte nur. „Kommt lieber frühstücken!“

Es wurde eine laute Runde. Gesprächsthema war natürlich die vergangene Nacht, Kevin und Vincent erzählten von ihrer Begegnung mit der alten Schachtel. Als alle so satt waren, dass es zumindest für ein paar Stunden reichte, verteilte Carina die nächsten Aufgaben. Es war das erste Mal, dass keiner maulte und Widerworte gab. Sie war verblüfft, wie reibungslos das lief.
„Wir sollten öfter mal zusammen eine Nacht durchmachen“, sagte sie. „Danach seid ihr viel umgänglicher.“
Das letzte Wort ging unter im Geschirrgeklapper und dem lauten Buh von Kevin und Lucy, in das fast alle einstimmten. Nur Gertrud spitzte die Lippen, sah ihren Mann kopfschüttelnd an, der genauso laut war wie alle anderen, und seufzte.
„Du wirst aber auch nie erwachsen!“

„Was ist denn hier passiert?“ fragte Nicole lachend, als sie das Wohnzimmer betrat.
Die Schwester von Martin hatte ihren Mann und ihre vier Kinder mitgebracht.
„Da hat die alte Schachtel wieder was zu lästern, wenn sie unsere große Familie sieht“, flüsterte Lucy Chantal zu. Die bekam Schluckauf vor Lachen.
Währenddessen erzählte Carina ihrer Schwägerin von der vergangenen Nacht.
„Oh“, sagte die und sah genauer hin. „Dafür ist es ja wieder wie geleckt!“
„Das wollte ich dir gerade sagen!“
„Euer Baum ist besonders schick.“
Stella stand mit schiefgelegtem Kopf davor und schien jeden einzelnen Zweig zu analysieren.
„Du wirst nicht glauben, wer da mitgeholfen hat.“
„Wer denn?“
„Der Kleine hier.“
„Was, Kevin?“ Stella grinste.
„Hey!“ Er stand auf einmal neben ihr. „Hast du mich klein genannt?“
„Na, das bist du doch auch.“ Stella war ein halbes Jahr jünger als Kevin.
„Gut, dass ich keine Mädchen schlage“, grummelte ihr Cousin.
„Und was an dem sagenhaften Baum ist von dir?“
„Das Design. Hast du so eine Zusammenstellung schon einmal gesehen?“
Sie sah sich den Baum noch einmal genau an. „Nein“, gab sie zu. „Das warst du?“
„Wir durften nur mithelfen und nach seinen Anweisungen alles aufhängen“, bestätigte Lucy und stöhnte. Aber sie lächelte. „Kevin, erzähl ihr von dem coolen Paintbild für die Garagen-wand.“
„Das ist ja total krass“, sagte Stella, als er fertig war. „Hab ja schon lang nix mehr von dir gesehen, zeigst du mir Bilder von dir?“
„Kann ich machen“, antwortete Kevin, er vergrub die Hände in den Hosentaschen und sah unbehaglich aus.
„Vielleicht wirst du ja mal Künstler?“
„Sag sowas nicht!“ rief Martin. „Hat er dir auch erzählt, dass er Ärger mit der Polizei hat?“
„Is nicht dein Ernst?“ rief Stella.
„Sag, dass das nicht wahr ist!“
Kevin war auf einmal in die Enge gedrängt, sah hilfesuchend zu seinem Vater. Martin schüttelte den Kopf. Das war Kevins Sache, er musste da allein rauskommen.
Er lächelte verlegen und wurde rot. Chantal riss vor Überraschung die Augen auf. Ihr kleiner Bruder konnte ja tatsächlich verlegen werden.
„Müssen wir darüber wirklich jetzt reden?“ fragte Lucy.
Sie stand auf einmal mittendrin, hatte Tim an der Hand und strahlte alle an. „Wir haben doch viel schönere Neuigkeiten!“
Kevin sah sie dankbar an und zog sich zurück.
„Ihr bekommt ein Kind?“ rief Stella.
Tante Stephanie, Tante Nicole und Carina riefen alle gleichzeitig Nein! und schlugen sich die Hand vor den Mund.
Lucy sah ihre Mutter schräg an. „Du weißt doch ganz genau, dass ich nicht schwanger bin.“ Sie küsste Tim. „Das hier ist mein Freund Tim. Ich will ihn euch heute vorstellen“, sagte sie und strahlte über das ganze Gesicht.
Tim war einfach geblieben. Nach einem langen Telefonat in den frühen Morgenstunden zwischen Martin und Tims Vater hatte er die Erlaubnis bekommen, Heiligabend bei der Familie zu verbringen.
Zum Glück hatte Lucy ihn vorgewarnt. „Sie werden dich sezieren“, hatte sie gesagt. „Ganz genau unter die Lupe nehmen und ausfragen!“
Die Tanten runzelten die Stirn und spitzten den Mund, musterten ihn kritisch und dann fingen sie gerade an, ihn auszufragen, als Lucy sich räusperte.
„Wir haben noch eine Neuigkeit.“
Es war bewundernswert, wie Lucy es immer wieder schaffte, einen Raum mit einem einzigen Satz zur Ruhe zu bringen. Wieder richteten sich alle Augen auf sie. Lucy stand strategisch günstig vor dem glitzernden Weihnachtsbaum. Draußen wurde es allmählich dunkel. Martin hatte kurz zuvor de Lampen am Baum eingeschaltet.
Lucy winkte Chantal und Vincent, und die beiden kamen Hand in Hand nach vorn.
„Deinen Freund kennen wir auch noch nicht“, sagte Nicole.
„Stimmt.“ Chantal lächelte genauso glücklich wie Lucy, aber bei ihr kam noch ein Strahlen dazu, das ihrer Schwester fehlte.
„Also, das ist Vincent, der beste Mann der Welt.“ Sie küsste ihn.
„Buuh“, rief Lucy.
Chantal lachte. „Zumindest für mich. Und es wird noch besser.“
Sie wurden wieder ruhig.
„Ich bekomme im Mai ein Kind.“
„Na, das nenn ich mal eine Neuigkeit! Was wird’s denn?“ Niemand sah Chantal oder gar Vincent schräg an, sie stürzten auf sie zu, umarmten sie beide, beglückwünschten sie.
Lucy lächelte ihre Großmutter an, die zurücklächelte. Ja, sie hatte sich damit abgefunden, jetzt schon Urgroßmutter zu werden. Sie war überhaupt viel lockerer geworden auf einmal. Und Erwin saß mit einem sehr zufriedenen Lächeln im Sessel und betrachtete die Gruppe vorm Weihnachtsbaum.
„Ich hab’s dir doch gesagt“, sagte er zu Martin. „Das Mädchen macht sich. Die findet ihren Weg schon.“
Martin brummte irgendwas, das in dem allgemeinen Jubel unterging.
Chantal wurde in die Mitte genommen, als sie sich an den Kaffeetisch setzten.
„Du hast uns wirklich gefehlt“, sagte Nicole.
Chantal lächelte zurückhaltend. „Ich brauchte Abstand von Papa. Sonst wäre hier im Sommer alles in die Luft geflogen!“
„Er hat dich richtig schlecht gemacht. War froh, als du weg warst.“
„Ja, das passt zu ihm“, schnaubte Chantal. „Ich hatte richtig Schiss, ihm wieder unter die Augen zu treten. Zum Glück ist alles gut gegangen. Lucy und Kevin haben ihn genug beschäftigt. Ich konnte immerhin einen anständigen Job vorweisen.“
„Und dass du ein Kind kriegst?“
„Was denkst du denn?“
Nicole lachte. „Er war sicher nicht begeistert.“
„Die Party gestern Nacht.“
„Was habt ihr da gemacht? So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Nicht bei euch, jedenfalls.“ Ihre Tante sah neugierig aus. Die anderen hörten jetzt auch zu.
Martin sah ein, dass er nicht mehr drum herum kam. Sie erzählten gemeinsam von der vergangenen Nacht, ernteten Lachsalven und entsetzte Ausrufe.
„Ich glaube also kaum, dass Papa mir jetzt noch groß Vorwürfe macht, weil ich ein Kind bekomme und auch sonst überhaupt nicht seine Pläne befolgt habe“, endete Chantal.
„Du bist ja so durchtrieben!“
„Von nichts kommt nichts. Von der Party letzte Nacht hättet ihr spätestens in der Zeitung am Siebenundzwanzigsten gelesen. Die Reporter sind hier wie die Hunde eingefallen.“
Stella hörte zu und war begeistert. Stefanies Jungs, Niklas und Philipp, saßen mit Kevin zusammen und ließen sich von ihm in die Geheimnisse des Sprayens einführen.
Martin flüchtete sich bald auf den Dachboden und holte die großen Tüten mit den Geschenken herunter. Die ganze Verwandtschaft hatte die Päckchen in den vergangenen Wochen bei ihnen abgeliefert. Er stapelte die Pakete und Päckchen rund um den Baum, rückte Sessel und Hocker zurecht, hörte den Erzählungen und dem Gelächter aus der Essecke zu. Seine Familie hatte Spaß. Sie vertrugen sich. Chantal war von allen begeistert begrüßt worden. Seine Schwester Nicole hatte ihm nur die Hand gegeben. Es musste sich was ändern.
Martin griff zu der Glocke, die sie nur an Weihnachten benutzten, und läutete.

„Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht…“
Gertrud und Erwin hatten zu singen begonnen, als sie ins Wohnzimmer herüberkamen und nach einem kurzen Moment der Überraschung waren die anderen nach und nach eingefallen, soweit sie den Text noch kannten. Die Großeltern hatten es ihren Töchtern beigebracht, Martin und Nicole hatten es in der Kindheit auch gelernt, ihre Kinder hatten sich meistens die Ohren zugehalten, aber dieses Jahr war nichts wie sonst. Sie versammelten sich um den Weihnachtsbaum, die Paare hielten sich im Arm und in diesem Moment war alles vergessen, was in den letzten Tagen und Stunden passiert war.
„Frohe Weihnachten!“ sagte Carina nach dem Lied.
„Frohe Weihnachten!“ fielen die anderen ein.
Die „Kinder“ bekamen die Aufgabe, die Geschenke zu verteilen. Chantal winkte lachend ab und legte eine Hand auf ihren Bauch. „Im nächsten Jahr macht mein Knirps dabei mit!“

Viel später, als ihre Geschwister mit ihren Familien und Gertrud und Erwin abgereist waren und es beinah wieder Mitternacht war, winkte Martin seine Kinder heran.
„Vincent, Tim, ihr auch.“
„Wir wollten euch was sagen“, begann er und brach ab. Schaute hilfesuchend zu Carina, wie immer.
Lucy unterdrückte ein Lachen. Kevin schaffte das nicht.
„Papa, das wirst du nie mehr lernen“, sagte Chantal grinsend. Er brummte in sich hinein.
Carina erlöste ihn.
„Wir haben eine Menge erlebt in den letzten Wochen. Es war nicht immer leicht für uns alle.“
Jetzt fand Martin seinen Faden wieder. „Chantal, entschuldige bitte, was ich im Frühjahr gesagt habe. Natürlich gehörst du zur Familie. Ich habe dich gern bei mir. Und ich freue mich auf das Kind. Auch wenn es eine ganz schöne Überraschung war.“
„Oh Papa…“ Chantal fehlten die Worte. Sie stand auf und umarmte ihn.
Martin räusperte sich verlegen und drückte sie an sich.
„Gab ja ‘ne Menge Streit in den letzten Wochen.“
„Und Aufregung“, fügte Lucy hinzu.
„Ich hätte nicht Lotto spielen dürfen“, gestand Martin.
Jetzt lachten sie alle. „Dafür haben wir echt Sachen erlebt, die macht uns so schnell keiner nach.“
„Was Papa euch sagen wollte.“ Carina wartete. „Er hat eingesehen, dass ihr alle eure eigenen Köpfe habt und manchmal ganz schön eigensinnig sein könnt… Aber wir lieben euch alle. Wir haben in diesem Jahr alle bewiesen, dass wir verrückte Hühner sein können.“
„Ich wollte eigentlich nur sagen.. Ich bin auf keinen von euch böse. Und Mama auch nicht. Kevin, vielleicht solltest du aber wirklich schauen, dass du im Atelier Kreativ unterkommst.“
Kevins Gesicht begann zu leuchten.
„Lucy, ich habe gestern Nacht noch mit einem Polizisten gesprochen. Die Typen, die dich fertig gemacht und uns überfallen haben, sitzen in U-Haft.“
„Danke, Papa!“
„Und Zietkowski hat mir vorhin eine Mail geschrieben.“
„Hat der Weihnachten nichts anderes zu tun?“ rief Tim.
Noch mehr Gelächter.
Martin fuhr grinsend fort: „Er hat mit seinem Chef gesprochen. Wir sind die schrägste Familie in der ganzen Stadt. Sie werden es schaffen, die Presse unter Kontrolle zu halten und zwar, indem sie ab jetzt regelmäßig über uns berichten. Sozusagen Homestories, alle paar Wochen mal. Gegen Honorar. Was haltet ihr davon?“
Die Frage war überflüssig. Seine Familie brach in Triumphrufe aus.
„Mama“, sagte Lucy und zwinkerte Carina zu. „Da werden aber eine Menge Besuche im Kosmetikstudio fällig!“

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