Das weisse Wellental
von Hans ibins (ibins)

 

10. Kapitel


DAS WEISSE WELLENTAL


ODER
DER BERG UND DER WILLE DES MENSCHEN



Bei einer Autofahrt auf den Brennerpass hatte ich eines schönen Frühsommertages des Jahres 1982 von Schönberg aus gesehen, dass am Wildem Freiger noch viel Schnee lag. Am Nachmittag des nächsten Tages packte ich Schi, Schlaf- und Biwaksack ins Auto und machte mich von der Grawa-Alm aus auf den Weg. Über satte Almwiesen der Sulzenau und die blühenden Almrosengärten um die Sulzenauhütte querte ich hinüber unter den Wilde-Freiger-Ferner. Die Sternenklare Nacht unter freiem Himmel schlief ich prächtig bis zum Morgengrauen durch, obwohl es unter 0 Grad abkühlte. Bei festem Harschschnee stieg ich im goldenen Morgenlicht einsam in einer beglückenden Stille den 1200m hohen, nordseitig gelegenen Gletscherhang hinauf. Ebenmäßig, nur von wenigen harmlosen Spalten durchzogen, wand sich das Gletscherband zwischen braunen, aperen Felsköpfen höher und höher dem tiefen Azurblau des Himmels entgegen. Ohne Menschenspur, wie bei einer Erstbesteigung war ich 3 Stunden später am Gipfel. Und erst die Abfahrt, ein rauschendes Firnerlebnis wie noch nie zuvor. Gleichmäßig von oben bis unten 2cm aufgefirnt. Dann lag ich bei meinem Lagerplatz in der Sonne, blickte dann und wann hinauf zu meiner Abfahrtsspur und dachte, genussvoller und harmloser kann Schibergsteigen nicht sein.

Knapp 10 Jahre später bin ich wieder allein am Weg zum Freiger, diesmal auf anderer Route. Ich habe den weiten und zweitausend Meter hohen Anstieg aus dem Langental und über die NO-Flanke des Grüblferners ausgesucht.
Es ist Jänner, das Wetter trüb und saukalt, eine NO-Lage, mit stärkerem Höhenwind. In Innsbruck liegt wenig Schnee, die Straße zum Stubaier Gletscher ist aper, aber ab 1300m ist es tief verschneit. Im Wald liegt Pulverschnee, über der Waldgrenze ist alles verblasen, Windharsch, meist fest angepresst. Die Steilrinne oberhalb der Besuchalm ist ein einziges hartes Schneebrett, so fest angeblasen, dass es mir lawinensicher erscheint. Nach dem Flachstück unterhalb der Nürnberger Hütte ist ein steiler Hang nach links aufwärts zu queren. Sehr ausgesetzt, denn rechts ist eine senkrechte Schlucht 15 m hinunter zum Gletscherbach. Nicht auszudenken, denn man an dieser Stelle ins Rutschen käme. Am Weiterweg durch die nächste Steilstufe ist der Bach wieder fest mit hartgepresstem Schnee zugedeckt. Der kalte Wind wird immer stärker, linker Hand, Richtung Feuerstein sieht man die Wolken und Schneefahnen über den Grat jagen. Keine Begehungsspuren, kein Mensch weit und breit, ich bin einsam den Naturgewalten ausgeliefert. Mein Gefühl ist schon etwas mulmig, als ich vom 3. Talbecken nach rechts auf den Gletscherhang des Grüblferners ziehe. Große Windgangeln, mit frestgepresstem Schnee erschweren den Weiterweg. Eine Schneerippe und ein weißes Wellental reihen sich an das andere. Der Hang selbst wirkt recht ebenmäßig. Das Wetter wird auch etwas besser, sogar zeitweise sonnig. Ich bin bereits 3 Stunden unterwegs, und doch erst im ersten Gletscherbecken auf 2500m Höhe. Rechts hinauf, wo ich eigentlich laut Karte den Weiterweg geplant habe, versperren Blankeis-Gletscherrücken den Weg. Ich habe nämlich weder Steigeisen noch Pickel dabei. Was ein echter Abenteurer ist, geht allein ohne Ausrüstung im Hochwinter eine lange und schwere Gletschertour. So ziemlich alles, was bei der Bergführerausbildung verboten ist. Also weiche ich auf den Gletscherast Richtung Freigerscharte aus. Ich quere einen Steindurchsetzten Eishang mit dünner Schneeauflage nach rechts auf eine schmale Pforte zu, die zwischen Felsen hindurch sehr steil hinaufleitet auf den oberen Teil des nun wieder tief schneebedeckten Gletschers. Nach 4 Stunden habe ich 1600 Höhenmeter hinter mir und die steile Rinne überwunden. Mich empfängt ein eisiger Nordostwind begleitet von Schneewehen.
Die bewegten Schneekristalle rauschen eigenartig, bis zu Brusthöhe weht der Schnee, den Boden kann man nur dann und wann erahnen. Links oben sehe ich schon das Gipfelkreuz, vielleicht 200m höher. Aber ich muss noch nach rechts, einen steilen Schneehang, wieder mit großen Windgangeln, umrunden um dorthin zu kommen. Es hat so an die 20 Grad minus, der Wind erreicht wohl in den Böen 60 km/h, aber ich kämpfe mich weiter aufwärts. Schon an die 50 große Windgangeln mit steilen Kämmen und bis zu 1m tiefen Tälern habe ich gequert. Der Hang sieht im Ganzen wenig spaltengefährdet aus. Die Wellentäler sehe ich nicht, aber ich spüre sie.
Doch Hoppala, plötzlich ist in so einem Tal das beißende Pfeifen des Windes weg, ich breche ein, ich falle. Ein dumpfer Aufprall mit dem Körper, Windstille, 8m über mir ein Loch im Schnee, über dem im Blau des Himmels die vom Winde verwirbelten Kristalle des Triebschnees tanzen. Noch rutsche ich weiter, dann verkanten sich die Schier, ich stecke fest. Wo bin ich, Panik! Lebensangst? Ich bin gefangen in einer Gletscherspalte. Und wie! Links hängt mein Oberkörper an einer kaum einen Vogel tragenden Schneebrücke. Nach links oben eine 70 bis 80 Grad steile Blankeiswand mit teilweise dünnen Schneeanwehungen. Rechts 8m nach oben leicht überhängendes tiefblaues Blankeis. Rechts unter meiner Hand: Gähnend schwarzer Abgrund, nach unten sich A-förmig erweiternd. Rasend zieht die Angst ein. Sind es meine letzten Sekunden, rutscht einer der beiden Schier am blanken Eis weiter, bin ich weg. Geht eine Schibindung auf, bin ich verloren. Bricht die fragile Brücke, an der ich mit dem Oberkörper hänge, noch bevor ich mich links hinauf dahin zu retten versuche? Schluckt mich der gähnend schwarze Abgrund rechts endgültig?
Mein ganzes Leben zieht rasend schnell an mir vorbei. Alte, längst vergessene Erlebnisse kommen zum Vorschein. Fetzen aus der Kindheit, meine Arbeit, meine geliebte Helga. Was werden meine beiden Kinder ohne Vater machen.

Dass diese Zeilen hier geschrieben werden konnten hing an einem seidenen Faden.
Aber im Menschen steckt Lebenswille, solange noch der Funken einer Hoffnung besteht. Es ist so kalt an der linken Hand, jawohl, beim Sturz hat es mir den Handschuh ausgezogen. Mit nackten Fingern klammere ich mich an das Schneebrücklein, das mich abgebremst hat. Genau an der Stelle, wo die Spalte am engsten ist. Oben am Loch, durch das ich gefallen bin, ist sie ca. 1 1/2m breit, verengt sich bis zu mir herunter auf 40cm, ins schwarze Loch hinunter wird sie wieder breiter. Mein linkes Bein schmerzt. Wo ist mein linker Schistock? Das Schwarze Etwas hat ihn verschluckt, genauso wie den Handschuh. Ganz vorsichtig versuche ich, die Schier links und rechts im Blankeis so zu verkeilen, dass sich meine Lage stabilisiert. Den rechten Teleskopstock schiebe ich irgendwie zusammen, stoße ihn wieder und wieder rechts ins Eis. Schließlich steht er am geschlagenen Loch stabil nach links oben. Damit gelingt es mir, mich an ihm und den verkrallten Schiern hochzustemmen. Mein Bauch gelangt nach links drehend flach auf das Schneebrückl. Nun schnell die linke Hand in die Hosentasche, die Fingerspitzen sind schon weiß. Hält die Brücke? Vor lauter Angst und Kälte beginne ich zu zittern. Mir fällt auch noch der 2. Schistock aus der Hand, klirrend verschwindet er im schwarzen Loch. Ich hole die Thermoskanne mit dem warmen Tee aus dem Rucksack, trinke gierig ein paar Schlücke. Zusammenreißen, klar denken, überlegen. Das Zittern vergeht. Bleibe ich hier gefangen? Ich ertappe mich dabei, laut um Hilfe zu rufen, im selben Augenblick erkennend, dass es nichts nützt. Wer soll mich hier finden? Vielleicht ein Hubschrauber, der zufällig darüber fliegt und meine Schispur sieht, die am Loch endet? Nein, die hat der Sturm längst zugeweht. Eigentlich, denke ich ist es hier unten recht angenehm, wenn man bedenkt, wie oben der Sturm tost. Vielleicht schlägt meine Frau am Abend Alarm? Dann ist wohl erst frühestens morgen Vormittag eine Suchaktion zu erwarten. Das wird eine harte Nacht. Vielleicht ist noch ein anderer irrer Tourengeher meiner Spur gefolgt und findet mein Loch? Vielleicht sieht jemand mein Auto drunten in der ersten Kurve des Forstweges stehen und fragt sich wo der Fahrer ist? Alles Wunschdenken.

Die unsichere Schneebrücke, der schwarze Abgrund, nein, ich kann und darf nicht auf ein Wunder von oben warten. Aber wo sind meine Chancen, hier lebendig wieder herauszukommen? Wie viel % habe ich noch, 0%, 5%, 10%? Mehr sicher nicht. Ich habe weder Steigeisen, noch Eisschrauben, noch Pickel. Die Schistöcke, das einzig Spitze was ich hatte liegen am Grund des schwarzen Lochs. Und ach ja, mein linker Unterschenkel brennt wie Feuer. Die Schier belasten die Brücke am wenigsten, noch habe ich sie an. Meine Sehnsucht richtet sich links hinauf, dem Einsturzloch entgegen. Aber wie? Links über mir, ca. 3m ist ein 10cm schmaler Absatz im Eis. Kann ich ihn vielleicht erreichen? Das Eis bis dorthin ist teilweise mit angewehtem Pulverschnee bedeckt. Dann wieder ein, zwei Meter Blankeis, darüber wieder spärlich schneebedeckt. 6m über mir ist dann eine weitere, größere Schneebrücke. Dorthin müsste ich kommen!?

Ich schnalle die Schier ab und beginne mit der runden Schaufel kleine Kerben in die Wand zu ritzen. Sie sollen mir als Tritte dienen. Mit der linken Hand in die dünne Schneeauflage verkrallt, mit der Rechten in der anderen Wand entgegenstemmend kämpfe ich einen Schritt nach dem anderen höher. Noch fehlt mir ein halber Meter bis zum 10cm breiten Absätzchen. Aber es wird immer schwieriger, die Spalte wird breiter. Ich bin schon einen Meter über der Schneebrücke, da kann ich mich nicht mehr halten, es geht wieder bergab. Welch Wunder, abermals hält mich das erstaunliche Ding von einigen 10cm Schnee, das sich links und rechts am Eis angelagert hat, und auf das ich mich vor einer halben Stunde von unten kommend retten konnte. Was bin ich doch für ein Glückspilz in all meiner scheußlichen Lage. Die Schneebrücke muss doch gut sein, sie hat gehalten, obwohl ich diesmal mit den Füßen ankam. Wieder rasen in Lebensangst die Gedanken. Die oft unbegründeten Ängste meiner Frau bei den wenigen Schitouren, die sie in den vergangenen Jahren mit mir gemacht hatte, huschen wie in einem Film vorbei, meine Bergerlebnisse, die Biwaknacht am Griesferner. Heute bin ich wohl in einer ungleich hoffnungsloseren Lage.
Aber von Aufgabe keine Spur. Ich beginne meine nackte kalte Hand wieder aufzuwärmen. Neue Taktik, neue Change? Schon zuerst habe ich überlegt, aktiv die Schier einzusetzen, mit deren Hilfe an der linken, 75 Grad geneigten Wand mit der Schneeauflage zu klettern. Ich könnte versuchen die Schier in der dünnen Schneeauflage der Wand als Anker zu benützen und mich daran hochziehen. Dann habe ich den Plan deshalb verworfen, weil ich Angst hatte, bei einem Ausbrechen der Schi unweigerlich im schwarzen Loch zu verschwinden. Aber jetzt, nachdem mich die Brücke ohne Schi gehalten hat, sah ich nur mehr diese Möglichkeit, zumal ich damit unabhängig von der sich vergrößernden Spaltenbreite wurde. Ich schlug, presste so gut es ging die beiden Schi mit der Bindung voraus in die Schneeflecken. Vorsichtig zog ich mich mit beiden Händen daran hoch und setzte den rechten Fuß wie automatisch 40cm höher in die Kerbe von vorher. Den schmerzenden Linken zog ich nach. Halten die Tritte? Wenn gar ein Schi aus der Verankerung fällt? Mit allen Vieren klebte ich an der Wand. Ich versuchte, mit dem linken Fuß 30cm höher in die nächste Kerbe zu steigen.
Der Unterschenkel wollte sich schmerzerfüllt weigern, aber mein Gehirn befahl: Du musst jetzt diesen Fuß belasten, sonst kommst du nicht weiter. Die blanke, linke Hand muss wieder aufgewärmt werden, sie ist schon ganz gefühllos. Die Schier höher setzen, beim 5. Schritt streckt sich der linke Fuß schon wie in Trance trotz beißendem Schmerz. Ich stehe auf den 10cm-Absätzchen. Da stand ich nun, aber wie geht es weiter. 1 ½ m Blankeis mit diesem Fuß? Aber wozu hatte ich zwei gesunde Hände. Ich beginne, mit der Schischaufel wieder Kerben zu ritzen. Beinahe aussichtslos, das Eis ist hier viel zu hart. Da erinnere ich mich an mein Taschenmesser in der Hosentasche. Mit klammen Fingern ritze ich Kerbe um Kerbe für die Füße. Dann stoße ich die Bindungen der Schier über meinem Kopf in die Schneeauflage, die hier etwas dicker ist als weiter unten. Das gibt Vertrauen. 80 Grad steil ziehe ich mich irgendwie hoch, zuerst probehalber, automatisch kommen die Füße nach. Halten sie beim Höhersetzen die Schier? Das letzte ganz große Fragezeichen, bevor ich in der dickeren Schneeauflage damit bin. Hier steige ich derart schnell mit den Füßen weiter, dass ich bald die Schier vergessen hätte. Schon kann ich mit der Hand die obere Schneebrücke erreichen und auf Festigkeit testen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, schon ganz oben beim Loch zu sein. Nochmals die Schier höher gesetzt, kann ich mich flach auf die obere Brücke ziehen. Das Loch, ja tatsächlich bin ich ihm schon nahe. 3 Meter noch, nur mehr 65 Grad steil, was ist das schon gegen die 6 schweren Meter von unten. Durchgehende Schneeauflage bis zum Spaltenrand. Nur nicht nachlassen in der Konzentration, es könnte ja Blankeis unter dem Pulver sein.
Ich spüre etwas Luftzug. Noch nie wollte ich so gern in einen Schneesturm hinaus. Aber vorher braucht die nackte, gefühllose linke Hand wieder Wärme.
Dann die Schier wie gehabt in die linke Schneewand. Nach 2 Schritten reicht die Hand an den Spaltenrand, aber wie aus dem Loch kommen? Es ist ca. 1 1/2m lang und einen halben Meter breit. Die Schneeränder, windgepresster Pulverschnee, hängen überall über das Eis herein, an der geneigten Wand weiter als an der überhängenden. Ich schiebe einen Schi durch das Loch, stelle ihn quer, mit der Schaufel zum Eisrand, mit der Bindung in den Pulverschnee. Vorsichtig belaste ich ihn, er scheint gut zu halten. Dann packe ich mit beiden Händen zu. Lebensangst, die bisher immer im Nacken saß, wechselt plötzlich in das Gefühl: Ich könnte es schaffen, ja ich schaffe es. Die nackte Hand krallt wie besessen in den Schnee und zieht den Körper über den unteren Spaltenrand. Der Sturm, der schmerzende Fuß, die eiskalte Hand werden vor lauter ausgeschütteten Glückshormonen nicht mehr wahrgenommen. Ich liege sicher etwas unterhalb der Spalte im Schnee. Noch muss ich aber den 2. Schi heraufholen, den habe ich in der Hitze des Gefechtes beim Ausstieg aus dem Loch vorgegeben, wiewohl doch 2 Schier doppelt so sicher gewesen wären. Nochmals muss ich mich mit Kopf und Oberkörper in das Loch beugen. Ich will die Spalte gar nicht mehr sehen, mein Blick richtet sich nur mehr an die linke Begrenzungswand, wo mein Schi klebt. Meine Hand reicht gerade noch bis zur Schaufel hinunter. Vorsichtig aus seinem Schneebett gelöst, wuchte ich ihn über den Spaltenrand.

Ich bin gerettet, ich habe mich selbst aus einer schier ausweglosen Situation befreit. Aber die Freude währt nur kurz, was kommt jetzt? Nicht der Fuß ist nun das Problem, obwohl er schon beim Anziehen der Schier viel stärker schmerzt als unten in der Todesangst. Auch nicht die fehlenden Stöcke sind es, obwohl sie weiter unten in der Steilrinne recht praktisch wären. Nein, es ist die panische Angst vor einem weiteren Spaltensturz. Bei jeder Windgangel, die ich quere, kehrt der kalte Schauer zurück. Spalte, Spalte, rast es mir bei jedem Wellental durch den Kopf. Erst vor der Rinne, wo der Hang nicht mehr so verblasen und ohne Dellen ist, begann sich die Todesangst zu legen. Ich konnte schon wieder denken: Was wird mein Fuß zur Steilrinne sagen, hätte ich doch noch Stöcke. Aus den ersten Grünerlen, die ich beim Aufstieg gesehen hatte, werde ich mir welche schnitzen. Das nützt mir hier nichts, in breiter Sicherheitsschiführung rattere ich den steilen Hang mit Eisunterlage hinunter. Das Gelände ist nun flacher, ich leiste mir in den letzten Sonnenstrahlen den Luxus der Jause. Wie spät ist es eigentlich, komme ich noch vor Einbruch der Dunkelheit zur Straße hinunter. ½ 1 Uhr war es, als ich unten in der Spalte auf die erste Schneebrücke kam und panisch um Hilfe rief. Jetzt ist es ¾ 4 und ich muss weiter. Es kommt noch der untere Hang mit den Windgeformten Schneewellen, die nicht anders aussehen als jene, die ich oben durchlöchert hatte.
Dann war der Gletscher hinter mir, die stundenlange äußerste Nervenanspannung konnte weichen. Die ersten Hölzer, die aus dem Schnee ragten, waren Birken, keine Erlen. Sie wurden zu Schistöcken. Noch vor 5 Uhr erreichte ich das Auto. In dem Moment, als ich die beiden Birkenstöcke hinter mich warf, wusste ich, dass mein 2. Leben begonnen hatte.
Wie groß und mächtig ist der Berg, wie winzig dagegen der Mensch. Mich hat er zufällig übrig gelassen. Dabei wird es ihm ziemlich egal sein, ob ich in seinem nicht ganz ewigen Eis verschwinde. Nach 50, 60 Jahren würde er mich ohnehin wieder ausspucken. Das ist seine wahre Größe. Wenn der Berg gnädig ist, hat der Mensch auch seine Change. Diese Change habe ich mit meinem Geist und meiner Körperkraft an diesem 29. 1. 1991 nützen dürfen.

Mein 2. Leben begann mit einem Hinkebein. Muskelfasereinriss im linken Unterschenkel stellte der Röntgenarzt, selbst ein begnadeter Bergsteiger, fest als ich gerade mal 2 Tage alt war. Der Gedanke an die Sekunden und Minuten über dem A-förmigen schwarzen Abgrund hat mit seither schon oft geholfen, über den Kleinigkeiten des täglichen Lebens zu stehen.

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