Philosophie der Mathematik
von Reinhard Gobrecht (gobrecht)

 

Philosophischer Beitrag

Warum treibt Mathematik die Seele nach aufwärts?

Mathematik gehört ihrer Natur nach zu denjenigen Wissensfächern, die zur Vernunfterkenntnis hinleiten. Die sinnliche Wahrnehmung erkennt über die Gegenstände Großes und Kleines. Dies ist ein Anlass danach zu fragen, was überhaupt Großes und was überhaupt Kleines ist. Die Wahrnehmung kann also unser Denkvermögen anregen. Ähnlich verhält es sich, wenn wir einen bestimmten Gegenstand wahrnehmen oder wenn wir mehrere Gegenstände derselben Art davon wahrnehmen. Dies ist ein weiterer Anlass für die Vernunft zu fragen, nämlich was ist überhaupt Eines und was sind Mehrere.

Wenn durch die Anschauung alles in voller Eindeutigkeit und Reinheit aufgefasst und erkannt werden könnte, gäbe es keine Anreize für die Aktivität der Vernunft. Dadurch aber, dass scheinbare Widersprüche auftauchen, dadurch also, dass Gegenteiliges angeschaut werden kann und wahrgenommen werden kann, nämlich Großes und Kleines, Eines und Mehreres, dadurch drängen sich der Seele Zweifel auf und sie muss nach einem Richter Ausschau halten. Die Seele muss also weiter forschen, sie muss fragen: Was ist denn eigentlich Eines oder Vieles? Die Vernunft ist also gefragt. Die reine Anschauung reicht nicht aus für die Betrachtung des Seienden. Die forschende Seele muss also noch auf einem anderen Weg hingeleitet werden zur Betrachtung des Seienden.

Dieser andere Weg führt über die Verstandestätigkeit zur Vernunft. Man kann daher sagen, dass der Anschauung alleine keine Zugkraft nach dem Sein beiwohnt. Die Vernunft letztlich ergänzt die Anschauung und verleiht die Zugkraft nach dem Sein. So führt das Ganze zu einer Wissenschaft, die sich auf Eines und Vieles beziehen muss, eine Wissenschaft der mathematischen Verstandestätigkeit, die zur reinen Vernunfterkenntnis hinleitet, dies ist die Mathematik. Die Mathematik erweist sich daher als zugkräftig zum Sein hin.

Dem wirklichen Sein, den Tatsachen hat aber die Logik zu dienen. Der Zweck einer Logik kann kein Selbstzweck zum reinen Formalismus hin sein, sondern sie hat zu gewährleisten, dass wir uns zu den Tatsachen und zum Sein hin wahre Urteile bilden können. Logik ist Voraussetzung für Mathematik. Damit ist die Mathematik auch zugkräftig zur Wahrheit hin.

Mathematik wird fast immer gebraucht, sie hilft uns die Welt und die Naturgesetze, die Bewegung der Planten und der Galaxien zu verstehen. Sie dient dem Naturwissenschaftler, aber auch dem Philosophen. Sie hilft z. B. dem Philosophen bei der Erfüllung seiner eigentlichen Aufgabe, sich nämlich über das Gebiet der Veränderung und des Werdenden zu erheben um die Gesetzmäßigkeiten des Seins zu erfassen. Mathematik hilft der Seele den Weg zu erleichtern, um über das Werden zum Sein und zur Wahrheit zu kommen. Mathematik nötigt die Seele von den angeschauten Anzahlen zu abstrahieren und zu den reinen Zahlen zu kommen, also von der Anschauung fortzuschreiten zum reinen Denken und sich somit der reinen Wahrheit zu nähern.

Mathematik treibt also die Seele kräftig nach aufwärts. Mathematische Wahrheiten sind zeitlos und damit ewig. Diese Gedanken sind fast 2500 Jahre alt und gehen zurück auf Sokrates. In Platons Staat entwickelt Sokrates diese Gedanken im 7. Buch. Im 6. Buch, im Liniengleichnis werden dazu ferner vier Abschnitte einer Linie beschrieben, welcher vier Seelenzustände entsprechen. Der oberste Seelenzustand ist die Vernunfttätigkeit, gefolgt von der mathematischen Verstandestätigkeit. Die beiden untersten Seelenzustände entsprechen dem Glauben und der bildlichen Erkenntnis. Die Objekte der Seelenzustände haben unterschiedlichen Anteil an der Wahrheit, sodass der mathematischen Verstandestätigkeit ein relativ hoher Wahrheitsanteil zukommt, der der Vernunft fast angenähert ist. Über der Vernunft steht die Idee des Guten. Die Idee des Guten verleiht den Dingen Wahrheit, die erkannt werden. Sie gibt dem Erkennenden die Kraft zum Erkennen. Die Idee des Guten ist die Ursache der Erkenntnis und Wahrheit.

Erkenntnis und Wahrheit sind nach Platons Sonnengleichnis verwandt mit dem Guten. Sie haben an der Idee des Guten teil. Erkenntnis oder Wahrheit aber selbst für das Gute zu halten ist nicht recht, denn das Gute steht selbst seinem Verhältnis nach auf einer noch höheren Stufe. Im Sonnengleichnis vergleicht Platon die Sonne mit der Idee des Guten. Was das Gute im Bereich des Denkbaren ist, im Verhältnis zur Vernunft und zum Gedachten, das ist die Sonne im Bereich des Sichtbaren im Verhältnis zur Sehkraft und zu dem Gesehenen. Damit Gegenstände wahrgenommen werden können, ist neben der Sehkraft des Auges ein zweites Licht erforderlich, das Licht einer Lichtquelle, welches die Gegenstände beleuchtet. In ähnlicher Weise muss zur Vernunft noch ein zweites Licht hinzukommen, der Geist der Ideen gebiert, erleuchtet durch den göttlichen Geist die menschliche Vernunft und gewährt Einsicht, so vergleicht es Nikolaus von Kues. Das Gute ist nicht das Sein selbst, sondern an Würde und Kraft ragt es noch über das Sein hinaus. Die Idee des Guten ist göttlich.

Mehr infos zur Philosophie der Mathematik:
https://reinhardgobrecht.jimdo.com/philosophische-gedanken-zur-mathematik/

Weiterführende Literatur:

Platon: Der Staat, 6. und 7. Buch

Nikolaus von Kues: Vom Gottsuchen,
Nr. 33 ff. in ‚Drei Schriften vom
verborgenen Gott‘


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