Der letzte Sapiens - 4. Entscheidungen
von Rouven Bronk (spinowachs)

 

4. Kapitel

Entscheidungen

Eisige Winde durchschnitten das gefrorene Land am Ende der anderranischen Welt hoch oben im Nordmeer auf der Insel Vik. Hin und wieder schob sich eine Eisscholle in eine der zahlreichen Buchten und brach entzwei. Nach einem schier endlos langen dunklen Winter begannen zaghaft sich die Sonnenstrahlen durch den grauen Schleier der arktischen Wirklichkeit zu kämpfen, um die surreal anmutende Welt aufzutauen.
Mehr als vier Wochen waren vergangen, als die Anfrage wegen der Sendung eingegangen war. Die Besatzung der Forschungsstation hatte anschließend - wie geordert - die Rucksäcke der Terraner und einen Multiverser per Rohrpost nach Katenam verschickt. Dann war Relajas Urlaubsgesuch abgelehnt worden und so musste die Geologin wohl oder übel, obschon sie völlig ausgebrannt war, durchhalten. Immerhin war Bürgerkrieg und sie alle sollten auf ihren Posten bleiben.
>Hast du das gelesen?< wütend hatte ihr Kollege Ulja einen Stapel Papiere auf den Schreibtisch geworfen, an dem Relaja saß und ihren Kopf zwischen den Händen hielt, geradeso, als sei sie angestrengt bemüht, nicht mitzubekommen, was um sie herum geschieht.
>Nicht so laut!< antwortete Relaja.
>Entschuldigung!<. Ulja wusste um den Zustand von Relaja und, dass sie nicht zu ihren Freunden und Verwandten konnte. Er selber hatte der Kollegin geraten, den Urlaubsantrag zu stellen. Ein wenig fühlte er sich mitschuldig an ihrem schlechten Zustand; schließlich hatte er sie erst ermuntert, eine Weile Abschied zu nehmen von der Arbeit auf der Station. Zu den bis dahin üblichen meteorologischen Messungen und geologischen Untersuchungen waren nun auch noch hoch brisante Lagerbestände gekommen, die ein Angriffsziel abgaben für militärische Aktionen antianarchistischer Kräfte. Es war nicht auszuschließen, dass sie hier oben im Norden schon sehr bald direkt betroffen wären von dem Krieg. Der Stapel Papier, den Ulja Relaja präsentierte, war ein viel zu lang geratener Bericht, der in Auroville verfasst worden war und die aktuelle politische Situation auf Anderran wiedergeben sollte – inklusive der Verhaltensregeln, denen sich die Anderraner „unterwerfen“ sollten, damit sie keinen Schaden nehmen mögen an Leib und Leben: Sozusagen eine Art Verhaltenskodex für den Kriegsfall.
>Das ist längst überholt!< klangen Relajas Worte deprimierend und verstört.
>Wie meinst du das?< wollte Ulja wissen.
>Ich hatte ein Gespräch per Kommunikator mit Torolei<.
>Und?<
Der Meteorologe kannte seine Kollegin gut und wusste, dass sie sehr wortkarg war, aber heute war er etwas ungehalten wegen dieser Eigenart. Hinzu kam, dass er noch vor die Tür musste, weil mit den Messdaten für Temperatur und Luftfeuchtigkeit etwas nicht zu stimmen schien; wahrscheinlich hatten die Messfühler Schaden genommen während des langen Winters. Zudem musste er auch noch einen Wetterballon starten, der die Temperatur in der Stratosphäre messen sollte. Bei der Vorstellung, sich erneut dem Sturm und der Eiseskälte auszusetzen, bekam er jetzt schon weiße Finger. Auf der Erde nannte man die Krankheit, die Ulja hatte „Raynaud-Syndrom“ und betraf die Extremitäten, also Hände und Füße; Finger und Zehen wurden weiß und gefühllos, die Durchblutung kam ins Stocken – eine fatale Situation in der Arktis, vor allem wenn man filigrane Arbeiten durchführen musste, die äußerste Präzision erforderten. Mit kalten und gefühllosen Fingern war das nicht mehr zu bewerkstelligen. Zudem konnte es zu starken Schmerzen kommen, wenn man ins Warme zurückkehrte und die Durchblutung schlagartig wieder einsetzte; im schlimmsten Fall verlor man das Bewusstsein und dies war Ulja auf einer Expedition auch schon passiert. Glücklicherweise war er damals nicht alleine unterwegs gewesen, sonst wäre er in der eisigen und trostlosen Wüstenei gestorben. Oft genug hatte sich der Wissenschaftler selber hinterfragt und seine Entscheidung, im Norden zu arbeiten, bereut. Dies betraf aber nur das Handicap mit den Fingern – er liebte seine Arbeit sehr und im Grunde mochte er auch seine Teammitglieder gut leiden. Bedauerlicherweise machte das Problem ihm auch mental zu schaffen und seine Stimmung war daher oft schwankend.
Endlich antwortete Relaja:
>Torolei ist der Meinung, ein Angriff auf unsere Station kann jeder Zeit erfolgen, weil die Terroristen ihr ursprüngliches Vorhaben, nur Waffen zu erbeuten, aufgegeben haben. Sie haben es auf die Multiverser abgesehen. Die Informationen haben wir einem Terraner namens Tom zu verdanken, der sich bei den Subversiven eingeschmuggelt hat<. Ulja war wie vor den Kopf geschlagen und wusste nicht , was er antworten sollte.
>Wann wolltest du uns eigentlich darüber informieren?< fragte er ziemlich entnervt.
Relaja begründete ihr zögerliches Verhalten damit, dass es sich um ein informelles Gespräch gehandelt habe. Weder ein Plenum, noch eine sonstige Organisation oder jemand von der „Plattform“ habe Warnungen herausgegeben. Allerdings sei Torolei äußerst vertrauenswürdig und daher sei der Hinweis durchaus ernst zu nehmen und sie wolle nun auch Raf und Bel Bescheid geben. Tatsächlich machte sich Relaja sofort daran, die beiden anderen Mitarbeiter über das interne Telefonnetz zu kontaktieren.
>Der liegt wahrscheinlich wieder betäubt vor der Glotze< meinte Ulja. Raf war in der Tat alkohol- und tablettenabhängig. Seine Sucht kam allerdings erst hier oben in der Abgeschiedenheit zum vollen Ausbruch. Und als Mitglied eines Teams von nur vier Leuten war es unmöglich, eine solche Persönlichkeitsstörung vor den anderen zu verbergen. Was Bel betraf: Sie war als letzte dazugestoßen und kam direkt aus Auroville, war Mitte dreißig und Geomorphologin. Bel war über alle Maßen introvertiert, dass man aus ihr überhaupt nichts herausbekam. Dagegen war Relaja die reinste Quasselstrippe, dachte zumindest Ulja.
>Bel, ja, bitte komme doch gleich mal nach oben und schau mal nach Raf und bring ihn mit. Ich habe wichtige Infos für uns alle. Es ist wirklich dringend!< Relaja legte den Hörer zurück auf die Gabel.

Die Geologin hatte den Raum neben ihrem Arbeitszimmer hergerichtet und er bot nun genügend Platz für die vier Wissenschaftler. In der Mitte stand ein langer Tisch, an dem noch vier weitere Personen hätten sitzen können. Diese Räumlichkeit, die sich im Erdgeschoss der Anlage befand, war konzipiert, um die regelmäßigen Meetings und Arbeitssitzungen abzuhalten. Auch, wenn es nicht sehr viel zu bereden gab, spielte die Routine eine äußerst wichtige Rolle, um die Moral aufrecht zu erhalten. Müßiggang und Langeweile waren die Todfeinde eines jeden Teams; man wurde träge und launisch, was wiederum zu Spannungen innerhalb der Gruppe führte. Also fügte man sich – so gut es ging – in die Notwendigkeit, der Disziplin eine hohe Priorität einzuräumen.
>Also haben wir sozusagen Rot-Alarm< warf die schüchterne Bel in die Runde ein. Relaja hatte von ihrem Telefonat mit Torolei berichtet, und was viel brisanter war, von der Eilmeldung, die vor wenigen Minuten das Plenum in Auroville verfasst hatte. Die Meldung besagte nämlich, dass ein Hubschrauber auf dem Weg sei, der die Kiste mit den Multiversern aufnehmen sollte, um sie anschließend im Vulkankrater des etwa 50 Kilometer entfernten Vestaka zu versenken. Sollte etwas dazwischen kommen, müsste das Team um Relaja die Aktion alleine durchführen. Keinesfalls dürften die Zeitreisegeräte in die Hände der „Feinde der Anarchie“ geraten. „Keinesfalls“! Von einer Evakuierung der Besatzung war in dem Kommuniqué nicht die Rede gewesen.
>Also, von Rot-Alarm würde ich nicht sprechen< versuchte Relaja Bel zu beschwichtigen >Sagen wir, wir haben einen Aranka-gelben Alarm<. Niemand in der Runde war zu Lachen zumute.
Die Stimmung war gedrückt. Raf war offensichtlich betrunken und schien sein Hemd seit Wochen nicht mehr gewechselt zu haben: Ein brauner Fleck von altem Ale unterstrich den Duftfaktor des Textils. Die Gruppe hatte es schon lange aufgegeben, am Verhalten von Raf etwas ändern zu wollen. Er musste dringend in eine Drogentherapie. Aber unter den gegebenen Umständen war daran nicht zu denken. Sollte dies alles mal vorübersein, würde man sich von Raf sofort trennen und einen Ersatz anfordern.
>Ich fasse also mal zusammen< Relaja war überaus dankbar, dass Ulja die Rolle des Sprechers übernahm >Wir haben ab sofort mit einem Angriff auf unsere Station zu rechnen. Eine Verteidigung können wir vergessen, weil wir ohnehin nicht bewaffnet sind. Wann und ob der Hubschrauber kommt, um die Multiverser zum Vulkan zu bringen, ist ungewiss. Eine weitere Versorgung der Station mit Lebensmittel ist auch nicht mehr gewährleistet. Ich will ja nichts beschwören, aber man scheint uns hier abgeschrieben zu haben<.
Es war ohnehin schon ruhig im Raum. Raf`s Kopf ruhte auf der Tischplatte, aber niemand nahm Notiz davon. Bel war kreidebleich geworden; Relaja schien relativ gefasst zu sein und antwortete prompt:
>Danke Ulja, für die deprimierende Analyse, aber du hast natürlich Recht. Es gibt an unserer Lage nichts zu beschönigen und wir sollten uns überlegen, welche Optionen uns zur Verfügung stehen<.
>Raaaaf – aufwachen!< brüllte Ulja dem dahindämmernden Mann ins Ohr. Der schreckte tatsächlich auf, sah desorientiert nach rechts und links und sagte nichts. Dann stand er auf, ging an die gegenüberliegende Wand zur Küchenzeile hinüber und entnahm einer Maschine ein aufputschendes Heißgetränk. Man konnte deutlich ein Seufzen vernehmen, welches über die Lippen von Ulja kam, der den Kopf schüttelte und meinte:
>Den können wir wohl abschreiben!<.
>Habe ich gehört, Ulja! Habe ich gehört< wiederholte der murmelnd vor sich hin und trank einen kräftigen Schluck aus seiner „Bärchentasse“. Die Kaffeetasse glich einem Gefäß für Kinder oder ewig junge Erwachsene; auf der Außenseite war ein lustig tänzelnder Bär abgebildet, den ein Künstler mit Hintergrund in der naiven Malerei geschaffen haben musste.
>Tja, zu den Optionen...< Uljas Blick trennte sich von Raf, der wohl noch einige Zeit damit verbringen würde, der Kaffeemaschine Gesellschaft zu leisten.
>Bel, was meinst du?< versuchte Ulja, die Geomorphologin aus Auroville in die Gruppe mit einzubinden. Wider Erwarten kam sofort die Antwort:
>Ich bin der Meinung, wir sollten hier so schnell wie möglich weg<.
>Das geht nicht!< war die direkte Antwort von Relaja.
>Was heißt das „Das geht nicht“?< entgegnete Bel in ziemlich zänkischem Ton.
>Das heißt: Wir haben eine Aufgabe auf der Station< antwortete Ulja für Relaja, die ziemlich genervt aufgestanden war, um sich aus dem Kühlschrank ein Eis zu holen. Relaja liebte das Genussmittel; sie hätte bei minus 50 Grad noch eine Kugel Vanilleeis mit Sahne verzehren können.
>Ulja hat Recht – und selbst, wenn wir hier hinwerfen würden: Es sind fast 100 Kilometer bis zur nächsten Bucht, von wo aus wir auf ein Schiff wechseln könnten<.
Relaja kannte die Insel Vik wie ihre Westentasche. Sogar den Schiffsführer kannte sie – es wäre theoretisch sogar möglich gewesen, ihn zu kontaktieren, damit er ihnen helfen würde. Aber das wollte sie nicht tun. Relaja wollte niemanden Außenstehenden dieser gefährlichen Situation aussetzen.
>Also, abhauen ist nicht!< konstatierte Ulja.
>Abhauen ist nicht< repetierte Relaja, die das Einsilbige liebte. Sie schaute aus dem Fenster mit dem Blick auf den Strand. Das nächste halbe Jahr würde es nicht mehr dunkel werden, denn der polare Frühling hatte begonnen. Nur kamen bei Temperaturen zwischen 20 und 40 Grad Minus keine Frühlingsgefühle auf. Relaja sehnte sich nach dem bunten Blütenmeer vor den Toren Aurovilles, wo sie den letzten Urlaub verbracht hatte. Wann war das überhaupt? Sie verscheuchte den Gedanken und wollte Torolei anrufen, um sich zu vergewissern, ob die Lage wirklich so hoffnungslos war, wie sie aussah. Doch dann – überraschend - meldete sich Raf zu Wort:
>Wir beamen die Multiverser einfach in die Sonne!< der völlig ungepflegte Mann stand das erste Mal an diesem Tage aufrecht und nahm erneut einen Schluck aus seiner „Bärchentasse“. Bel und Ulja saßen noch auf ihren Plätzen, antworteten aber nicht. Sie waren es nicht gewohnt, von dem Süchtigen Raf einen konstruktiven Beitrag zu vernehmen, also überlegten sie erst angestrengt, bevor sie sich zu äußern wagten. Relaja, die noch am Fenster stand und glaubte, etwas in der Bucht gesehen zu haben, wendete sich dann ihrem Kollegen zu:
>Danke, Raf – wir nehmen das mal zu den Optionen<.
Technisch wäre das durchaus möglich, dachte Relaja, nur hätten sie dann immer noch eines der Geräte übrig, aber das eine Teil könnte man im Notfall vorübergehend vergraben. Hauptsache der Großteil der Multiverser wäre für immer aus der Welt, und nicht zu vergessen die Kiste mit den Matrizen und sonstigen Maschinenbestandteilen, die aus der Produktion für die Geräte stammten – und die Baupläne: Alles das musste weg! Relaja wollte erst noch etwas warten und der Hubschrauberbesatzung eine Chance geben, rechtzeitig auf Vik zu landen.
>Ich werde mal in die Bucht gehen; ich nehme das Fernglas mit< meinte Ulja und machte sich auf den Weg zum Umkleideraum. Draußen war es eisig und er beschloss, die wärmste Winterbekleidung anzulegen, die sie auf Lager hatten. Dazu eine Schneebrille und die obligatorischen Handschuhe, die allerdings gegen sein Raynaud-Syndrom nach einer Weile ohne Bewegung am Strand wieder voll ausbrechen würde.
Ihm graute davor, aber irgend jemand musste den Horizont absuchen nach ungewöhnlichen Bewegungen auf dem Wasser. Allerdings konnten Malekko und seine Leute auch einen Angriff aus der Luft durchführen und so würde Ulja auch den Himmel mit dem Fernglas kontrollieren. Die anderen waren mit seiner Initiative einverstanden und man wollte sich in einer Stunde im Besprechungsraum wieder treffen.
>Vergiss nicht den Kommunikator< hatte Relaja noch gerufen. Falls ein Angriff zu erkennen war, mussten sie sofort reagieren, wie, das war zu diesem Zeitpunkt noch unklar. In Relaja wuchs die Erkenntnis, dass sie auf solche Situationen gar nicht vorbereitet waren; in ihrem Repertoire war das Wort Krieg bisher nicht vorgekommen. Hinzu kam, dass das Leben auf der Forschungsstation in fast immer den gleichen Bahnen verlief, so wurde man mit der Zeit unflexibel im Denken und Verhalten. Ihr fiel auf, dass Raf sich den Inhalt eines Flachmanns in seine „Bärchentasse“ geschüttet hatte. Er stand an der Küchenzeile wie an einer Bar in irgendeiner Kneipe in Auroville. Raf trug fast immer kurze Hosen und gammelige Hemden, wohingegen die anderen Teammitglieder stets ihre blauen Overalls trugen. Die Uniformen sollten das „Wir-Gefühl“ stärken und dazu beitragen, aus den sehr unterschiedlichen Charakteren, eine Einheit zu formen. Raf allerdings pochte auf sein verbürgtes Recht der freien Entfaltung des Individuums. Das Individualrecht galt als eines der ethisch stärksten Gesetze auf Anderran, daher war auch niemand gezwungen, eine Uniform anzulegen oder sich überhaupt einer Kleiderordnung zu unterwerfen. Rafs Outfit dokumentierte, dass er sich durchgesetzt hatte; es verriet aber auch etwas über seinen labilen Zustand im Zusammenhang mit seiner Sucht.
>Nick! Nick! Nick!< gab Raf unüberhörbar von sich, als er den Sud aus seiner Tasse heruntergespült hatte. Hierbei winkelte er die Arme an, ballte die Fäuste und schlug dann die Ellbogen gegen die Rippen – die Gestik glich einem Huhn, welches verzweifelt versuchte, vom Boden abzuheben. Es sah einfach lächerlich aus! Relaja wusste nicht, wo er dieses Verhalten „erlernt“ hatte oder ob das etwas war, was anzeigte, dass es mit dem Menschen zu Ende ging. Obschon Rafs Zustand mehr als fragwürdig war, zweifelte Relaja keinesfalls an den Fähigkeiten des Mitarbeiters und überdies war sie davon überzeugt, dass er kein schlechter Mensch und Anarchist sei. Die Persönlichkeitsstörung musste eine Therapie ans Licht bringen, auf der Station waren sie dafür nicht eingerichtet, um psychologische Arbeit und ein Entgiftungsprogramm zu bewerkstelligen.
Bel saß immer noch auf ihrem Platz und wälzte den Verhaltenskodex; wahrscheinlich hoffte sie so, mehr Sicherheit und Souveränität im Umgang mit der schwierigen Lage zu erreichen. Raf war damit beschäftigt, sich eine Menüschale in der Mikrowelle aufzuwärmen. Immerhin aß er auch etwas, dachte Relaja, bei der Trinkerei würde er ansonsten vollends zusammenbrechen.
Der Vibrationsalarm des Kommunikators wurde aktiviert, als sie gerade durch das Fenster beobachtend erkennen konnte, wie Ulja in voller arktischer Montur in Richtung Bucht marschierte. Dann erschien auf dem Display das Gesicht von Lesalee, die sich offensichtlich in ihrer Wohnung in Auroville befand. Neben ihr standen Torolei und im Hintergrund – gerade noch zu erkennen – Leartas und Ortas:
>Da ist ja die ganze Bande zusammen< begrüßte Relaja ihre Bekannten; eine der äußerst seltenen ironisierten Bemerkungen, die einem Anderraner über die Lippen kamen.
Das Wort „Bande“ zu benutzen unter den Umständen eines Bürgerkriegs war schon sehr gewagt und konnte missverstanden werden.
>Hallo Relaja – ich hoffe, es geht euch gut da oben< erwiderte Lesalee floskelhaft.
>Könnte besser sein<
>Dann wollen wir euch helfen, damit es besser wird. Ihr solltet in erster Linie an euch selbst denken und lieber eure Sachen packen und da verschwinden<. Das war eine klare Abkehr von der offiziellen Order, die sie erhalten hatten, unter allen Umständen die Multiverser zu vernichten, falls der Hubschrauber nicht oder zu spät eintreffen würde.
>Wir werden das Nötige tun, Danke!< Relaja fiel wieder in ihre Einsilbigkeit zurück. Am anderen Ende der Leitung wechselte der Kommunikator die Hände und Leartas Gesicht war nun in voller Größe zu erkennen – er und Schoonas entsprachen dem irdischen Klischee antiker Philosophen: Älterer Mann mit Bart, klugen Augen und einer faltigen Stirn:
>Helden sind Spielbälle der Götter – aber dies ist kein Spiel, und die Götter gibt es nur in Mythen!< sprach Leartas, auch das Schwert des Chales genannt.
>Auch dir danke ich, weiser Mann!< nun wusste man nicht, ob Relaja dies ironisch meinte oder ob sie die Essenz der Worte tatsächlich verstand und den Sprecher mit Respekt bedachte.
Relaja blickte weiter durch das Fenster und sah, wie Ulja den Strand erreicht hatte und durch das Fernglas blickte und dabei die raue See und den grauen Himmel absuchte. Dann stockte er und schien etwas entdeckt zu haben. Nein, doch nicht. Wahrscheinlich war es ein Vogel, den Ulja gesichtet hatte. Seine Arme hielten wieder ruhig das Glas in den Händen und führten es von Ost nach West und wieder zurück.
>Ihr habt doch das E-Mobil – nehmt nur das Nötigste mit und flieht in den Nord-Westen der Insel!< sprach nun Torolei mit Relaja.
>Ich weiß, ich kenne die Insel gut< antwortete sie ausweichend.
>Du bist ganz schön stur, weißt du das?< Torolei war etwas verärgert und glaubte, man würde Vorort den Ernst der Lage verkennen. Dass dem nicht so war, konnte sie nicht wissen. Relaja besaß einen hohen Grad an Verantwortungsbewusstsein und konnte die Situation sehr wohl einschätzen.
>Wieso ist der Hubschrauber noch nicht hier?< eine gute Frage der Geologin. Hätte man rechtzeitig ein Fluggerät zur Verfügung gestellt, wäre es nicht zu dieser Brisanz gekommen.
>Die Subversiven machten einen Einsatz des Hubschraubers erforderlich. Wir haben leider nur dieses eine Modell, und ein Flugzeug kann bei euch nicht landen und die Schiffe sind viel zu langsam< kam die Antwort, die Relaja erwartet hatte. Aus diesem Grund hatte sie ihre eigenen Pläne, die die Sicherheit der Mannschaft gewährleisten würde, unter Berücksichtigung der Order aus Auroville.
>Der Akku ist fast leer< stellte Relaja fest >Wir müssen Schluss machen!<.
>Nehmt das Schiff und kommt so schnell wie möglich nach Auroville – hier ist es inzwischen wieder sicher. Sogar unser Leuchtfeuer, die Bibliothek, ist fast wieder aufgebaut< Ortas war auch noch an den Kommunikator getreten. Mit dem Schiff, meinte er, das ihr Bekannte in der Bucht im Nord-Westen der Insel.
Nun hatte Ulja wohl doch etwas entdeckt, denn er wackelte überaus unruhig hin- und her. Oder versuchte er nur wieder Blut in die Finger zu bekommen durch die Bewegungen?
>Es wird schon gut gehen – macht euch keine Sorgen! Wir sehen uns in Auroville<. Relaja beendete das Gespräch; der Akku war noch voll!
Dann meldete sich Ulja:
>Ein Boot – eindeutig ein Boot! Es nähert sich der Bucht!< rief Ulja in das Mikro.
>Komm sofort zurück! Wir fahren schon in den Keller. Wir treffen uns unten bei den Multiversern!<
>Ja, mach ich!<.
Bel hatte alles mitbekommen und war total erschreckt und wie gelähmt. Sie hatte von bösen Piratengeschichten gehört und dass man den armen Opfern die Kehlen durchschnitt. In ihrer Phantasie wurden sie alle hingemetzelt und schwammen in Lachen voller Blut. Raf aß seine Gemüseplatte in Tomatensauce und schien völlig unbeeindruckt; eine Flasche Ale begleitete sein Mittagessen. Er rülpste und sah nicht einmal auf von seinem Gedeck.



>Torpedo laden, aber noch nicht feuern!< befahl der glatzköpfige Assagog dem Kanonier des Schnellbootes, welches sich in voller Fahrt auf die Insel Vik zubewegte.
Der von Malekko zum Kommandanten ernannte, war nun der Chef der neu installierten Marine der Subversiven von Anderran. Allerdings hatte die nur dieses eine Boot. Die Bewaffnung hingegen war für hiesige Verhältnisse imposant und wirkte äußerst zerstörerisch. Wenn es Assagog gelingen würde, die Station einzunehmen und die Multiverser an sich zu reißen, dann wäre er der neue starke Mann der „Neo-Anarchisten“ - vielleicht sogar eine Art König von Anderran und (Be-) Herrscher des Multiversums. In Verkennung aller politischen Tatsachen sahen sich einige der Subversiven tatsächlich in der Tradition des Anarchismus verhaftet, obschon sie gegen alle Regeln, die das Gesellschaftsmodell so erfolgreich gemacht hatte, verstießen. Sie schreckten weder vor Plünderung und Brandschatzung zurück, noch vor Mord und Verrat, um ihr Ziel, das jetzige System zu stürzen, zu erreichen.
>Geladen und feuerbereit!< antwortete der Kanonier pflichtgemäß. Malekko war nicht an Bord des Schnellbootes. Der beschäftigte mit einer Scheinattacke den einzigen Hubschrauber der Anarchisten. Die Besatzung des Bootes bestand aus lediglich sieben Soldaten, die aber für den Angriff hervorragend geschult worden waren. Assagog war wie immer vom Erfolg seiner Mission überzeugt. Und sollte es zu Problemen kommen, würde er nicht zögern, auch äußerste Gewalt anzuwenden, selbst gegen die eigenen Männer. Es war gerade die Brutalität und Kompromisslosigkeit, die Assagog eine beispiellose Karriere in der Konterrevolution beschert hatte – und Malekko war sein Protegé.
Assagog blickte durch das Fernrohr und konnte in der Bucht einen Mann erkennen, der offensichtlich auch ein Gerät in der Hand hielt, welches ihm erlaubte in die Ferne zu schauen. Als er sich gewahr wurde, dass beide Männer sich beobachteten, fühlte sich Assagog ein wenig wie ein kleiner Junge, der bei einer unerlaubten Handlung ertappt worden war und senkte das Rohr verschämt, um es in seinem Gürtel verschwinden zu lassen.
>Steuermann – halbe Kraft!<
>Wie?< fragte der Steuermann ungläubig.
>Halbe Kraft! Hast du was an den Ohren?<
>Halbe Kraft – jawohl, Kapitän!< die Kommandostruktur hatte die Besatzung verinnerlicht. Es war das Prinzip eines jeden Militärs, egal wo und auf welcher Welt: In entscheidenden Momenten wurden auch unsinnige Befehle befolgt. Die Angst vor Repressalien machte die unteren Ränge gefügig.
Die Maschine war geölt und der Krieg so gut wie gewonnen – wenn nicht irgendetwas ins Getriebe geriet. Und das kam immer wieder einmal vor und sei es, dass ein befehlshabender Offizier einen infantilen Rückfall erlebte.



Ulja hatte ebenfalls das Glas gesenkt, besaß aber die volle Kontrolle über seine Persönlichkeit. Nur seine Hände schienen wieder eingefroren zu sein und so machte er sich schnellen Schrittes auf den Weg zurück in die Station. Dort angekommen bestieg er, ohne sich umzuziehen, den Fahrstuhl in das vierte Untergeschoss, welches auf alle Teammitglieder einen so unheimlichen Eindruck machte. Als er den Raum mit den Multiversern betrat, versuchte Relaja gerade, eine Pforte mit einem der Geräte zu öffnen.
>Wir müssen die Kiste nach oben schaffen!< vermeldete die Geologin frustriert. Die Anzeige auf dem Multiverser verriet, dass sich erst in einigen Tagen ein Wurmloch erzeugen lassen würde, um einen Transport zu gewährleisten. Die Kiste samt Inhalt in der Sonne verschwinden zu lassen, war also gescheitert.
>Dann nichts wie hoch damit!< meinte Ulja.
Raf und Relaja an der einen und Bel und Ulja an der anderen Seite der Kiste, schleppten sie das Teil zum Förderkorb hinein, in dem sich Schimmel abgesetzt hatte und es stank. Spinnentiere hatten hier ihr kleines Paradies gefunden, ihre Räder zierten die grauen Wände des Fahrkorbs.
>Was hast du gesehen?< wollte Relaja von Ulja genauer wissen. Der Förderkorb bewegte sich scheinbar unendlich langsam nach oben.
>Nicht viel, aber soviel ist klar: Ein Schnellboot mit einer ungeheuren Geschwindigkeit fährt auf die Bucht zu< von der Bewaffnung, die Ulja glaubte, erkannt zu haben, erzählte er nichts. Er wollte die arme Bel nicht total verschrecken und auch sonst die Stimmung nicht noch weiter verschlechtern. Alles musste jetzt schnell gehen, für gepflegte Konversation war nun keine Zeit mehr.
Endlich auf Parterre angekommen, hievten sie die Kiste aus dem Fahrstuhl. Ulja rannte in die Küche – ihm war eingefallen, dass dort ein Rollcontainer stand – den er sofort holte, um die Kiste dort hineinzustellen, um sie anschließend zum E-Mobil zu befördern. Dank der Disziplin und der Einhaltung aller relevanten Regeln über den sicheren Betrieb der Station, war der Akku des elektrisch betriebenen Fahrzeugs voll beladen und ein zweiter Akku ebenfalls, der unter der Rückbank lag. Das E-Mobil war ein durchaus komfortables Fahrzeug, welches speziell für mehrtägige Expeditionen in der Arktis konzipiert war. Vor allem war es komplett überbaut und hatte eine gut funktionierende Heizung, was Ulja nur Recht sein konnte. Ein wenig freute er sich sogar auf die Fahrt; wären sie nicht auf der Flucht gewesen, hätte dies ein durchaus angenehmer Tag der Forschung werden können, dachte er.
>Was ist mit dir? Relaja stand vor Raf, der sich wieder an den Tisch gesetzt hatte, um die kalten Reste seiner Mahlzeit zu verzehren. >Du willst doch nicht etwa hier bleiben?<
>Fahrt ihr nur ohne mich – ich habe mir für unserer Gäste etwas ausgedacht< auch Raf konnte ironisch sein. Die Terroristen als seine “Gäste“ zu titulieren war aber bezeichnend für das Unabwendbare und die feste und allerletzte Entscheidung von Raf. Niemand würde ihn mehr von diesem Ort wegbringen und das war Relaja klar. Darum opponierte sie auch gar nicht erst. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und sah nicht mehr zurück, als sie den Besprechungsraum verließ. Raf wusste immer, was er tat, da war sich Relaja nun absolut sicher!
>Ich weiß, was er vorhat – er wird den Wasserstoff, der für die Wetterballone bestimmt ist, zur Explosion bringen< hatte Ulja geantwortet, als Relaja das E-Mobil auf den Beifahrersitz bestieg und erzählte, was mit Raf los war.
Bel saß hinten, sagte kein Wort und zitterte am ganzen Körper. Tränen liefen über ihre blassen Wangen und verwischten das Schwarz auf ihren Augenlidern. Ulja startete den Elektromotor und so fuhren sie in die eisige Hölle des Nordens hinaus, um die Anarchie und das Multiversum zu retten, so empfand es Ulja jedenfalls, als die wohltuende Wärme der Heizung seine Glieder wieder auftaute.


Nachdem Raf im Lager die Bestände des Wasserstoffs inspiziert hatte, grinste er zufrieden. Das würde reichen, um die Station ein Dutzend Mal in die Luft zu jagen, dachte Raf und schlich wieder zurück in seinen Wohnraum ins erste Untergeschoss der Forschungsstation. An der Wand stand einer dieser altmodischen Schallplattenspieler. Auf einem Basar in Auroville hatte er vor einigen Jahren das Gerät samt einiger Scheiben eingetauscht gegen irgendwelchen elektronischen Schnickschnack, wie er empfand. Unter den Schallplatten befanden sich auch Objekte, die von der Erde der Milchstraße stammten. Ein Tonträger des Künstlers David Bowie gehörte ganz sicher zu seinen Favoriten. Das Stück „Heroes“ in der Live-Version, aufgenommen in einer Stadt namens Berlin, würde er sich bis zum Schluss aufbewahren. Der Sound würde die absolut finale Stimmung erzeugen, um letztmalig aufzusteigen in den imaginären Olymp der Unsterblichen, da wo die Götter wohnen...
Aus einem Kasten alkoholischer Getränke entnahm er eine Flasche Schnaps, die er ansetzte, ohne ein Glas zu befüllen. Das war nicht mehr die Zeit, um mit dem Trinken aufzuhören! Er nahm einen tiefen Schluck von dem Wacholdergetränk und genoss das Gefühl von Entspannung und Zufriedenheit. So schlecht war sein Leben nicht gewesen, meinte Raf; und zu wissen, wann die Zeit reif war für einen würdevollen Abgang, das schienen die meisten Menschen nicht drauf zu haben, so jedenfalls die Ansicht eines Menschen, der glaubte, den Zenit seiner Existenz überschritten zu haben und nun gedachte, diesem Abschaum und Gesindel um Malekkos Bande den Garaus zu machen.
Raf hatte es geschafft, eine Verbindung zu legen auf den Kommunikator, der es ihm erlauben würde – mittels der Kameras, die an den relevanten Orten rund um das Gebäude installiert waren – die Feinde der Anarchie genau zu beobachten. Im richtigen Moment, wenn sich alle im Gebäude befanden oder zumindest in der Nähe, würde er den Wasserstoff zur Explosion bringen. Er brauchte nur noch in Ruhe abzuwarten, bis es soweit war. Das war ganz nach seinem Geschmack. Raf legte sich auf sein Bett, streckte und rekelte sich selbstzufrieden auf der Matratze, während er den Klängen eines ruhigen melancholischen Blues lauschte. Er war froh, dass sich die Besatzung der Station rechtzeitig absetzen konnte und gönnte ihnen über alle Maßen einen Erfolg mit der Absicht, die Kiste mit dem „Teufelszeug“ im Lavasee des Vulkans zu versenken.



>Gib Gas!< forderte Relaja ein höheres Tempo >Ich will die Sache endlich hinter mich bringen<.
>Mehr geht nicht!< tatsächlich zeigte der Geschwindigkeitsmesser nur 40 Km/h an.
>Da, da ist der Vulkan!< Bel zeigte auf den vor ihnen liegenden „Gesteinsbrocken“, der an seinen Rändern mit Schnee und Eis bedeckt war. Und doch schlummerte eine unerträgliche Hitze in seinem Inneren und hielt in seinem Krater einen See bereit aus flüssigem Gestein.
>Gut, dann kannst du ruhig darauf zu steuern und suche möglichst einen Weg, der so weit es geht, befahrbar ist< sprach Relaja in leichtem Kommandoton, was Ulja missfiel:
>Hey, ich sitze nicht das erste Mal hinter dem Steuer!<.
>Schon gut, schon gut – ich bin etwas nervös!< entschuldigte sich die Geologin für ihr forsches Temperament.
Sie waren schon öfter in dieser Gegend und hatten Bohrproben entnommen und seismologische Messungen durchgeführt. Aber den Vulkan hochgefahren waren sie noch nie. Eine Klettertour hatte sie vor einigen Jahren mal dort hinaufgeführt; da war es Sommer in der Arktis und die Temperatur bewegte sich nur wenige Grade unter dem Nullpunkt. Das sah heute etwas anders aus: Der Winter hielt die Insel überwiegend immer noch fest in seinen Krallen und sie mussten vorsichtig sein bei der Anfahrt, nicht stecken zu bleiben oder von Geröll geschädigt zu werden. Ein Plattfuß an einem der Reifen wäre fatal unter dem Zeitdruck. Sie konnten nicht wissen, ob die bewaffneten Angreifer ihnen schon auf den Fersen waren. An Rafs Alleingang wollte niemand wirklich denken und so konzentrierte man sich auf die bevorstehende Aufgabe.
>Da, da geht ein Weg hoch!< Relaja deutete auf einen breiten Pfad, der von dem Fahrzeug gut genutzt werden konnte. Es ging zügig voran und sie erreichten allmählich in Serpentinen einen Bereich, von dem aus sie die Kiste manuell bewegen konnten.
>Alles aussteigen!< Ulja wollte ebenso wenig Zeit verschwenden wie Relaja, also stiegen sie aus und luden die Kiste aus dem Fond des Wagens und stellten sie auf dem von Geröll und Asche übersäten Boden ab.
>Zu dritt wird das schwierig< konstatierte Bel, die wie immer sehr sparsam mit verbalen Bemerkungen war.
>Wir schaffen das schon!< munterte Relaja die Kollegin auf >Hier, trink einen Schluck!<. Die Geologin reichte Bel eine Flasche mit heißem Tee.
>Danke!<.
Alle tranken sie noch einen Tee zur Stärkung, bevor sie die schwierigste Aufgabe in Angriff nehmen konnten: Die sperrige und schwere Kiste den Rest des Hangs zum Kraterrand hinauf zu schleppen.
>Nehmen wir die Abkürzung oder lieber den Weg über die Serpentine?< Uljas Frage war überflüssig.
Der direkte Aufstieg war zwar der schwierigste, aber er versprach den schnellsten Zugang zum Abgrund des Vulkans. Die zwei Frauen packten die Kiste jeweils linke und rechte Seite und der Mann hatte die schwerste Aufgabe, das Teil hinten abzusichern gegen ein Abrutschen und es gleichzeitig nach vorne zu pushen. Die Multiverser waren nicht das Problem, es waren die Maschinenteile, die für die Herstellung essentiell wichtig gewesen waren. Neben diesen Dingen befanden sich auch die Datenträger „an Bord“, die alles beinhalteten, was die Funktionsfähigkeit, die Produktion und Bedienung betraf.
Man wollte ein für allemal das komplette Wissen um diese Geräte auslöschen. Eine ziemlich naive Vorstellung und der Umgang damit nicht minder, dachte Relaja. Wissen, welches einmal in die Welt gesetzt wurde, ließ sich nicht mehr entfernen. Das hier war kein Krebsgeschwür, welches man einfach so per Operation entfernen konnte und alles würde schon gut werden mit ein wenig Rekonvaleszenz und Optimismus. Relaja schüttelte innerlich den Kopf; dabei lief ihr der Schweiß über die Stirn und tröpfelte die salzige Lösung in ihre Augen, die sie nun nicht reiben konnte, weil ihre behandschuhten Finger unterhalb der Kiste sich befanden.
Sie schnaubten, röchelten und stöhnten. Uljas Finger mussten inzwischen schon blau angelaufen sein. Unter anderen Umständen hätte er eine Pause eingefordert, aber das hier erlaubte keinen Aufschub – keinesfalls! Bel arbeitete sich an dem Transportgut ab, wie eine Besessene. Niemand hatte jemals einen solchen Einsatz bei ihr beobachtet. Stille Wasser, dachte Relaja, die sind manchmal tief und erstaunlich reich an Leben und Energie.
Endlich waren sie oben! Alle drei kippten sie nach hinten weg und legten sich erst einmal flach auf den Rücken – sie waren fix und fertig. Bis gestern noch hatte Ulja eine lange Raucherpause eingelegt, doch am Abend hatte er wieder angefangen mit dem Laster. Und so fand er, dies wäre der richtige Moment, weiter daran zu arbeiten - bevor die verfluchte Kiste mit der Lava verschmolz - und sich eine Zigarette anzuzünden, was er auch tat. Die anderen schauten überrascht, sagten aber nichts. Relaja schob die Kiste im Alleingang weiter an den Rand des Kraters, der glitschig war, aber so das Schieben erleichterte. Für einen Moment glaubte sie, sie würde den Sarg mit dem Leichnam ihres Vaters entsorgen. Was für Dinge einem manchmal durch den Kopf gehen: Ich denke, ich bin auch bald reif für eine Therapie, schloss sie den Gedanken ab.
>Lass uns das zusammen machen!< meinte Ulja >Es ist unsere Arbeit!<.
Die Forscher wollten gerade ein letztes Mal die Kiste gemeinsam anheben, um sie der heißen Caldera zu übergeben, als offensichtlich Musik ertönte. Der Wind aus dem Süden wehte David Bowies „Heroes“ herüber. Offensichtlich hatte Raf Lautsprecher außerhalb ihrer Unterkunft angebracht – vielleicht auch, um die Terroristen zu verwirren: ..I would be King, and you, you would be my Queen, we wanna be Heroes, just for one day...
Wenige Augenblicke später vernahmen sie drei aufeinander folgende Explosionen, dessen Ursprung an der Küste lag. Offenbar hatte ihr Kollege an mehreren Stellen Zündladungen angebracht, um ganz sicher zu gehen, dass er auch die ganze Bande erwischt. Sie konnten beobachten, wie orange-rote Feuersäulen in den grauen Himmel aufstiegen; mit ihnen wurden die letzten Reste der Station hinfort geschleudert. Schließlich hüllten dunkle schwarze Rauchwolken den Großteil der Küste ein.
>Er hat es getan!< rief Ulja >Dieser verdammte Kerl hat es tatsächlich getan!<
Der Meteorologe ballte die Rechte zu einer Faust:
>Du hast es getan – Ich liebe dich, Raf!<.
>Vielleicht hat er es ja überlebt< sagte Relaja leise, und wusste, dass sie sich irrte. Bel hatte sich wieder gesetzt und erneut liefen Tränen über ihr schmales Gesicht.
Da stand der Vulkan, als ginge ihn das alles nichts an. Die geologischen Prozesse der Erde besaßen ihre ganz eigene Dynamik. Das Feuer des Krieges loderte nur kurz und juckte den Planeten mal so eben, der dann ein wenig hüstelte und seine Narbe wieder schloss. Als die Kiste mit den Utensilien, die über Anderran das Unglück und nicht die Befreiung brachte, dem See entgegen glitt, dessen kochend heißes Gedärm des Inneren der Erde das Teufelszeug umschlang, als sei es das Böse schlechthin und solle nun heimkehren in den Abgrund, dem es einst entrissen wurde, dachten sie alle nichts, schien völlige Leere das bestimmende Element ihrer Existenz, und eine unglaubliche Melancholie legte sich über die Häupter der Menschen, die dort schwitzend und zitternd standen und der Dinge harrten, die da noch kommen würden.



Eigentlich erwartete man in Katenam die Rückkehr von Lira, Orestes, Paul und André. Anstelle der Ankunft der Vier, hatten sie das Signal des Multiversers verloren. Wenn die Daten stimmten, dann war das Gerät im Mittelmeer von Terra versunken. Das wäre nicht gut und eher ein Rückschlag im Rahmen des Versuchs, über die Vernichtung aller Multiverser, die Beschädigungen des Raum-Zeitgefüges zu beenden. Darüber hinaus machte sich Gondvira Sorgen, ob die Vier überbaut noch am Leben waren und nicht mit dem Gerät gemeinsam in den Fluten der antiken See untergegangen waren. Bei diesem Gedanken überkam sie wieder die depressive Stimmung, die ihr immer mehr zu schaffen machte. Sie musste unbedingt Lesalee nach einer medikamentösen Behandlung fragen, um die Depression loszuwerden. An eine Therapie dachte sie weniger dabei; in Wahrheit hatte sie Angst, sich vor anderen Menschen zu öffnen. Zudem betrauerte sie mittlerweile ihre Kinderlosigkeit. Dies war ein weit verbreitetes Phänomen der anderranischen Gesellschaft; die Menschen waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie „vergaßen“, für Nachkommen zu sorgen. So gesehen hätte sie sich vor dem Hintergrund dieser Thematik durchaus outen können, dann hätte sie in einer therapeutischen Sitzung bemerkt, wie viele Leidensgenossen an dem Problem der Einsamkeit und einer gescheiterten Sinnsuche litten.
>Was siehst du?< wollte der Student Charkas wissen, der gerade das Observatorium betreten hatte und sah, wie Gondvira konzentriert durch das Okular des Teleskops blickte.
>Hoffentlich nicht schon wieder eine Sonne verschwunden< seufzte er.
>Nein – ich blicke auf den Mond< antwortete Gondvira und wendete sich von dem Fernrohr ab, um sich Charkas zu widmen.
>Wieso waren wir eigentlich noch nie auf dem Mond< fragte Gondvira den Studenten.
>Weil es da nur nackten Fels und keine Atmosphäre gibt< antwortete Charkas, der eigentlich eine Nachricht hatte für die Professorin mit dem lila Irokesenschnitt.
>Da bin ich mir gar nicht mehr so sicher< meinte Gondvira. Denn sie hatte Änderungen am Erscheinungsbild des Mondes festgestellt.
Anders als der Mond der Erde, rotierte der Trabant von Anderran um seine eigene Achse, und es würde nicht sofort auffallen, wenn kleine Veränderungen an seiner Oberfläche vonstatten gingen. Auch Ortas hatte hin- und wieder ungläubig auf den Mond geschaut und nicht verstanden, warum ein Volk, welches das Multiversum bereiste, nie den Begleiter ihrer eigenen Welt besucht hatte; völlig unverständlich für ihn.
>Lesalee aus Auroville hat angerufen, sie sagt, dass die Multiverser vernichtet worden sind< endlich brachte Charkas die Nachricht vor.
>Na, das ist ja großartig! Und das sagst du mir erst jetzt?!< sie ging sofort zu ihm hin, packte ihn am Arm und zog ihn heraus aus dem Observatorium:
>Das müssen wir den anderen mitteilen!<.
Mit „den anderen“ meinte Gondvira vor allem: Valdur, den Hausmeister und Mann für alles, was so anfällt; Ortas, der am Tag zuvor wieder nach Katenam gekommen war, weil er die Heimkehr von Lira und ihren Begleitern erwartete und die etwa zehn Studenten, die neben Astronomie auch Botanik studierten. Lesalee erteilte des öfteren Vorlesungen im Hörsaal des Observatoriums; dabei ging es auch um vergleichende Botanik unter Berücksichtigung klimatologischer Unterschiede auf verschiedenen Himmelskörpern. Gondvira beabsichtigte, den kleinen Hörsaal aufzusuchen, um die aktuelle politische Entwicklung zu diskutieren. Als sie den Raum erreichten, war dieser bereits gefüllt. Charkas hatte in weiser Voraussicht den anderen schon Bescheid gegeben. Das war der Vorteil einer so kleinen Institution: Kurze Wege und eine sehr persönliche Umgangsweise. Häufig wusste man schon im voraus, was der andere plante oder gedachte zu verifizieren. Fehlerhaftes Verhalten konnte sehr schnell offengelegt und korrigiert werden, was nicht immer sehr angenehm war; darüber hinaus schien die Enge manchmal den persönlichen Freiraum zu begrenzen. Nicht umsonst verdrängte die Thematik der individuellen Entfaltung häufig die eigentlichen wissenschaftlichen Themen, die doziert und gelehrt wurden. Aber man hatte Zeit auf Anderran. Wer wollte, konnte problemlos sein Leben lang studieren.
>Hallo Gondvira!< begrüßte Ortas die Professorin.
>Hallo – warum hast du eigentlich Lesalee nicht mitgebracht?< fragte sie, nicht ganz uneigennützig, wie sie fand.
>Wie du dir denken kannst, ging es hoch her in Auroville< anschließend erzählte Ortas von dem Gespräch, welches Torolei und seine Freundin mit dem Team auf der Insel Vik hatten. Inzwischen war auch das Plenum informiert über den Erfolg der Mission in der Arktis.
>Nur sah der Plan ja etwas anderes vor – nicht wahr?< stellte Gondvira fest, als sie den neuesten Stand der Dinge erfuhr.
>Das ist schrecklich mit dem Verlust von Raf!< bedauerte Ortas >Aber wir werden uns davor hüten müssen, ihn zum Helden zu stilisieren<.
>Er ist ein Opfer des Krieges, ein Opfer dieser Egoisten und Materialisten um Malekko< ergänzte Gondvira.
Plötzlich ging die Tür zum Hörsaal auf und völlig außer Atem betrat Charkas den Raum:
>Das Signal aus Knossos war verschwunden und nun ist es wieder an anderer Stelle aufgetaucht<.
Gondvira verließ sofort mit Ortas den Hörsaal, um in den Raum zu gelangen, in dem sich die Gerätschaften für Kommunikation und Bildbearbeitung befanden:
>Entschuldigung, wir sind gleich wieder zurück!< verabschiedetet sich Gondvira von den Versammelten, die aber, statt zu bleiben, nun den anderen hinterher schlichen, um zu erfahren, was passiert war. Im Labor angekommen, begab sich Gondvira sofort an das Radar ähnliche Gerät, welches den Aufenthaltspunkt des antiken Multiversers anzeigte:
>Lege mal eine Karte darüber vom griechischen Festland!< forderte Gondvira Charkas auf, das Gerät zu konfigurieren.
>Ha – da haben wir`s!< Ortas klatschte in die Hände.
>Wir haben zwei!< korrigierte Gondvira >Zwei Multiverser – in Athen<.
Tatsächlich waren auf dem Monitor zwei schwache kleine Bildpunkte zu erkennen, die sich direkt nebeneinander befanden.
>Können wir nicht ein Bild erzeugen von dem, was da vorgeht?< Ortas war der Meinung, dass dies möglich wäre. Inzwischen waren alle aus dem Hörsaal im Labor anwesend. Ein Student mittleren Alters und langen Haaren trat vor:
>Ich kann das!< Taras hatte in Auroville Informatik studiert und auch geholfen bei der Ausrichtung der Elektronik, als man Zolan des Mordes überführt hatte, der im Jura der Erde stattgefunden hatte. Mit flinken Fingern und höchst konzentriertem Vorgehen schaffte es der Student, die Minikamera des Multiversers zu aktivieren. Das Ergebnis war allerdings nicht sehr überzeugend: Die Aufnahme war verwackelt aufgrund der abrupten Bewegungen, die mit dem Gerät vollzogen wurden.
>Da – das scheint eine Art Tempel zu sein!< meinte Charkas, als ein kleiner Ausschnitt mit ionischen Säulen und bunt bemalten Fresken, oberhalb davon, zu erkennen war.
>Das ist der Parthenon in Athen!< der das sagte, war Dennis, der soeben von Valdur in das Labor geleitet wurde. Der inoffizielle Botschafter der Erde war vor zwei Stunden auf dem Flugfeld von Katenam gelandet, um vor Ort die Situation zu begutachten. Wenn die Zeit einmal reif sein würde, dann wäre Dennis der erste, der von den Aliens jenseits der Milchstraße berichten würde, so glaubte er – manchmal, wenn er sehr viel Optimismus in sich verspürte.
>Ach, Dennis von Terra, schön, dass du gekommen bist! Wo ist dein Freund Tom?< Ortas und Dennis kannten sich ja bereits seit 150 Millionen Jahren, wenn man es durch ein „Zeitdifferenzial“ betrachtete.
>Der muss sich erholen von seinem Geheimauftrag, ganz schön brenzlig gewesen die Geschichte. Er hätte gut draufgehen können dabei< unterschwellig teilte Dennis mit, dass er so gar nicht einverstanden war mit der Rolle, die Tom inzwischen im Bürgerkrieg auf Anderran gespielt hatte und vielleicht auch weiter spielen würde. Bei Tom wusste man das nie so genau, was als nächstes anstand.
>Das tut mir leid, ich hoffe er erholt sich gut< man konnte deutlich das Bedauern vernehmen, das in Ortas Stimme mitgeschwungen hatte.


Der Gobiconodon hatte Schoonas, der sich tatsächlich als König Minos ausgegeben hatte, in den Oberschenkel gebissen und zu Fall gebracht.
>Aufstehen, mein Junge!< Orestes hatte es mit einem 80 jährigen Betrüger zu tun, ihn als „Junge“ zu bezeichnen schien mir etwas unangemessen. Andererseits sah es ganz so aus, als ob er sich in der Ironie üben würde. Da musste er noch an den Details arbeiten.
Lira und Orestes halfen dem alten Mann mit dem Krückstock wieder auf die Beine. Während er in der einen Hand den Multiverser hielt, fiel ihm aus seinem königlichen Umhang das eigentliche Artefakt zu Boden. Ich konnte zur Rechten ein Amphitheater erkennen und zur Linken einen kleineren Bau, der einer Tempelanlage glich. André stand neben mir und meinte:
>Ist dir auch so schlecht?< Er bezog sich selbstredend auf die Reise durch den Zeittunnel.
>Nee!< gab ich zur Antwort.
>Du siehst aber nicht gut aus mit deinen ganzen Bandagen< entgegnete André.
>Was ist los – willst du mich deprimieren?<
>Nein, natürlich nicht< manchmal verstand ich Andrés Scherze nicht, obwohl ich den Kerl jetzt schon so lange kannte.
>Schoonas, was hast du dir nur dabei gedacht?< tadelte Lira den alten Mann, wie einen hinfälligen und verwirrten, aus der Zeit gefallenen Menschen, was zum Teil ja auch stimmte.
>Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig – du junges Ding, du!< antwortete Schoonas auf eine äußerst ungehaltene Art.
Erst jetzt sah ich, dass wir die zwei Multiverser zusammenhatten, also war das Artefakt nicht in Knossos geblieben. So hatten wir unsere Mission nun doch noch – zumindest teilweise - erfolgreich beendet.
>Da schau einmal einer an!< hielt André das Artefakt in Händen und reckte es dann hoch wie eine Trophäe. Dann steckte er es ein, ging auf den Betrüger-König zu und knallte ihm die rechte Faust ins Gesicht:
>Du Scharlatan! Hast du eine Ahnung, was wir alles durchgemacht haben wegen dir?< Lira konnte den alten Mann nicht mehr halten und er fiel zu Boden, und mit ihm sein Gehstock und der zweite Multiverser. Alles lag im Staub des Jahres 323 vor der Geburt eines Mannes, der vielleicht auch ein Zeitreisender gewesen war - wie wir.
Ich war schockiert über das Verhalten meines Freundes. In all den Jahren hatte ich noch nie erlebt, dass André gewalttätig geworden war. Allerdings konnte ich die Affekthandlung nachvollziehen. Ich ging zu Lira und nahm sie in den Arm:
>Alles in Ordnung?< wollte ich von ihr wissen, denn Gewaltausbrüche jeder Art verabscheute die Frau zutiefst, das wusste ich.
>Ja, Liebster, es geht schon< und schaute mich wieder mit diesen wunderschönen kastanienbraunen Augen an, bei dessen Anblick ich regelmäßig weiche Knie bekam.
Wir halfen Schoonas wieder auf die Beine, der eine ganze Weile stumm blieb, wie ein kalter Fisch, den man aufs trockene Land geworfen hatte. Dann verband Lira, die immer mehr Routine im Verarzten bekam, das Bein des alten Mannes. Auch mein Freund André blieb still und ich ahnte, dass er den Faustschlag in das Gesicht des alten Mannes, bereute. Ich nahm an, dass all das, was wir bisher erlebt hatten, nicht ohne Spuren in unserem Verhalten bleiben konnte. Zudem war das menschliche Gehirn nicht dafür ausgelegt, durch die Zeit zu reisen, jedenfalls nicht durch künstlich erzeugte Reisen, wie wir sie unternahmen. Ähnliche Gedanken gingen mir manchmal durch den Kopf, wenn ich in einem Düsenjet gesessen hatte und mich hoch oben über den Wolken befand und ich sehen konnte – bei einem Blick aus dem Bullauge – wie alles unter uns zu einem Miniatur Ensemble sich verkleinerte. Da dachte ich auch: Das Fliegen sollte man den Vögeln überlassen, wir sind dazu nicht geboren.
Hin und wieder war mein Denken ein eher konservativ Geprägtes. Ich war stets empfänglich für neue Ideen und Gedanken, hielt mir aber immer eine Tür offen, die es mir erlaubte, durch sie hindurch zu schlüpfen, um Räume zu betreten, die mir bekannt waren, und manchmal legte ich mich in einem dieser Räume auch gemütlich auf eine Chaiselongue, um mich von den (Gedanken-) Strapazen zu erholen. Das ging an diesem sonnigen Tag im Schatten des Parthenons leider nicht.
>Sieh mal da!< zeigte Lira auf einen älteren Mann, der in einem kleinen Garten saß und einen Jungen bei sich hatte, mit dem er sich offensichtlich im Gespräch befand.
Orestes hatte inzwischen den Multiverser unter Kontrolle, mit dem Schoonas seine eigene kleine Privatreise veranstaltet hatte:
>323 – gar keine Frage; die Anzeige ist eindeutig< flüsterte Orestes.
>In diesem Jahr ist euer Alexander gestorben< fügte er leise hinzu. Mit „eurem Alexander“ meinte er natürlich König Alexander von Makedonien, den man auch „den Großen“ nannte.
Orestes und ich waren diejenigen, die wohl am ehesten die antiken Zeitlinien zuordnen konnten. Ich war immer wieder erstaunt, wie gut der außerirdische Student Bescheid wusste über die terranische Historie. Nun waren wir in der Oberstadt - auf der Akropolis, dem Hausberg Athens - , gelandet.
>Welches genaue Datum haben wir heute?< wollte ich wissen.
>10. Juni - ein Mittwoch!< es war der genaue Todestag von Alexander, der gerade einmal 33 Jahre alt geworden war, und wie manche munkeln, am Suff krepiert sei. Hoffentlich ist die Kunde von seinem Tod noch nicht bis nach Athen vorgedrungen, denn dann wird es hier verdammt heiß hergehen, dachte ich. Allerdings würde ein Bote von Babylon bis nach Athen länger als drei Wochen unterwegs sein, mutmaßte ich. Da hatten wir noch etwas Zeit. Meine nächste Frage hatte Orestes schon erraten und gab mir Bescheid:
>Die nächste Pforte nach Anderran können wir in drei Tagen öffnen, früher ist kein Wurmloch aktiv<. Dann verschwand der Multiverser in Orestes` Umhang.
>Sollen wir mal zu ihm hin?< hatte André seine verbale Blockade überwunden und deutete auf den Mann, der mit dem Knaben im Schatten einer weit ausladenden Zeder saß. Umrahmt und durchzogen war das herrlich duftende Gartenidyll von Wildrosen in allerlei Rotschattierungen, bis hin zu leuchtend gelben Blütenschönheiten.
>Klar!< meinte ich. Lira und Orestes nickten beide und signalisiertem damit ihr „Okay“.
>Wird wahrscheinlich Aristoteles sein< fügte André hinzu.
>Da kannst du einen drauf lassen, du dämlicher Furz!< nun hatte also auch unser kalte Fisch die Worte wieder gefunden – nur waren es die falschen, denn André wollte gerade erneut ausholen, als ich ihn stoppte:
>Es reicht!< mein Freund senkte den Arm.
>Und du, mein Lieber hältst dich ab jetzt zurück, sonst verpassen wir dir einen Knebel!< meinte ich zu Schoonas. Lira hatte mir erzählt, dass Schoonas einst – neben Leartas – als äußerst gelehrsamer und gebildeter Mensch galt, dazu ein versierter Redner und Historiker war. Ich konnte nicht glauben, wie ein solches Individuum, sich so herablassend und schäbig benehmen konnte.
>Hallo!< betraten wir den Garten durch eine kleine Pforte. Dabei hatte wir nicht mitbekommen, wie eine weitere Person sich hinter der Hecke aufhielt, die wir schon durchschritten hatten.
>Halt! Ohne Erlaubnis, kein Zutritt! Wer seid Ihr?< wollte der „Ordner“ von uns wissen. Aristoteles, oder wer immer dieser Mann war, winkte den Mann mit dem langen Speer und der ledernen Uniform zu sich hin. Wir erhielten den klaren Befehl, an der Pforte zu warten. Der „Ordner“ war natürlich keiner. Das war zweifellos ein Soldat, wahrscheinlich ein makedonischer, denn die Stadt stand schon unter Alexanders Vater Philipp unter makedonischer Kontrolle. Faktisch war Athen besiegt und im Folgejahr 322 endete die attische Demokratie, nach etwa 150 Jahren Bestand.
Der Mann übergab dem Soldaten das Kind in seine Obhut, der anschließend den Garten verließ.. Wir sollten näher treten, so jedenfalls die Geste des Mannes, der nun alleine auf einer Bank saß, die offensichtlich aus dem gleichen Material bestand wie der Parthenon: Marmor aus einem Steinbruch unweit von Athen. Ein besonders weißer Stein, der auch später bei der Restaurierung des Tempels - im 21. Jahrhundert - wieder Verwendung finden würde. Dieser Stein eignete sich durch seine Reinheit und Helligkeit besonders gut, um bemalt zu werden. Diesen Umstand nutzten die Athener außerordentlich und reichlich, um das komplette Gebäude herum ein Band der Glaubensphilosophie, Kultur und Politik zu präsentieren und das in einem Farbspektrum, dass einem der Atem stockte. Manche würden dies als Zuckerbäcker Romantik bezeichnen oder antikes Disney-Land. Wie immer in den Fällen, wo Kunst beschworen und auch Macht zur Schau gestellt wurde, war es einerlei, wie man sich entschied: Die Beurteilung über die Qualität würde immer eine Subjektive sein.
>Ihr müsst das Verhalten des Soldaten entschuldigen, aber es sind unruhige Zeiten< meinte der Alte, der gar nicht so alt war. Ich glaubte zu wissen, dass er genau 61 Lenze zählte zu diesem Zeitpunkt.
>Aristoteles?<
Bevor ich es auch nur in Erwägung gezogen hatte, kam mir Schoonas zuvor und fragte den Mann nach seinem Namen, wie ich fand, auch das wieder sehr unhöflich und unkultiviert. Wenn das so weiter ging, mussten wir uns etwas anderes mit ihm ausdenken. Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass der Kerl den Verstand verloren hatte. Wie, um meine Befürchtung zu bestätigen, warf sich Schoonas völlig ungehemmt auf den Boden:
>Euer gnädigste Diener, Minos von Kreta!< stellte sich Schoonas von Anderran vor. Ein Alien aus der Pegasus Galaxie, über drei Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Konnte es sein, dass Schoonas schizoid war? Vielleicht hatte ihn der Zeitreise-Koller erwischt. Wer weiß, wo der Mann schon überall gewesen war und für wen er sich ausgegeben hatte. Aber ich glaubte nun, meine Frage beantwortet zu wissen, warum Schoonas ausgerechnet diese Zeit für seine Flucht durch das Tor gewählt hatte: Er wollte unbedingt dem leibhaftigen Aristoteles gegenüberstehen – stattdessen lag er nun vor dem „alten Griechen“ im Staub.
>Steht auf – ich bin genau wie Ihr, nur den Göttern verpflichtet!<.
Das war politisch sehr unkorrekt und gefährlich von Aristoteles, als Besucher in Athen und Freund des makedonischen Statthalters Antipatros saß Aristoteles auf keiner steinernen Bank, sondern zwischen allen Stühlen, wie ich fand. Einige der Athener Bürgerschaft forderten seinen Kopf und so mancher Makedone misstraute dem alten Herrn. Als Kollaborateur bezichtigt zu werden, dieses Schicksal und die folgende Todesstrafe, konnte Aristoteles jeder Zeit ereilen – und das wusste der Philosoph und frühere Lehrer Alexanders auch genau und verließ die Stadt im darauffolgenden Jahr.
>Ihr seht furchtbar aus!< der Philosoph deutete auf mich und Schoonas, der inzwischen wieder auf den Beinen stand >Ihr werdet mich begleiten müssen zum Tempel des Asklepios; dort werdet Ihr ordentlich behandelt werden<. Das war keine schlechte Idee.
Lira hatte hervorragende medizinische Arbeit geleistet, aber eine ordentliche Desinfektion an Schoonas` Bein und ein neuer Verband um meinen Hals wäre auch nicht schlecht, da war ich mir ganz sicher und war gespannt auf die ärztlichen Raffinessen der alten Athener.
>Drei Tage< André hob die Augenbrauen und signalisierte mir, dass er genug hatte von unseren Reiseabenteuern. Ich konnte ihn sehr wohl verstehen. Zuerst die Abfahrt nach Kreta verpasst und jetzt in Athen gelandet, wo sich die Stadt an einem entscheidenden Wendepunkt ihrer Geschichte befand.
>Kommt!<
Aristoteles setzte sich an die Spitze unserer Gruppe; sein strahlend weißes Gewand entsprach den Vorstellungen, die man sich gemeinhin machte über die Kleidung der Eliten jener Zeit. Der Stoff wehte im kräftig daherkommenden südlichen Wind und geriet in Wallung, sodass sich der Philosoph „aufzublasen“ begann. Jetzt war er noch größer, als ich ihn mir je vorgestellt hatte. Im Zuge dieser Gedanken nahm ich mir vor, nicht in Ehrfurcht zu erstarren. Wir waren zudem auch nur auf Durchreise und sollten keinesfalls den genauen Zeitpunkt für unsere Abreise verpassen. Daher würde nicht all zu viel Zeit für philosophische Gespräche übrig bleiben.
>Drei Tage< wiederholte mein Freund und spreizte Daumen-, Zeige- und Ringfinger zu der Zahl Drei.
>Ja, Ja!< antwortete ich schmachtend >Meinst du, ich habe vor, hier meinen Lebensabend zu verbringen?<.
Ich zog mit meinem rechten Arm einen imaginären Kreisbogen über den vor uns liegenden Teil der Akropolis und erinnerte mich in diesem Augenblick, wie Apostis diese Geste auf Thera vollzogen hatte, als er uns demonstrierte, wie ausgedehnt das minoische Handelsimperium sei.
>Genau das meine ich< antwortete mein Freund.
Natürlich kannte er meine Vorlieben für antike Geschichten, Philosophien und die unglaublichen Entdeckungen und Erfindungen, die als grandioser Teil dieser Epoche der europäischen Geschichte ihre Fortsetzung in der Renaissance fanden und die Grundlagen bildeten für die sogenannte Neuzeit. André hatte Recht. Einerseits wäre ich gerne geblieben, andererseits war mir klar, dass wir alle nicht hier hin gehörten.
>Da sind wir eben dran vorbeigekommen<
André meinte das Dionysos Theater unterhalb des Parthenons, dessen imposanten spirituellen Schatten wir nun verlassen hatten. In der Tat waren wir ganz in der Nähe der Bühne antiker Schauspiele durch das Tor in diese alte, neue Wirklichkeit getreten. Rechts davon war der Säulengang vom Tempel des griechischen Gottes der Heilkunst zu sehen: Asklepios. Daneben befand sich ein kleineres, beinahe unscheinbares Gebäude, welches wohl unser Bestimmungsort war. Ich glaubte nicht, dass man in einem Tempel Kranke und Unfallopfer versorgen würde. Ich sollte Recht behalten mit meiner Annahme.
>Macht ein bisschen schneller!< rief André unseren „Sanitätern“ Lira und Orestes zu, die sich immer noch um Schoonas kümmerten und ihn stützten auf dem Weg zur „Unfallstation“.
Orestes hielt den Gehstock von Schoonas in der linken und Lira hatte ihr Bündel in der rechten Hand. Wir waren nicht mehr weit entfernt von dem Gebäude und so verkniff ich es mir, die zwei von ihrem Job zu erlösen. Ich stellte fest, dass ich Schoonas nicht mochte, zumindest nicht als ungehobelten, ja, aggressiv auftretenden Menschen, der es hervorragend verstand, die Leute gegen sich aufzubringen.
>Tut das weh?<
Ein junges Mädchen, welches im Allgemeinen als Dienerin im Tempel des Asklepios ihren Dienst verrichtete, strich mit einem Spatel eine Salbe auf die Wunde meines Halses.
>Nein!<
Es brannte saumäßig, aber ich wollte mir vor der jungen Frau keine Blöße geben. Außerdem war ich der Meinung, dass die alten Griechen äußerst hartgesottene Typen waren. Ich würde zwar nie dem Bild eines Adonis entsprechen, aber ich wollte auch nicht als Weichei in die Geschichte des antiken Athen eingehen.
Wie ich mir gedacht hatte, befanden wir uns in einer Sanitäts- und Krankenstation. Der Raum, in dem wir uns aufhielten, war der Erste-Hilfe-Bereich. Schoonas` Bein wurde gerade verbunden und Lira mit Orestes beobachteten schweigend, wie wir behandelt wurden. Aristoteles sprach unterdessen mit einer Frau, die eine Priesterin zu sein schien. Jedenfalls offenbarte sie die äußeren Insignien einer höher gestellten Person, die eine wichtige religiöse Funktion erfüllte: Diverse Amulette um den Hals, ein prachtvolles und farbenfrohes Gewand sowie eine kunstvoll hergerichtete hochgesteckte Frisur. Ich war beeindruckt. Mal wieder. Und staunte, wie ein kleines Kind, das in eine ihm völlig fremde Märchenwelt hineingeraten war.
>Zieht das bitte aus!< forderte mich das Mädchen auf.
Sie meinte die karierte und durchlöcherte Hose. Wie gewünscht entledigte ich mich dem keltischen Beinkleid, um mir das ramponierte Knie neu verbinden zu lassen. Ebenso geschickt und routiniert verarztete sie auch die Wunde an meiner linken Hand, die mir der minoische Wächter des Gefängniswagens beigebracht hatte. Anis und Apostis gingen mir durch den Kopf; ob sie wohl vor dem drohenden Gerichtsverfahren fliehen konnten im allgemeinen Tumult auf den Straßen von Knossos?
>Ihr müsst wahrlich einen harten Kampf ausgefochten haben< stellte das Mädchen fest, nachdem sie abschließend auch die Hand verbunden hatte.
>Ach, das war gar nichts!<
Ich bereute sofort meine großmäulige Art, denn die junge Frau wollte wissen, in welcher Einheit ich denn kämpfen würde. Die Uniform, die ich trug, wäre ihr völlig unbekannt. Glücklicherweise hatte sich Aristoteles genähert und unterbrach unseren Plausch:
>Ihr könnt Asyl erhalten, wenn ihr wollt, aber ich muss Euch warnen: Die Zeiten sind politisch instabil und nicht ungefährlich<.
Ich wusste, dass das Asyl eine antike griechische Errungenschaft und ein zutiefst humanes Instrument der Demokratisierung der Gesellschaft war. Aber es war auch immer ein politisches Instrument, welches den jeweiligen Mächtigen erlaubte, Druck auszuüben auf missliebige Nachbarn und nicht selten wurden die politisch Verfolgten Schachfiguren gleich als Tauschobjekte gehandelt auf dem Parkett der internationalen Politik.
>Ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet für dieses Angebot< entgegnete ich in aller Bescheidenheit nun wieder, nachdem ich zuvor bei der Arzthelferin den Macho markiert hatte, den mir sowieso niemand abnahm.
Im Folgenden erklärte ich dem Philosophen unsere Lage: Wir wären Reisende aus dem Keltenland und würden uns schon sehr bald wieder auf den Heimweg machen. André hatte unser Gespräch mitbekommen und war an uns herangetreten:
>Es stimmt, guter Mann! Wir haben dringende Termine und müssen sehr bald wieder zurück in den Norden<.
Mein Freund wollte wirklich nur noch weg, aber die drei Tage mussten wir jetzt irgendwie überbrücken. Ich war der Meinung, dass es besser wäre in Athen zu bleiben, als sich auf eine unter Umständen gefahrvolle Wanderschaft zu begeben. Wir konnten nicht wissen, was außerhalb des attischen Stadtstaates auf uns warten würde, vielleicht gäbe es dort schon längst Unruhen. Zudem bestand immer die Gefahr, von räuberischen Banden überfallen zu werden, vor allem, wenn man als Händler identifiziert wurde.
>Gut – ich werde Euch jetzt verlassen, denn ich habe eine wichtige Unterredung zu führen, die keinen Aufschub duldet<.
Aristoteles verbeugte sich, ging auf eine der Helferinnen zu und bedeutete ihr, alles weitere zu unseren Gunsten zu unternehmen, darunter auch die Empfehlung für eine Unterkunft in der Stadt. Das war doch mal eine erfreuliche Zusammenkunft hier im Krankenhaus der Akropolis! Ich seufzte tief und atmete schon viel ruhiger. Als ich das Wort „Unterkunft“ vernahm, spürte ich das erste Mal an diesem Tag, wie müde ich eigentlich war. Ich bedurfte wahrlich einer langen und gut gepolsterten Bettruhe, am besten mit vorherigem ausgiebigen und gutem Essen und Trinken. Meine Begleiter benötigten die gleichen Annehmlichkeiten, da war ich mir sicher. Also würden wir – ohne philosophische Nachtgedanken des Aristoteles – uns eine Pension suchen und rekonvaleszieren.
>Puh!< seufzte mein Freund André, der sicher froh war, dass der große Philosoph von Dannen zog.
Der Mann war kein Liebhaber philosophischer Plaudereien, glaubte aber an die Beständigkeit der Musik und vor allem des Jazz.
Kompositionen und Improvisationen dieses Genres würden ewig bestehen. Sie wären ebenso langlebig, kunstvoll und immens vital wie die Schöpfungen der Kleinen Nachtmusik, Carmina Burana oder Die Unvollendete. Wie fast immer stimmte ich da meinem geschätzten (Kunst) Freund und langjährigen Begleiter während so vieler großartiger Gespräche über Kunst, Architektur und Botanik zu.
>Kommt Ihr morgen zu uns ins Theater< wandte sich die Dienerin des Asklepios, die bis dahin den sehr still gewordenen Schoonas behandelt hatte, an uns >Es gibt „Die Perser“ unseres geliebten Poeten Aischylos<.
Ich hatte am Gymnasium die Antigone von Sophokles gelesen, muss aber gestehen, ein Feuer der Leidenschaft für diese Art der Dichtkunst hatte es in meiner Brust nicht entzündet. Auf der anderen Seite wollte ich unbedingt ins Theater, um den Ausblick zu genießen auf die attische Landschaft, die sich zu Füßen des Odeons ausbreitet bis an die See bei Piräus. Ich wollte gerade freudig zustimmen, als mich André „respektvoll“ in die Rippen stieß, um mir zu verstehen zu geben, dass wir keine Zusagen mehr in dieser Zeit machen sollten, wenn sie nicht in direktem Zusammenhang mit unserer Heimreise standen.
>Vielleicht – wir müssen uns erst erholen von den Strapazen unserer Reise< kam mir Orestes mit einer Antwort zuvor.
>Ja, richtig. Ich bringe Euch zu einer Schlafstatt, etwas unterhalb des Tempels< sagte eine weitere junge Tempeldienerin, die mir noch nicht aufgefallen war. Sie hieß Hephaistas und der Name ließ mich an einen Schmiedehammer denken, der soeben auf einen glühend heißen Amboss knallte. Nach der fantasievollen Vorstellung sprühender Funken, schmelzenden Gesteins und fließendem Stahl spürte ich in der Folge, wie immer mehr die Energie aus mir entwich.
>Ich bin müde!< meinte ich zu Lira, die zu mir herübergekommen war >Ich auch, mein Lieber! Ich freue mich schon auf unser Kuscheln im Bett!< entgegnete sie.
Schoonas war wieder auf den Beinen, Hepahaistas war klar zum Aufbruch und geleitete uns zum Ausgang der Krankenstation. Wir waren gut versorgt worden und ich wollte, nachdem ich Gymnastika schon einen Altar versprochen hatte, nun auch Pallas Athene entsprechend mit einem Andenken ehren, wenn ich wieder Zuhause sein würde – in Aachen, im 21. Jahrhundert. Eigentlich wollte ich an diesem Tage des 10. Juni 323 v.u.Z. noch von Schoonas erfahren, was ihn dazu bewogen hatte, in Knossos den König zu machen, aber ich wollte mir das für den nächsten Tag aufbewahren. Für heute hatte ich genug und freute mich auf einen gesunden frischen Salat und ein bequemes Bett für die Nacht – es sollte ein wenig anders kommen.

Die Tempeldienerin Hephaistas führte uns durch die Gassen der Unterstadt; es war sehr eng hier, die Häuser wirkten gedrungen und standen sehr nahe beieinander. Anders als in Knossos und Akrothiri wurde dem zweiten meist kein drittes Stockwerk hinzugefügt. Die Fassaden waren weiß gehalten, besaßen aber auch durchaus bunte Elemente diverser Ornamentik. Wie bei den Minoern waren die Wege und Straßen gepflastert und es gab eine Kanalisation. Alles hier schmiegte sich harmonisch ein in das Landschaftsbild im Schatten der Akropolis mit seinen Heiligtümern und Tempeln. Wir kamen schließlich an und standen vor der Gastwirtschaft, in der wir auch übernachten konnten. Dies alles würde einmal Plaka genannt werden, die kommende Altstadt des modernen Athens.
>Wir sind da!< sagte Hephaistas kurz und knapp >Kehrt ruhig ein, ihr werdet zufrieden sein. Vielleicht sehen wir uns morgen im Theater<. „Der Schmiedehammer“ verabschiedete sich und wir betraten die Taverne. André war vorangegangen:
>Ist das voll hier!< meinte er niedergeschlagen. Wir waren alle ziemlich ermattet und wollten eigentlich nur noch in Ruhe etwas essen und dann zu Bett gehen. Stattdessen waren wir nun in einer Schänke gelandet, die rammelvoll war und der Lautstärkepegel unangenehm hoch. Zudem schien der Universaltranslator Probleme zu machen. Das erste Mal übersetzte er unpräzise oder gar nicht. Ich glaubte tatsächlich, die griechische Sprache zu vernehmen. Offensichtlich kam die altertümliche Konversation dem modernen Griechisch schon sehr nahe. Aber ich war kein Sprachwissenschaftler und beabsichtigte auch nicht, es zu werden. Lira sagte etwas zu mir, was ich nicht verstand; dafür hörte ich zum ersten Mal live die anderranische Sprache, die alles sprengte, was ich je gehörte gehört hatte. Einem völlig fremdartigen Gemisch von Vokalen und Konsonanten wurden Klicklaute hinzugefügt, die tatsächlich auf dem afrikanischen Kontinent unserer Zeit von einigen Stämmen noch gesprochen wurde. Lira verstand von dem, was ich sagte, natürlich genau so wenig.
Da waren wir also: Vier Reisende, die untereinander nicht mehr kommunizieren konnten und auch kein Wort von dem verstanden, was in der Kneipe vor sich ging. Orestes holte den Kommunikator aus dem Inneren seines Umhangs hervor und skalierte das Gerät:
>Verstehst du mich, Paul?< Orestes schaute mir ins Gesicht und schrie mich förmlich an. Um uns herum in der Kneipe wurde es schlagartig still. Alle Anwesenden schienen sich auf die Neuankömmlinge zu fokussieren. Ich kam mir vor wie auf einem Präsentierteller und die Zeit schien erstmals seit unseren Reisen still zu stehen. Endlich kam eine Frau ruhigen Schrittes auf uns zu:
>Können wir etwas für Euch tun, Fremde?< Mir fiel ein Stein vom Herzen. Offensichtlich kam Orestes mit der Technik immer besser klar und hatte den Übersetzer wieder ans Laufen gekriegt.
>Wir hätten gerne etwas zu essen und ein Bett für die Nacht<. Natürlich hatte ich André verstanden, denn wir sprachen ja beide Deutsch, aber auch den Gesichtern der anderen konnte ich entnehmen, dass der Kommunikator wieder funktionierte. Alles wird gut, dachte ich, nur um mich zu beruhigen.
>Bitte kommt. Dort ist noch etwas frei< die Frau geleitete uns zu einem Tisch, der nahe am Fenster zu einem der Hinterhöfe stand. Es war die einzige freie Stelle in der Taverne. Ungefähr vierzig Menschen waren zugegen an diesem späten Nachmittag, der mir vorkam wie die Stunden in der tiefsten und dunkelsten Nacht. Wir setzten uns und allmählich begann die Konversation um uns herum wieder an Fahrt aufzunehmen. Ich konnte verstehen, wie sich jemand über die „verdammten Besatzer“ echauffierte. Damit meinte er die Makedonier, die die Macht in Athen innehatten, und natürlich deren athenische Helfer, manche nannten sie auch Kollaborateure.
>Ich fürchte, es gibt Spannungen hier< meinte ich zu meinen Begleitern. Darauf antwortete Schoonas erstmals völlig frei und ohne Impertinenz:
>Da hast du Recht. Und wenn die Kunde von Alexanders Tod eintrifft, dann wird es Krieg geben< das war ein Statement, welches ich zu hundert Prozent bestätigen konnte.
>Psst!< mahnte Lira vorsichtshalber zur Ruhe. Wir sollten und wollten den geschichtlichen Abläufen keinesfalls vorgreifen.
>Wir haben heute geschmorten Weißkohl mit Kümmel und Lammfleisch< offerierte man uns etwas, was wir alle gedachten zu essen. Etwas anderes gab es auch nicht. Dies war ja auch kein Gyros Grill im Pontviertel von Aachen. Als der Wein angerollt kam, musste ich allerdings passen. Glücklicherweise wurde hier immer ausreichend Wasser dazu gegeben, sodass ich keine Probleme mit adäquater Flüssigkeitszufuhr hatte.
>Scheint ja nochmal gut gegangen zu sein< konstatierte Lira, die mir gegenübersaß >Ich bin froh, dass wir wieder miteinander reden können – das war ja furchtbar eben!<. Die Sprache, die sie von mir zu hören bekommen hatte war für sie natürlich genauso ungewöhnlich – vielleicht sogar abschreckend – wie das Anderranische für mich. Wir hatten uns so sehr an die moderne Technik gewöhnt, dass wir – ohne, dass es uns bewusst war – in eine totale Abhängigkeit geraten waren. Was würde aus den Anderranern nur werden, wenn sie ihre Zeitreisetechnologie erst vernichtet hätten? Konnten sie überhaupt noch ohne diese existieren? Sie würden zumindest eine Weile unter „Entzugssymptomen“ leiden, da war ich mir sicher.
>Ich freue mich auf den Schmortopf!< gierte André nach dem Essen, streckte seine Beine unter dem Tisch aus und traf eines von Schoonas, der sich zurückzog und überhaupt nicht in die Offensive ging. Stattdessen begann er in Ruhe zu erzählen, saß würdevoll und aufrecht am Tisch:
>Ich bitte in aller Form um Entschuldigung für mein Verhalten!< aus seinem Umhang zog er eine Papyrusrolle hervor und breitete sie überaus sorgfältig auf dem Tisch aus:
>Dies ist der Teil eines Dokuments, welches erklärt, wie und warum das minoische Zusammenleben für menschliche Verhältnisse so harmonisch und relativ friedlich verlaufen ist. Die Geschichte von Terra wird umgeschrieben werden müssen, denn der Beweis liegt hier, dass die Philosophien der Athener Polis schon viel früher entwickelt wurden – auf Kreta!<. Ganz spontan präsentierte ich meine linke bandagierte Hand dem anderranischen Philosophen:
>Die Entwicklung der Menschenrechte waren wohl noch nicht so weit. Und der Gefängniswagen war für Anis, die immerhin auf der „Minoa“ schwer verletzt worden war auch kein gepolstertes Museumsstück!< entgegnete ich Schoonas. Ich war froh, dass er seinen Verstand wieder gebrauchte, konnte aber seinen Ausführungen nicht uneingeschränkt zustimmen – bisher jedenfalls nicht.
>Das ist ja alles schön und gut, aber musst du dich als König ausgeben. Und überhaupt, wie bist du dem Mörder Zolan entkommen?< wollte Lira von ihm wissen.
>Alles zu seiner Zeit!< sprach er und schwieg dann erneut für eine Weile, rollte überaus bedächtig den Papyrus wieder zusammen und verbarg ihn unter seinem minoischen Königsgewand.
>König Minos von Kreta< ergänzte André sarkastisch die Erläuterungen des Anderraners und musterte den 80 Jahre alten Mann ziemlich verächtlich. Der außerirdische Philosoph schien wieder völlig in seine Ruhe gekommen zu sein und ließ sich in keinster Weise von meinem Freund provozieren. Ich war ungemein dankbar für diese Entwicklung. Wie es dazu gekommen war, war mir zwar ein Rätsel, aber auch ziemlich egal - an diesem frühen Abend im Schatten der Akropolis. Was war das nur für ein geheimnisvolles Schriftstück? Diese Frage ließ mich bis in die tiefe Nacht nicht mehr zur Ruhe kommen.


Auf dem Mond Arkadia beobachtete man ganz genau, was auf Anderran vor sich ging. Vor vielen, vielen Jahren hatte sich die Evolutionslinie der beiden Völker getrennt. Während die Anderraner auf ihrem Planeten blieben und sich beinahe bis in den Untergang bekriegten, besiedelten die Arkadier den Trabanten von Anderran und gründeten ihre eigene Gesellschaft, die wesentlich friedlicher beschaffen war. Am vorläufigen Ende der Entwicklungslinie standen Zeitreisen – die Arkadier waren auch die Erschaffer der Multiverser – und eine Raumfahrt, die es ihnen ermöglichte, problemlos das Weltall zu bereisen, ohne die gefährliche Technologie der Multiverser weiter zu benutzen. Über den Mond hatte man schon vor langer Zeit einen holografischen Schild gelegt, damit sie nicht von ihren „Verwandten“ entdeckt würden. Doch heute war etwas mit dem Schutzschild nicht in Ordnung:
>Was ist nur mit der Projektion los?< Kommandant Jordan verstand nicht. Nie waren irgendwelche Probleme damit verbunden, alles funktionierte fast immer einwandfrei. Seine Frau – Subkommandantin Jordan – hielt dagegen:
>Endlich mal etwas los hier, Erik!< die Zwei hatten in der Tat nie viel zu tun.
Ein wenig ähnelte ihre Tätigkeit der, die ihre „Verwandten“ auf der Insel Vik ausübten. Alles ging seinen Gang und war blanke Routine. Abwechslung brachten allenfalls Vergnügungen in den holografischen Studios. Dass einmal Photonen, also Lichtteilchen, so modifiziert werden konnten, dass sie Projektionen erzeugen würden, die denen der menschlichen Originale in Nichts nachstanden, das kannte man allenfalls aus der terrestrischen Science Fiction. Hier aber war es Realität. Und auch die Realität hinter dem lunaren Schirm war erstaunlich anders als die, welche von den Anderranern als öder und toter Mond beschrieben wurde. Tatsächlich lebten die Arkadier im Paradies! Da der Mond eine stabile Achse hatte und diese nicht geneigt war, hatte sich ein gleichbleibendes subtropisches bis gemäßigtes Klima auf dem Trabanten etablieren können. Dies erlaubte regelmäßige und mehrjährige Ernten und die Bewohner kannten weder Hungerkatastrophen, noch Dürre oder extreme Wetterphänomene. Und dieses Paradies wollten sie auch behalten und unter keinen Umständen mit ihren Brüdern und Schwestern von Anderran teilen. So war es beschlossen und niedergeschrieben und so war das Gesetz: Ein für Allemal!



Gondvira war seit langem mal wieder recht zufrieden mit sich und der Welt. Immerhin wussten sie auf der astronomischen Station inzwischen, dass ihre vier Leute, die sie auf die Reise in die Antike der Erde geschickt hatten, wohlauf waren. Vier Leute? Nein, es waren auf dem Monitor fünf Personen lokalisiert worden. Ortas war sich ziemlich sicher, dass die fünfte Person Schoonas war. Dies wiederum war natürlich reine Spekulation. Aber die Vermutung von Ortas wurde von einem Indiz erhärtet: Sie hatten zwei Multiverser geortet, aber eines war ja in der See versunken, also wo kam nun das dritte Signal auf einmal her?
>Schoonas ist Zolan entkommen, als er versucht hat, ihn zu ermorden< hatte Ortas gesagt und vermutete weiter, dass der schon lange geplant hatte, nach Kreta zu reisen.
Gondvira hatte geantwortet, dass sie im Falle einer Heimkehr von Schoonas, diesen befragen müssten. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es müßig, weiteren Spekulationen nachzugehen. Im übrigen war sie heilfroh, dass die Aktion im Nordmeer erfolgreich abgeschlossen worden war. Dem Plebiszit von Anderran – über den Ausstieg aus der Zeitreisetechnologie – wurde hiermit Rechnung getragen. Und das war für die politische Willensbildung und den Erhalt der Anarchie immens wichtig. Der Bürgerkrieg musste beendet werden – unbedingt. Die Professorin hatte die Studenten über die erfolgreiche Mission auf der Insel Vik unterrichtet, aber nun wollte sie sich wieder dem Trabanten zuwenden, der ihren Heimatplaneten umkreiste. Ortas stand neben ihr und beide weilten im Raum des Teleskops.
>Und du hast gesehen, wie sich die Oberfläche veränderte?< wollte Ortas wissen.
>Das kann man so nicht sagen; es war eher eine kurze Fluktuation im Erscheinungsbild des Mondes, wie, als wenn etwas mit ungeheuer großem Tempo am Trabanten vorbeigeflogen wäre< antwortete Gondvira.
>Kann es nicht sein, dass das Teleskop defekt ist?<
>Ich habe das überprüft – alles in Ordnung.<
>Wie ist das mit dem Spiegel – vielleicht muss der mal gesäubert werden?<
>Den haben wir letzte Woche noch geschrubbt<
>Ein Fehler in der Elektronik?<
>Überprüft – da war Taras noch dran, den du ja kennen gelernt hast<.
Gondvira war Wissenschaftlerin durch und durch, und sehr professionell. Bevor sie ein Resultat verkündete oder eine Theorie vorstellte, ging sie immer nach dem Ausschlussverfahren vor, das heißt, sie eliminierte fehlerhafte Quellen, sortierte falsche Fakten aus, überprüfte fragwürdige Inhalte mehrmals nach ihren Urhebern und setzte sich immer und konsequent in konstruktiven Dialogen mit den Kollegen auseinander. Die Frau galt als Vorbild im Wissenschaftsbetrieb von Anderran, und der befand sich nicht in einem von Eitelkeit und Egoismen geprägten Wettkampf, sondern setzte ganz und gar auf Kooperation und interdisziplinäre Forschung. Deshalb war die Professorin mit dem Irokesenschnitt nicht nur Astronomin, sondern verstand sich auch auf botanischem Gebiet recht gut. Sie hätte durchaus auch Lesalee in ihrem Pharmalabor in Auroville zur Hand gehen können. Grundlage für dieses Arbeiten war: Man verstand nicht nur, dass man ein Teil von etwas Größerem war, sondern setzte auch sein Tun immer im Wissen um das Ganze ein. Daraus entwickelte sich eine allumfassende Ethik der Komplexität des Ganzen. Der Anarchismus hatte da seinen festen Platz. Er gab den Menschen den Freiraum, um seine Interessen zu verfolgen, seinen Neigungen nachzugehen und sich selbst zu formen. Eigentlich konnten immer nur Anleitungen gegeben werden; die Präsenz von Wissen und sozialer Verantwortung waren in jedem Menschen angelegt, sie mussten nur gefördert werden. Dies tat man stets und in großem Umfang. Und aus der historischen Erfahrung heraus wusste man auch, dass Expertenwissen ohne Kompetenz in der Sozietät ein destruktiver Weg war, der sehr oft in einem Abgrund von Niederlage und Zerstörung endete.
>Ich ahne, du hast eine Theorie< meinte Ortas und drehte gedankenverloren an einem Schräubchen, welches sich am Schwenkarm des Teleskops befand und sich offensichtlich gelockert hatte.
>Ja, dass du gleich mein Teleskop zu Fall bringst< Gondvira deutete auf Ortas` Finger, die sich am Arbeitsgerät der Astronomin befanden.
>Oh!< zuckte Ortas zusammen >Tut mir leid – ich war ganz in Gedanken<. Die Professorin rief nun nicht nach Valdur, der eine Art Hausmeister war, sondern drehte selber die Schraube mit einem Schlüssel wieder fest.
>Ja, ich habe eine Theorie!< sagte sie, während sie der lockeren Schraube den letzten Dreh verpasste >So, das passt jetzt!<.
>Und?< wie die aussieht wollte Ortas wissen.
>Wir können ausschließen, dass die Fluktuation eine Folge der Zeitreisen ist. Dies ist ein ganz anderes Phänomen. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder liegt die Ursache in einem Raum, der einer uns völlig unbekannten physikalischen Gesetzmäßigkeit folgt, was ich nicht glaube, oder dort oben existiert jemand, der uns beobachtet!<.
Da hatte sie die Katze aus dem Sack gelassen, dachte Ortas. Er selber hatte sich so oft gefragt, warum sie noch nicht auf dem Mond waren, selbst die Terraner hatten ihren Mond besucht!
>Dann sollten wir mal da hoch und nachsehen!< meinte Ortas folgerichtig.
>Da bin ich ganz deiner Meinung!< stimmte Gondvira ihm zu.



>Du verdammter Dreckskerl!< Der Hoplit, mit dem in der Antike einzigartigen spartanischen Helm und dem dazugehörigen Bürstenkamm, zerschlug den Weinkrug auf der Tischkante, wobei seine Linke gewaltig in das aufgedunsene Gesicht seines Gegenübers krachte und ihm das Nasenbein zerschmetterte. Sofort spritzte Blut zu allen Seiten hin.
>Verdammt, das war abzusehen!< meinte ich zu André. Wir hatten gerade unseren leckeren Weißkohl mit dem Lammfleisch verzehrt und wollten uns zurückziehen, als der Tumult in der Taverne losging.
Offensichtlich waren mehrere Fraktionen in dem Kampf vertreten: Athener, die meinten, sie wären die einzig wahren demokratischen Athener; Athener, die wie Aristoteles, einen Spagat versuchten zwischen Makedonen und Athenern; und denen, die meinten, die beste Zeit der Athener wäre sowieso vorbei, den Makedonen gehöre die Zukunft; und vielleicht waren auch Spitzel darunter und Provokateure, die es nur darauf anlegten, dass es zum Krieg kam. Ich hielt das für sehr gut möglich. In dieser Melange aus unübersehbarer politischer Gewalt wollte niemand von uns seinen Kopf hinhalten für eine Zukunft, die sowieso schon geschrieben war.
>Lass uns hier weg!< meinte Lira.
>Natürlich!< gab ich knapp zur Antwort. Die freundliche Dame, die uns das Essen gebracht hatte, wusste, dass wir „Händler“ waren aus dem Norden und nichts zu tun haben wollten mit den Exzessen hier im Raum, kam zu uns an den Tisch und lotste uns durch einen schmalen Gang zu den Zimmern, die sich abgetrennt von der eigentlichen Taverne im Bereich des Hinterhofs befanden. Das war sehr günstig für uns; so hatten wir etwas Distanz zu dem Geschehen und würden mit viel Glück den Rest der Nacht in Ruhe verleben. Es war wohl auch das Baumharz – der Bernstein – die Tränen der Götter, die unsere Wirtin so umgänglich und überaus gastfreundlich stimmte. André legte noch einen Stein mit der Inklusie einer Wespe oben drauf:
>Und bitte, wenn sie dafür sorgen könnten, dass wir heute Nacht nicht mehr gestört werden<.
>Sicher, seid ganz beruhigt! Mein Onkel und mein Vater werden gleich hier aufräumen, die sind schon auf dem Weg. Es wird bald ruhiger werden hier<. Sie verabschiedete sich von uns und würde morgen uns gerne zum Frühstück empfangen, es gäbe reichlich Schafskäse und Oliven von den Hängen der Akropolis.
Schoonas schleppte sich wortlos die Stufen hoch auf die zweite Etage der Schlafstatt; er hatte sich den Gehstock zwischen Arm und Rippen geklemmt und hielt sich beim Treppensteigen an einem wackeligen Geländer fest. Der Boden unter unseren Füßen knarzte. Die Aufgänge waren aus Holz. Bisher hatten wir immer komplette Steinbauten erlebt. Hoffentlich bricht kein Feuer aus. Das brennt hier wie Zunder, dachte ich. Orestes seufzte diesmal nicht über die Hitze des Tages, sondern über die Gewalt, die er soeben wieder miterleben musste. André summte leise irgendeinen Blues, Lira hatte sich bei mir untergehakt und seufzte ebenfalls. Ich stimmte in den Chor des allgemeinen Seufzens ein und meinte zu Lira:
>Tut mir unendlich leid, dass du immer wieder erleben musst, wie widerlich die Menschen der Erde sein können<.
>Es ist nicht deine Schuld< da hatte sie verdammt Recht. Ich wollte nicht das Leid der Welt mir zu eigen machen und mich im Schmerz des Selbstmitleids verhüllen.
Wir hatten den Raum betreten, der uns für die Nacht zugewiesen worden war. Wir sind nicht im Hilton, dachte ich, um mich zu besänftigen. Immerhin gab es in dem Raum genügend Betten und wir waren die einzigen, die hier schliefen. Eine Reihe Fenster erlaubten einen Blick in den Innenhof und in Richtung Schänke. Niemand war da unten zu sehen. Ich wollte noch ein wenig auf dem Posten bleiben, denn ich war sehr misstrauisch. Konnte gut sein, dass wir noch Besuch bekommen würden.
>Wir sollten die Tür verkeilen< meinte denn auch André zu mir Wir verstanden uns wieder blind.
>Ja<. Wir zogen zu viert eine schwere Truhe vor die Tür. Wollte man versuchen, bei uns einzubrechen, würden wir das ganz bestimmt hören. Dann hätten wir uns durch die Fenster davon gemacht oder zu den Waffen gegriffen.
>Welche Waffen?< wollte mein Freund von mir wissen.
>Ich habe immer noch mein Campingset dabei: Löffel, Gabel, Messer, Korkenzieher...<.
>Hör auf!< meinte André und fing an zu lachen.
>Was ist los?< fragte Lira.
>Dein Freund hat uns gerade sein Waffenarsenal präsentiert< meinte André ironisch.
>Ich verstehe!< Lira hatte verstanden und Orestes auch, der breit grinste. Schoonas hatte sich schon hingelegt. Sein verletztes Bein ruhte hochgelegt auf einer Art Kissen. Lira ging zu ihm hin und fügte ein weiteres Kissen für seinen Kopf hinzu. Diese Frau war großartig. Der Mann war sie heute noch auf zynische Art angegangen, aber sie trug ihm nichts nach. Das war etwas, was ich von ihr lernen konnte. Der anderranische Humanismus hatte sich in ihrem Wesen außerordentlich positiv entfaltet, was man nicht von jedem Bewohner des Planeten behaupten konnte.
Während ich es mir mit Lira bequem gemacht hatte auf einem der Betten, signalisierte ein unüberhörbares Schnarchen von Schoonas, dass dieser bereits eingeschlafen war. André hatte in weiser Voraussicht das Nachtlager des Gobiconodon auf der Truhe hergerichtet. So hatten wir mit Trumpy eine zusätzliche Sicherung eingebaut, für den Fall, dass jemand verbotener Weise versuchen würde, unsere Schlafstatt aufzusuchen.
Orestes war inzwischen ebenfalls eingeschlafen. Lira lag in meinen Armen und übergab meine Seele einem seltsamen Traum:

Das Arbeitsamt in Aachen hatte mich zu einer Maßnahme verpflichtet, bei der ich angehalten wurde, meine überschüssige Energie in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen - so hieß es an federführender Stelle. Da ich schon einmal in einer Universitätsbücherei gearbeitet und weitreichende Kenntnisse erworben hatte in Sachen Ordnung und Systematik, bekam ich einen Job als Adlatus – Helfer – in der Bibliothek von Alexandria. Dort in der ägyptischen Wissenszentrale wandelte ihr langjähriger Leiter, der griechische Philologe Eratosthenes, durch die staubigen Gänge dieser einzigartigen Einrichtung der universellen Gelehrsamkeit. Der überaus gebildete Mann, der sich als Mathematiker und vor allem Geograf einen Namen gemacht hatte, war schon sehr früh aufgestanden. Er beabsichtigte, vor seiner Abreise nach Griechenland, seinem Nachfolger eine einwandfreie und geordnete Stätte der Bildung zu übergeben.
Eratosthenes hatte hier ein halbes Jahrhundert die Kopisten beaufsichtigt, dass sie keine Originale nach draußen schmuggelten; er hatte sortiert, registriert, geforscht und ausgebildet. Wirklichen Ruhm hatte er nie erreicht - seine Berechnung des Erdumfangs wich gerade einmal um 800 Kilometer ab vom tatsächlichen Äquatorumfang, der bei 40.074 km liegt –, aber da er bescheiden war, würde er Alexandria verlassen, ohne Zorn in der Brust und Bitterkeit im Halse. Während der Universalgelehrte seiner Arbeit nachging, unterstützte ich ihn dabei, so gut ich konnte. Ich schleppte einen ganzen Haufen Papyri durch die Gegend, um sie in den bereitgestellten Kisten zu verstauen. Das waren allesamt Kopien für die Welt, wie es hieß. Einige gingen nach Athen, andere nach Alexandria in Indien oder ins Zweistromland nach Babylon.
Der Geruch von altem Papyrus machte mich high; so hatte ich Probleme den aufgezeichneten Ziffern die richtigen Papyri zuzuordnen. Als mir plötzlich die sogenannte Waldseemüller Karte in die Hände fiel, wusste ich aber, dass etwas nicht stimmte. Diese Karte war 1507 n.u.Z. angefertigt worden auf Grundlage der Koordinaten des Kartografen Amerigo Vespucci, nach dessen Vorname der Kontinent „Amerika“ benannt wurde und eben diesen bildlich darstellte auf der Karte. Ich befand mich zwischen zwei eng beieinander stehenden Regalreihen, in denen die Papyri gelagert wurden. Dort stand ein Schemel aus Holz, auf den ich mich niedersetzte. So brütete ich eine Zeitlang darüber nach, wie diese Karte rückwärts durch die Zeit gelangen konnte, als ich hörte, wie mein Boss Eratosthenes Besuch erhalten hatte. Ich beschloss nachzusehen, wer es war.
An einem Tisch an einer der Wände, diskret, beinahe versteckt saßen Schoonas und der Grieche zusammen und parlierten in einem Flüsterton, der die Deutlichkeit ihrer Worte unverständlich machte. Ich trat aufmerksam und langsam näher heran, um meine Neugierde zu befriedigen. Nun konnte ich sehen, dass hinter dem anderranischen Philosophen, Orestes stand und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Hinter Eratosthenes stand Aristoteles, der von Zeit zu Zeit das Gleiche tat. Zwischen den beiden am Tisch sitzenden Gelehrten befand sich ein mittelgroßer Sandhaufen, etwa einen Scheffel stark.
>Der peloponnesische Krieg< flüsterte Aristoteles, wobei er die Hand ans Ohr des Eratosthenes hielt, damit kein Wort nach draußen an die Öffentlichkeit gelangen möge. Der nahm etwas zögerlich, aber dann doch bestimmt, ein wenig von dem Sand hinfort.
Jemand, den ich nicht lokalisieren konnte, meinte, der Sand als solches symbolisiere die Menschheit und jedes einzelne Sandkorn ein Individuum. Orestes seinerseits flüsterte Schoonas ins Ohr:
>Der große Prä-anarchistische Krieg< und Schoonas tat das Gleiche und nahm seinerseits etwas Sand von dem Haufen.
>Die Perserkriege< grinste Aristoteles, in Gedenken an die Siege, die die Griechen davongetragen hatten und an das große darauffolgende alexandrinische Imperium.
>Der Hades muss bald voll sein< meinte die versteckte Stimme.
>Die große Klimakatastrophe< konterte Orestes. Wieder nahm Schoonas etwas Sand vom Haufen. So ging es eine Weile weiter, reihten sich Krieg an Krieg, eine Katastrophe folgte auf die andere, bis nur noch ein Sandkorn übrig blieb.
>Der Hades ist voll!< meinte die obskure Stimme im Hintergrund und Schoonas wiederholte:
>Der Hades ist wegen Überfüllung geschlossen und wir haben keine Nachkommen mehr gezeugt<.
>Der letzte Sapiens!< Aristoteles stand aufrecht und schaute auf den Tisch mit nur noch einem Sandkorn darauf.
>Da sind doch noch die vielen Kriege, die noch kommen mögen< stellte Eratosthenes ernüchtert fest.
>Sie sind nun überflüssig geworden< konterte der anderranische Philosoph.
Eine Weile lang schien die Szene in der Zeit eingefroren und niemand sagte mehr eine Wort.
Als dann die vier Menschen die Stelle verließen, um wieder ihren gewohnten Tätigkeiten nachzugehen, trat ich an den leeren Tisch heran, auf dessen Oberfläche sich tatsächlich nur noch ein einzelnes Sandkorn befand. Ich umrundete den Tisch, bückte mich und schaute unter ihn, aber da war nichts mehr. Der Hades hatte offenbar die Toten weitergereicht an den Tartaros, der noch unter dem Hades liegt und seine Gefangenen nie mehr freigeben würde.

Als ich erwachte, schnarchte Schoonas immer noch. Der Traum war noch präsent und ich spürte, wie sich meine Einstellung gegenüber dem Philosophen zu ändern begann. Da ich nicht glaubte, dass Träume Visionen sein könnten, maß ich ihm kaum Bedeutung bei. Dennoch erstaunte mich die Metapher auf einen apokalyptischen Untergang der Menschheit. Anstatt zu grübeln, hätte ich gerne an diesem Morgen zu Pinsel und Farbe gegriffen. Für mich war die Motivlage eher etwas für die Malerei, als der Gegenstand für eine tiefgründige Analyse. Meine Schwester Angelika war da etwas anders gestrickt. Und wir hatten den einen oder anderen Disput darüber ausgefochten. Sie suchte eine Sinnhaftigkeit in Träumen, ich hingegen betrachtete sie nach wie vor als elektrische Impulsgebungen und nichts weiter; der Schaum auf den Wellen des Ozeans, wenn man so will.
>Übermorgen geht`s nach Hause< André war aufgestanden, reckte und streckte sich und schien auch sonst wohl gelaunt zu sein. Der Gobiconodon auf der Truhe war ebenfalls wach, sprang von seiner Erhöhung herunter auf direktem Weg in die Arme meines Freundes. Das Tier war mindestens genauso flexibel, wie eine Katze, erinnerte aber bezüglich seiner sonstigen Verhaltensmerkmale eher an einen Hund.
>Nach Hause?< fragte ich >wo soll das sein?<
>Heute morgen willst du mich wohl deprimieren< entgegnete André.
>Niemand deprimiert hier irgendwen!< ging Lira dazwischen.
>Guten Morgen!< grüßte ich sie und küsste sie auf ihren kleinen Mund. Orestes stand derweil beobachtend an unserem Fenster zum Hof.
>Wie lange stehst du da schon?< Schoonas saß auf der Bettkante und strich über sein bandagiertes Bein und beobachtete Orestes bei seiner Wache am Ausguck.
>Du kannst jetzt damit aufhören< ergänzte Schoonas >wir verlassen diesen Ort<.
Ich wollte gerade etwas erwidern, als mir der Traum wieder einfiel und verkniff mir, Schoonas daran zu erinnern, dass wir weder einen Chef, noch einen Kommandoposten hatten. Ich mochte Hierarchien ebenso wenig wie die Anarchisten von Anderran. Mir schien, dass der Philosoph sich etwas außerhalb der offiziellen Doktrin seiner Landsleute wähnte. Er maß der Herrschaftslosigkeit eindeutig nicht die gleiche Priorität zu, wie es der staatliche Anarchismus tat. Dann konnte ich schließlich doch nicht anders und fragte ihn:
>Wieso bist du in diese Zeit geflohen, Schoonas?<
>Natürlich um Aristoteles zu treffen< entgegnete er >aber das wusstest du doch ohnehin<.
>Aber muss man dann direkt vor ihm in den Dreck fallen?!< meldete sich André zu Wort, dem ich unbedingt von meinem Traum erzählen musste; auch wenn der nichts von einer Vision hatte, half er mir aber dennoch dabei, Schoonas gegenüber duldsamer zu werden.
Orestes trat vom Fenster zurück und glaubte, das Gesagte von Schoonas ergänzen zu müssen:
>Der Gelehrte Schoonas wollte in einen Dialog mit eurem berühmten Philosophen treten – es lag ihm fern, mit seiner unterwürfigen Geste, irgendjemanden zu brüskieren<.
Bisher hatte ich solch weise Worte von Orestes noch nicht vernommen, aber ich hatte schon länger eine Ahnung von seinem Potenzial.
In einer Ecke unseres Raumes befand sich eine kleine abgetrennte Nische, in der man die Morgentoilette verrichten konnte. Einer nach dem anderen zogen wir uns dorthin zurück, um uns einer Hygienemaßnahme zu unterziehen. Wir wollten weder die Antike mit unangenehmen Düften unserer Präsens kontaminieren, noch uns gegenseitig mit schlechten Gerüchen gegenübertreten.
>Ist heute nicht Theater angesagt?< erinnerte sich mein Freund an Hephaistas` Angebot, uns bei einer Aufführung im Dionysos Theater begrüßen zu wollen.
>Du warst doch gestern noch dagegen< erinnerte ich mich schmerzlich daran, wie mein Freund mich in die Rippen gestoßen hatte, um seinen Widerstand zu dokumentieren.
>Ach, das war gestern!< tat er seine Stellungnahme vom Vortag als Geschwätz ab >wir müssen ja irgendwie die Zeit bis zu unserer Abreise herumkriegen<. Da hatte er nicht ganz Unrecht. Und natürlich war auch Schoonas dafür.
Denn ein antikes Theaterstück würde zwar kein Gespräch über das Thema „Politische Rhetorik“ mit Aristoteles ersetzen, aber einen tiefen Einblick gestatten in das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft, die es so schon lange nicht mehr gab. Auch Orestes war natürlich ein Befürworter des Besuchs und Lira auch. Und ich wollte einfach nur die Aussicht genießen auf die attische Landschaft und die dahinterliegende weite See, in der ich noch vor kurzem beinahe ertrunken wäre.
>Danke André!< umarmte ich meinen Freund. Sein Widerstand gegen einen Besuch schien sich über Nacht in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Vielleicht hatte er einen ähnlichen Traum wie ich gehabt und dann machten Träume ja durchaus Sinn, wenn sie das Handeln einer betreffenden Person in besonders günstige Bahnen lenkte. Und schließlich hatten sie doch Bedeutung über das rein medizinisch Erklärbare hinaus.
>Auf geht`s!< forderte André uns auf, ihm dabei zu helfen, die Truhe von der Tür weg zu schieben, was wir auch taten. Dann gingen wir nach unten, um zu frühstücken.



Sie kamen aus dem Coma-Virgo-Supergalxienhaufen. Um den Laniakea-Superhaufen zu erreichen, dem auch die Milchstraße und die Pegasus-Galaxie als Lokale Gruppe angehören, würden noch etwa drei Wochen vergehen. Solange etwa brauchte auch der makedonische Bote, der auf seinem Pferd mit der Nachricht von Alexanders Tod auf dem Weg nach Athen war. Die drei Raumschiffe der Anorganischen glichen eher galaktischen Festplatten, die die Filamente und Voids, die zwischen den Galaxien Verstrebungen bildeten, als Brücken nutzten, um die unermesslichen Distanzen des Universums zu bewältigen. Mit ihrer Art der Fortbewegung waren sie die Schnellsten und übertrafen die Technologien aller anderen Spezies in diesem Teil des Multiversums bei weitem. Ihr Auftrag war: Das Weltall zu säubern von Müll und Unrat, der Schaden an der Funktionalität aller parallel zueinander existierenden Universen anrichtete.
Sogar die zwei irdischen Voyager-Sonden, die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gestartet worden waren und inzwischen den interstellaren Raum erreicht hatten – etwa 20 Milliarden Kilometer Distanz zur Erde – konnten die Anorganischen lokalisieren. Allerdings stellte diese terranische altertümliche Technologie keine akute ernsthafte Gefahr für das All dar. Anders sah das mit der Technologie der Multiverser aus. Der Kern dieser Geräte bestand aus einem Mineral, welches nie in die Hände einer fremden Spezies hätte geraten dürfen. Der Einsatz der Multiverser hatte definitiv das Raum-Zeitgefüge beschädigt und die Anorganischen setzten nun alles daran, dem unverantwortlichen Treiben der fremdartigen organischen „wassergefüllten Behälter aus Kohlenstoff“ ein Ende zu setzen.



In der Taverne saß an einem der Tische Demosthenes, der wusste oder ahnte – auch ohne die Kunde eines Boten – dass Alexander bereits verstorben war. Der Politiker beschäftigte sich mit den Vorbereitungen, die den Umsturz der Athener Regierung betraf. Am Abend zuvor hatte es eine Prügelei hier gegeben, hatte er von Berenike erfahren, die das Etablissement leitete und ihm gerade einen kleinen Becher Wein hinstellte:
>Hier, bitte schön!<.
>Danke dir, Berenike!< Die Frau war eine Vertraute des Politikers auf die er sich unter allen Umständen verlassen konnte.
Zudem wusste man voneinander so viel, dass man letztlich der Diskretion verpflichtet war und Opportunismus nicht in Frage kam, denn das wäre Verrat, und in diesen Zeiten war man gnadenlos mit Verrätern. Das wusste auch Aristoteles und gedachte nicht, es seinem Berufskollegen Sokrates gleichzutun und per Schierlingsbecher den Gang in den Hades anzutreten. Der Philosoph jedenfalls hatte für seine letzte Reise nach Euböa bereits gepackt. Berenike setzte sich zu dem Politiker an den Tisch und die zwei redeten angestrengt miteinander, wobei der leichte Wein seine Wirkung nicht verfehlte und Demosthenes Laune ein wenig erheiterte. So erfuhr er im Laufe des Gesprächs die Details des gestrigen Abends und auch, dass fremde Gäste im Hause waren.
>Die sind harmlos< hatte Berenike gemeint >und sind auf dem Weg zurück in ihr Heimatland<.
>Gut< erwiderte Demosthenes, der keine Barbaren brauchen konnte in seinem Schachspiel um die Macht der Polis.
Ausländer, die unzuverlässig waren und häufig die Seiten wechselten, waren das Letzte und bedeuteten nichts als Ärger. Es sei denn, man konnte sie vorübergehend und für die eigenen Interessen einspannen. Danach konnte man sich ihrer unauffällig entledigen; kein Hahn würde nach ihnen krähen, wenn ihre verwesten Leiber auf einer der Müllkippen außerhalb der Stadt gefunden würden. Was Demosthenes nicht wusste, er selbst würde seinen Putschversuch nicht überleben und den Suizid wählen, bevor ihn die makedonischen Häscher einen Kopf kleiner machen würden. Allerdings war Demosthenes kein skrupelloser Machtpolitiker; was er wollte, war, die Demokratie retten und die Oligarchen von der Macht fernhalten. Er fühlte sich durch und durch Kleisthenes und Solon verpflichtet, die die Wegbereiter der Demokratie waren. Philosophen allerdings, wie Aristoteles einer war, waren ihm zuwider. „Der alte Makedone“ sollte zusehen, dass er so schnell wie möglich die Stadt verließ, sonst würde er persönlich die Kettenhunde des Antipatros auf ihn hetzen. Antipatros! Wenn er nur schon an den makedonischen Statthalter dachte, wurde ihm übel. Und dann ging dieser Verräter von Aristoteles auch noch bei ihm ein und aus.
>Der Alte ist bestimmt schon beim Packen!< Mit dem „Alten“ meinte Berenike Aristoteles.
>Hoffentlich hast du Recht, denn der Mann hat durchaus Rückhalt bei vielen, selbst demokratisch gesinnten Athenern< antwortete Demosthenes, der sich einen weiteren Becher mit Wein bestellte.
>Es ist noch früh< mahnte Berenike zur Zurückhaltung beim Alkohol, genehmigte sich selbst aber auch einen Wein – zu Ehren von Bacchus.
>Sicher. Es ist der letzte Becher heute morgen<.



Andrés gute Laune hatte mich angesteckt und ich wähnte mich an diesem Morgen auf einer faszinierenden Entdeckungsreise durch Raum und Zeit, was ja auch stimmte. Ich hatte ein wenig von dem Ballast abgeworfen, der häufig ein Begleiter war und Hand in Hand ging mit meiner Seele. Wir hatten gerade den Flur verlassen und betraten den Innenraum der Schänke. Ein Fremder saß mit unserer Wirtin an einem der Tische, der nahe am Schankbereich stand. Die Frau stand sofort auf, als sie uns erblickte, und platzierte uns an den Tisch des Vorabends. Es dauerte nicht lange und wir bekamen unseren frischen Schafskäse und Oliven, dazu Fladenbrot, der gerade aus dem Ofen gekommen sein musste.
>Ahhh! Duftet das!< lobte André unsere Wirtin >Vielen Dank! Es ist wirklich sehr appetitlich!<.
>Wein?<
>Nein, für mich nicht!< lehnte ich dankend ab. Niemand von uns trank an diesem Morgen Alkohol. Mir fiel auf, dass der Mann nahe des Tresens schon zwei leere Becher vor sich stehen hatte. Wer war er? Ich hörte, wie er unsere Gastgeberin „Berenike“ nannte. Dann konnte ich den Namen „Demosthenes“ vernehmen.
>Wenn man bedenkt, dass es gestern hier so richtig gekracht hat< André verzog die Mundwinkel und wollte sein Erstaunen darüber bekunden, wie ordentlich und sauber alles war in der Taverne.
>Wenn ich bedenke, dass es bei dir Zuhause vor einiger Zeit noch wirklich ganz übel aussah, dann hast du einen Sprung nach vorne gemacht< ich erinnerte André an die Zeit, als dieser noch den Drogen verfallen war und alles den Bach runterging, inklusive seiner Wohnung, die manchmal wirklich sehr schmutzig war.
>Erinnere mich nicht daran!< es war meinem Freund unangenehm und ich beschloss, das Thema zu wechseln.
>Und – hast du auf dem Gymnasium Aischylos gelesen?< wollte ich wissen.
>Nein!< war die knappe Antwort.
>Gut – dann sind wir ja alle unvoreingenommen< meldete sich Schoonas zu Wort.
>Die Perser – worum geht es in dem Stück?< wollte Lira wissen >Weiß das jemand?<.
>Letzten Endes geht es um Krieg und Frieden. Erstaunlich ist, dass man die unterlegenen Perser nicht verhöhnt in dem Stück, sondern sie mit Respekt behandelt und beim Zuschauer Mitleid erzeugt wird für die Perser< viel mehr wusste ich nicht zu berichten.
>Das sollte doch das Mindeste sein< meinte Lira >dass man die Verlierer nicht verletzt<.
>Tja, da hast du schon Recht, aber leider wird sehr oft und sehr übel nachgetreten, auch wenn der Mensch schon längst am Boden liegt< antwortete ich. Orestes schaute mich an, als könne er nicht glauben, was er da hörte. Dafür, dass er so gar nicht hier hin passte, hielt sich der Junge wirklich tapfer und ich bewunderte zutiefst seinen Mut und seine Ausdauer.
Wir redeten noch eine ganze Weile über die Kultur und Barbarei, während ich immer wieder beobachten konnte, wie Demosthenes zu uns herüberschaute, als wenn er vor Misstrauen nur so brannte. Ich wollte dem Mann nicht im Dunkeln begegnen, beschloss ich. Wir aßen unsere letzten Happen auf und beschlossen, vor unserem Theaterbesuch eine gemütliche Wanderung durch das Tal unterhalb der Akropolis zu machen. Ich freute mich schon sehr darauf und war entzückt. Seit langem hatte ich nicht mehr ein so exquisites Gemüt.
Das lag sicherlich auch daran, dass wir alle sehr unbeschwert wirkten. Wir waren so sicher, dass wir in zwei Tagen heimkehren würden, sodass wir die verbleibende Zeit als Urlaub betrachteten – und den wollten wir ausgiebig nutzen, da waren wir uns kompromisslos einig!


>Ein Cluster der Superklasse. Etwa 300 Millionen Lichtjahre entfernt< meinte Kommandant Jordan zu seiner Frau. Auf dem Monitor purzelten die drei Leuchtpunkte und hatten soeben eine Distanz von sage und schreibe 10 Millionen Lichtjahren überbrückt.
>Kometen sind das nicht< meinte seine Frau Laura.
>Und auch keine Sonnen, die einfach so verschwinden und dann an anderer Stelle wieder auftauchen<.
>Keine Schwarzen Löcher<
>Keine Neutronensterne<
>Asteroiden?<
>Nein!<
>Wir sollten die Anderraner informieren< brach es aus seiner Frau heraus.
>Bist du verrückt geworden!< entgegnete der Kommandant und Ehemann.
>Wir müssen uns entscheiden, ob wir alleine untergehen, oder unsere Eitelkeit überwinden und mit den Anderranern kooperieren< da hatte seine Frau Recht und Erik Jordan sagte nichts mehr.
Was sie sahen waren also Raumschiffe und die zogen mit einer Geschwindigkeit durch das All, die völlig unmöglich schien. Der Langstreckenaufklärer der Orion-Klasse, der gerade auf Arkadia gelandet war, konnte genauere Angaben machen. Herr und Frau Jordan beschlossen, den Hangar aufzusuchen, um die Besatzung des Raumschiffs in Empfang zu nehmen und zu begrüßen.



Es war das zweite Mal an diesem Tage, dass ein Plenum einberufen wurde auf der astronomischen Station von Katenam. Man hatte eine Verbindung mit Auroville hergestellt und eine Projektion zeigte die Teilnehmer des dort parallel abgehaltenen Plenums in einem wieder aufgebauten Seitenflügel der Bibliothek. Tagesordnungspunkte waren unter anderem: Der Gedenktag an die bisherigen Opfer des Bürgerkriegs; der aktuelle Stand über die Beendigung der Zeitreise Technologie und der Angriff auf die Forschungsstation der Insel Vik; der Status der Terraner Tom, Dennis, Paul und André (der Detektiv Tom galt als inzwischen als verschollen); der Kampf gegen die Umstürzler um Malekko und seine Bande; die Situation der Zeitreisenden auf der Erde und die neuen Erkenntnisse bezüglich des Mondes von Anderran.
>Da werden wir wohl heute den Raum nicht mehr verlassen< seufzte Gondvira, die mit der rechten Hand über ihren lila Irokesenschnitt strich. Sie hatte eine gelbe Jacke angezogen und demonstrierte einmal mehr ihr ganz spezielles Verständnis über eine harmonische Zusammenstellung von Farben bezüglich ihres persönlichen Auftretens. Priorität hatte ihrem Gefühl nach, die Farbe Gelb, die für Klarheit, Verständnis, Offenheit, Konzentration und Entschlossenheit stand. Alles Dinge, die für diesen Tag außerordentlich wichtig waren.
>Pausen müssen sein, sonst können wir nicht erfolgsorientiert arbeiten< Ortas war sich der Bedeutung dieser Plena sehr wohl bewusst, ebenso wie Gondvira.
Die Beschlüsse, die heute gefasst wurden, würden die weiteren Geschicke des Planeten bestimmen und darüber hinaus auch das Multiversum betreffen.
>Natürlich – ist ja nicht das erste Mal, dass wir ein Plenum abhalten< sie schaute auf ihre Uhr, die an einer Kette hing und zog sie aus der Innentasche ihrer schwarzen Beinbekleidung >In drei Stunden halten wir einen Imbiss ab<.
Taras, der aus Auroville angereist war und bereits außerordentliches Geschick im Umgang mit dem elektronischen Equipment rund um die Sondierung von Lira und den anderen bewiesen hatte, war als letzter dem Plenum beigetreten und hatte sich am Oval des Tisches niedergelassen:
>Habe ich etwas verpasst?< fragte er Ortas und Gondvira.
>Nein! Schön, dass du auch gekommen bist, Taras< die Professorin schätzte die Fähigkeiten des langhaarigen Mannes aus der Hauptstadt des Inselkontinents Kongress sehr.
Auf der Projektion war zu erkennen, dass sich „Chales, das Schwert der Anarchie“ in Stellung gebracht hatte und zum Reden ansetzte; rechts und links neben ihm saßen Torolei und Lesalee.
>Ich grüße das anderranische Volk, alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des heutigen Plenums und auch unsere Besucher von der Erde! Wobei wir schon bei einem der schwergewichtigen Themen des heutigen Tages sind. Wie wir vor kurzem erfahren haben, gilt der Terraner Tom, der mit einer Spezialaufgabe betraut war und diese selbstverständlich freiwillig übernommen hatte, als vermisst<.
Dennis, der ebenfalls am Tisch in Katenam saß, stockte der Atem, als er dem anderranischen Philosophen zuhörte. In seinem Bewusstsein machte sich der Gedanke breit, dass sein Freund den Bogen überspannt hatte. Gerne wäre Dennis aufgestanden und hätte sofort mit der Suche nach ihm begonnen. Aber der Maler hatte weder eine ausgewiesene Spürnase, noch besaß er die Autorität, um auf diesem außerirdischen Posten im Alleingang einen alten Freund und Kollegen zu suchen. Leartas fuhr mit seiner Rede fort:
>Wir werden alles daran setzen, ihn zu finden. Wobei wir beim zweiten Thema sind: Der weitere Umgang mit unseren Besuchern von der Erde. Alle, die mich kennen, wissen um meine klare Einstellung um den Fortschritt. Abschottung und Feindschaft sind Frevel gegen jeden Intellekt!< bei dieser Aussage erhoben sich einige der Teilnehmer in Auroville und Katenam von ihren Plätzen und applaudierten und skandierten:
>Frevel gegen jeden Intellekt!<. Auch Gondvira war aufgestanden und murmelte:
>Danke Leartas!< Die Worte des Philosophen entsprachen dem Grundsatz des Anarchismus um die Freiheit des Individuums, aber interpretiert und geäußert von einem außergewöhnlichen Vertreter der Bildung, war das immer etwas Besonderes, und gerade in Zeiten des Umbruchs bedurfte es der Klarheit und der Entscheidung.
>Darum setzen wir auf die Toleranz und Offenheit einer Gesellschaft, die weiß, dass wirklicher Fortschritt nur da möglich ist, wo die Prinzipien der Menschlichkeit, des Humanismus gewährleistet sind< führte der Philosoph seine Rede fort.
Manchmal neigt er ja zum Schwadronieren, dachte Ortas, aber heute findet er klare Worte und das ist auch gut so. Der Mann hatte eine Träne im Auge und war bemüht, ein weiteres Anschwellen der Drüsen zu verhindern und dachte an etwas anderes; natürlich sah er seine Freundin Lesalee, die auch noch auf der Projektion zu erkennen war. Nun rollte doch noch eine weitere Träne über sein Gesicht. Wie peinlich, dachte Ortas. Er war keiner von denen, dem es gelang, sein innerstes wohl dosiert nach außen zu tragen oder gar völlig ungeschminkt weibliche Anteile zum Besten zu geben. Dahingehend glich er eher einem altertümlichen Macho auf der Erde, als einem aufgeschlossenen emanzipierten anderranischen Mann. Das war wohl mit ein Grund, warum er so gerne die Erde besucht hatte und gleich vier der Bewohner dieser Welt mit nach Hause brachte.
>...darum sind alle vier Bewohner der Erde herzlich willkommen, auf unserer geschätzten anderranischen Heimatwelt auf Dauer bleiben zu können und in Frieden leben zu dürfen!<. So endeten die Worte des Leartas bezüglich der Asylpolitik von Anderran. Ortas war froh und dankbar und wusste, dass seine Freundin Lesalee in der Gegenwart des Philosophen sicher war. Erneut erhoben sich viele der Teilnehmer (nicht alle) und skandierten erneut:
>Leartas, Leartas, Leartas!<.
Die, die sitzen blieben, hielten den Auftritt des Philosophen für gefährlichen Populismus und Überhöhung des Individuums, was zu einer brisanten Machtkonzentration führen könne. Eine nicht unberechtigte Einschätzung der politischen Situation im Besonderen, dachte Gondvira. Das letzte, was sie jetzt brauchen konnten, wäre eine fanatische Agitation, ausgehend von der neugegründeten „Anarchistischen Plattform“, der sich alle fortschrittlichen und gewaltfreien Menschen verpflichtet fühlen sollten.




Je stärker sich die Reihen um Leartas und der Ethik um den Anarchismus schlossen, um so wütender und gewaltbereiter wurden die Leute um Malekkos Bande. Er selbst wollte keine Eskalation und arbeitete eher zielorientiert und effizient. Überbordendes emotionales Verhalten mit Kontrollverlust wollte er nicht tolerieren. So wuchs in ihm auch die Erkenntnis, dass es ein Fehler war, Assagog ein eigenes Kommando zu geben. Der war kläglich auf der Insel Vik gescheitert mit seiner Militäroperation. Niemand seiner Kampftruppe hatte die Explosionen und die völlige Zerstörung der Forschungsstation überlebt.
>Was hat der sich dabei nur gedacht?!< schmetterte Malekko die Worte in Richtung Ventia, die nach Assagogs Dahinscheiden die Rolle der Vertrauten von General Malekko übernommen hatte.
>Ruhig Blut, Chef!< entgegnete die durchtrainierte und selbstbewusste Frau, die überdies hervorragend geeignet war als Ausbilderin. Die Männer der neu gegründeten Elitetruppe um Malekkos Bande gehorchten ihr widerstandslos und ließen jeden Befehl als Gnade erscheinen, solange er nicht ihren eigenen Tod bedeuten würde.

Aus den Aufzeichnungen von Tom Hazard
>Tom - vom Planeten Erde: Detektiv, löst Kriminalfälle im privaten Auftrag; so, so!<.
Ich weiß nicht, wie lange ich da unten in dem Verlies gehockt hatte, aber bestimmt lange genug. Jetzt saß ich auf einem Stuhl dem Mann gegenüber, dem ich das alles hier zu verdanken hatte. Ich wusste, das war General Malekko. Schließlich hatte ich mich in seine Organisation eingeschmuggelt und nun besaß ich seine ganz spezielle Aufmerksamkeit.
>Ich hätte gerne gewusst, was einen Menschen, fernab von seiner Heimat, bewogen hat, sich in die inneren Angelegenheiten eines fremden Planeten einzumischen<.
>Na, na, na – sagen sie noch nichts< fuhr Malekko fort >Ich vermute einmal, sie gehören zu dieser Sorte Mensch, die getrieben von einem höheren Gerechtigkeitssinn in Verbindung mit einer großen Portion Eitelkeit gesegnet, sich ans Werk machen, na, sagen wir mal, wenn die Bezahlung auch noch stimmt, dann steigert dies auch noch die Motivation und Bereitschaft, dauerhaft an einem Projekt zu arbeiten<.
Ich hoffte inständig, dass der Kerl endlich aufhörte zu quatschen. Gerade, als ich mich fragte, warum ich immer noch gefesselt war, kam eine uniformierte Dame um die Ecke, zückte ein Fahrtenmesser und durchtrennte die Taue, die meine Hände inzwischen gefühllos gemacht hatten. Dann zog die Soldatin sich wieder wortlos in ihre Schmollecke zurück.
>Stimmt´s?< wollte der Meister aller Verhöre von mir wissen und war näher an mich herangetreten.
Ich konnte einfach nicht anders, als mich über ihn lustig zu machen, obwohl meine Situation mehr als prekär war. Aber es waren eigentlich seine Schergen, vor denen ich Angst hatte. Solche Bastarde wie dieser Assagog einer war, die waren gefährlich, weil völlig unberechenbar. Malekko war ein Stratege, aber sehr leicht zu durchschauen. Ich wusste, dass ich eine Geisel war und bereit zum Austausch gegen Gefangene, die im Lager von Katenam einsaßen. Ich hatte solange nichts zu befürchten, solange Malekko die Kontrolle über sein Handeln besaß. Also blieb ich cool und riskierte durchaus eine freche Lippe:
>Malekko – selbsternannter General, gescheiterter Politiker, von Ehrgeiz zerfressen<.
Als ich den Satz beendet hatte, war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich Malekko wirklich richtig eingeschätzt hatte. Ich nahm mir vor, etwas zurückhaltender zu werden und fügte kleinlaut hinzu:
>Ich bin durchaus bereit, zu kooperieren<.
>Kooperation steht hier gar nicht zur Debatte. Und was ihre persönlichen Beleidigungen anbelangt: Sie können mich nicht beleidigen, denn ich stehe über dem Gesetz und über ihnen sowieso!<.
Der Mann glaubte, was er sagte und fügte eine neue Facette seinem Ego hinzu: Den Cäsarenwahn! Wenn dem wirklich so war, dann konnte er mir doch noch gefährlich werden. Just, wie zur Bestätigung, bekam ich die Quittung für meine Ignoranz! Die Soldatin war von hinten an mich herangetreten und verpasste mir eine äußerst heftige Kopfnuss. Natürlich, er selber würde sich nie die Hände schmutzig machen, soviel war klar. Ich richtete mich wieder auf, nachdem mich der Schlag beinahe vom Stuhl gefegt hätte. Malekko war wieder an seinen Schreibtisch zurückgekehrt und richtete den Lichtkegel einer Lampe auf mein Gesicht.
>Wenn der Austausch über die Bühne gegangen ist – bei allen Göttern, an die ich nicht glaube – sehen sie sich vor, dass sie mir nicht mehr über den Weg laufen. Beim nächsten Mal werde ich nicht so human mit ihnen umgehen< Malekko kam hinter der Lampe hervor und war jetzt ganz nahe bei mir >Und das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen: Dann sind sie ein toter Mann!<. Ich verkniff mir eine Erwiderung. Dann wurde ich erneut gefesselt und wie ein Sack Kartoffeln in den Keller verbracht, wo ich bis zum Austausch mit den Gefangenen bleiben sollte.



Der „Rat der Sieben“ war zusammengetreten und die Beschlusslage war eindeutig: Man würde sich den Anderranern schon sehr bald offenbaren. Viel zu lange hatte man den Veränderungen im Multiversum tatenlos zugesehen. Nur mit vereinten Kräften konnte man den Gefahren, die alle Zivilisationen bedrohten, egal wo sie sich befanden, konsequent begegnen. Die Vernunft musste regieren und nicht die Intoleranz. Erik Jordan betrachtete dies mit sehr gemischten Gefühlen:
>Ich beuge mich natürlich dem Beschluss< hatte er auf der Versammlung gesagt, aber sein Herz schlug für Arkadia, und seine geliebte Heimat sah er in Gefahr.
>Sieh nur, wie die miteinander umgehen!< damit meinte er die Anderraner, die seit einiger Zeit, sich in einem Bürgerkrieg bekämpften. Gerade einmal 200 Jahre waren es her, als beinahe der gesamte Planet in der Apokalypse geendet wäre.
>Ich verstehe dich gut< hatte seine Frau gemeint >Aber die Zeiten ändern sich. Wir müssen flexibel sein. Eine bedrohliche Lage im Multiversum bedarf auch einer Richtungsänderung bei unserer bisherigen Politik<.
Das war seine Frau: Eine exzellente Pragmatikerin. So wie die meisten Arkadier, lebte sie nach den Richtlinien einer technokratischen Gesellschaft, die klar strukturiert war, in der jeder seinen festen angestammten Platz hatte. Im Gegensatz zu den Anderranern stand die Politik des Staates für eine straffe hierarchische Ordnung. Dies war auch der Hauptgrund, warum man sich nicht mit den Anderranern einlassen wollte. Für die Arkadier waren das allesamt Chaoten, die das Streben nach individueller Freiheit eines Tages mit dem totalen Kollaps ihres Systems bezahlen würden. Daher betrachtete man auch ein Zusammengehen mit ihren Brüdern und Schwestern von Anderran als ausgeschlossen. Wenn sie morgen auf ihrem Planeten landen würden, dann wäre die Offerte an die Anderraner eher eine lockere Allianz auf Zeit, um der Bedrohung aus den Tiefen des Alls mit gemeinsamer Kraft entgegen zu treten.
Man hatte schon vor einiger Zeit darüber diskutiert, die Anderraner zu kontaktieren. Die Situation um die Schäden am Raum-Zeitgefüge bedurfte unbedingt einer Korrektur. Wenn plötzlich irgendwelche Sonnen und ganze Systeme verschwanden, dann konnte das auch mit ihrer Heimatwelt passieren. Und höchstwahrscheinlich war dies nur die Spitze des Eisberges. Das hieß: Zeitstränge endeten abrupt, ganze Zivilisationen verschwanden, bzw. hatten nie existiert, sie wurden aus der Zeit eliminiert. Am Ende würde eine Geschichte stehen ohne Geschichte, ohne Materie und ohne Zeit. Die Voids zwischen den Galaxien, die gemeinhin als leerer Raum betrachtet wurden, waren dagegen die reinsten Tummelplätze des Lebens und des Fortbestands dessen, der Evolution und des Werdens und Vergehens, eben Geschichte.
Die Besatzung der „Antares“ hatte bestätigt, dass es sich um Raumschiffe handelte, die an einem Punkt gestartet waren, der mehr als 300 Millionen Lichtjahre von ihrer Heimatwelt, der Pegasus-Galaxie, entfernt lag. Unter normalen Umständen eine gewaltige Distanz. Selbst für die schnellen Schiffe der Arkadier wäre diese Entfernung nicht unter einer Reisedauer von einem halben Jahr zu bewältigen.
>Wir haben hier ein Foto eines ihrer Raumschiffe, wenn es denn Raumschiffe sind< der Chefingenieur der „Antares“ präsentierte das Bild den beiden Jordans, die mit ungläubigem Blick darauf schauten. Dem eingescannten Maßstab nach handelte es sich um ein „Schiff“, welches mehrere hundert Kilometer lang und breit war und einer Art dunklem Monolith glich. Der Ingenieur hatte die Skepsis bei dem Kommandanten registriert:
>Wir haben den Scann mehrmals überprüft, er ist maßstabsgerecht, und um genau zu sein: Das Flugobjekt ist 458 Kilometer lang und 317 Kilometer breit und weist bei diesem Maß keinerlei Abweichungen an seinem Gesamtkörper auf<.
>Und es sind drei Objekte?< wollte sich Kommandantin Jordan vergewissern.
>Ja, und sie halten Kurs auf Arkadia - und Anderran< der Offizier von der „Antares“ erwähnte nur unter Vorbehalt den Namen ihrer ungeliebten Nachbarn.
Nach einer Weile eingekehrter Ruhe und dem umherschweifenden Blick von Erik Jordan durch die schmucklose hell-weiße und spiegelglatte monochrome und scheinbar völlig sterile Büroeinheit, schien Jordan eine Eingebung zu haben:
>Es sind die Kerne der Multiverser!<
>Das Mineral im Innern der Geräte<
>Welches wir vom Planeten rtz4508 importiert haben<
>Importiert?<
>Na, ja: mitgenommen haben<.
Der „Antares“ Offizier schien etwas verwirrt bei dem Dialog zwischen den Jordans. Die klärten ihn auf: Weil man die Multiverser schon lange nicht mehr benutzte aufgrund ihrer zerstörerischen Kraft, hatte man auch deren Technologie keine Beachtung mehr geschenkt. Fakt war, dass die Geräte nur dank eines Minerals funktionierten, welches im Periodensystem der Elemente nicht vorkam. Und das Gestein, aus dem das Mineral extrahiert wurde stammte wahrscheinlich aus der Heimatwelt derer, von denen sie jetzt Besuch bekamen!
>Wir müssen sofort das Präsidium unterrichten!< reagierte der Offizier äußerst nervös und aufgeregt.
>Halt!< meinte Jordan >Nichts überstürzen. Noch handelt es sich um eine Theorie, aber wir machen das schon. Sie können wieder beruhigt an ihre Arbeit gehen. Wir danken ihnen sehr für die Informationen. Können wir das behalten?< Jordan schwenkte das Beweisfoto in der Luft umher.
>Ja, natürlich – es ist für sie und soll dem Rat vorgelegt werden<. Der Offizier der „Antares“ verließ das Büro der beiden, die jetzt wieder alleine waren.
>Siehst du. Nun bleibt uns gar nichts anderes mehr übrig, als mit den Anderranern zusammenzuarbeiten<
>Vor allem, wenn die so gefährlich sind, wie die uns daherkommen?!<.
Erik Jordan besah sich noch einmal die Aufnahme.
>Unglaublich: 458 Kilometer!<
>Die „Antares“ misst geraden mal 350 Meter<
>Und das ist schon was<
>Ja<.
>Schön, irgendwie auch unglaublich schön!< Erik Jordan hatte einen letzten Blick auf das Flugobjekt geworfen. Seine Frau stimmte ihm zu:
>Diese Einfachheit ist absolut überzeugend!<
>Ja!<. Beide verließen sie den Raum, der einem leergefegten Operationssaal glich.


Die See war weiter entfernt als gedacht und Schoonas wackelte an seinem Krückstock hin und her. Wenn wir so weiter schlenderten, dann kämen wir nie in den Genuss, das Meer aus der Nähe zu sehen, dachte ich. Ich wollte gerade Schoonas zur Eile drängen, als Lira meinte:
>Du bist schon wieder ungeduldig<.
>Woher weißt du das?< meine Frage war gänzlich überflüssig.
>Mittlerweile kenne ich dich ganz gut<. Wir hatten inzwischen gemeinsam schon so viel erlebt, dass man sich nicht verstecken konnte mit seinen vermeintlichen Fehlern und Schwächen. Geduld gehörte eben nicht zu meinen Stärken; ich nahm mir erneut vor, Schoonas mit mehr Respekt zu behandeln und überließ ihn seinem selbst gewählten Tempo.
Die Düfte um uns herum an diesem Morgen waren wieder einmal unbeschreiblich. Die Grillen zirpten im Angesicht einer hell erstrahlten mediterranen Sonne und Orestes standen erneut und schon sehr früh die Schweißperlen auf seiner jugendlichen faltenfreien Stirn. Ich beobachtete, wie mein Freund André vergnügt eine Zistrose pflückte und das Aroma der Blüte mit seiner Nase tief in sich einsaugte und er dann über beide Backen zufrieden lächelte. Noch vor einiger Zeit wäre er dazu gar nicht in der Lage gewesen. Der Drogenkonsum hatte seine gesamte „Infrastruktur“ lahmgelegt; weder war er fähig, die Dinge um sich herum in seiner gesamten Bandbreite wahrzunehmen, noch war ihm klar gewesen, wie sehr er durch sein destruktives Verhalten, Verwandten und Freunde so sehr verschreckte, dass sie immer mehr auf Distanz zu ihm gingen. Er schien damals völlig die Kontrolle zu verlieren, sich immer mehr zu isolieren und in ein bodenloses Nichts zu stürzen. Ich hatte vorsorglich für meinen Freund schon eine Patientenverfügung verfasst, weil ich manchmal glaubte, er würde dement. Und nun das: Ein völlig veränderter Mensch war mit mir unterwegs bei einer Reise durch die Zeit und das Multiversum. Ich fragte mich, was das größere Wunder sei: Die Selbstheilung eines Suchtmenschen oder Zeitreisen. Das größere Wunder war für mich die Entscheidung für das Leben! Da war ich mir in der Macchie von Athen ganz sicher.
An einer Weggabelung in der Nähe eines attischen Gutshofes befand sich ein kleiner Tempel mit einem Altar und einer marmornen Göttin darauf. Wir setzten uns auf zwei der steinernen Bänke, die ringsum aufgebaut waren. Eine Rast würde uns gut tun, meinte Lira, und ich war einverstanden, dass wir alle Platz nahmen.
>Ah!< machte Schoonas, dessen Gelenke insgesamt nicht mehr im besten Zustand waren, wie mir schien, aber er ja war auch immerhin schon 80 Jahre alt.
Oder war er etwa schon wesentlich älter? Denn immerhin konnte es sein, dass er einige Jahre bei den Minoern verbracht hatte. Wir mussten unbedingt herausfinden, wann genau er sich in die Antike „eingeschleust“ hatte. André unterließ eine Bemerkung aufgrund des Seufzers von unserem anderranischen Philosophen. Ich hingegen hielt es für angebracht, zu sprechen, nachdem wir alle Platz genommen hatten:
>Ich hatte einen seltsamen Traum letzte Nacht<.
>Dann erzähl uns davon, junger Mann!< antwortete Schoonas.
>Danke, dass ich deiner Einschätzung nach, noch so jung erscheine< ich blickte zu Schoonas herüber, bemühte ein Lächeln und nickte.
>Also< begann ich >Ich befand mich in der berühmten Bibliothek von Alexandria, unweit des Hafens mit seinem ebenso berühmten Leuchtturm< ich war etwas nervös, denn alle um mich herum schauten gebannt zu mir hin und lauschten aufmerksam meinen Worten. Meine Freunde schienen die gleich ausgeprägte Neugierde zu besitzen, wie ich.
>Meine Aufgabe bestand darin, den Leiter der Einrichtung bei seiner Arbeit zu unterstützen<.
Ich erzählte bis zu der Stelle, wo der Haufen mit Sand auf dem Tisch lag und immer weiter dezimiert wurde, bis nur noch ein Sandkorn übrigblieb. Ich konnte förmlich spüren, wie die Spannung bei meinen Zuhörern stieg.
>Oh!< reagierte Lira als erste >Der letzte Sapiens. Was hat das zu bedeuten?<. Wie sie das „Oh“ artikulierte – ich hätte sie küssen können, leidenschaftlicher und inniger als je zuvor, aber dann meinte Schoonas, nüchtern und prägnant:
>Zuerst einmal bedarf es der Frage, ob überhaupt die Erforschung einer Bedeutung sinnvoll erscheint<. Ich musste mir ein Lachen verkneifen, was mir in der Tat sehr schwer fiel. Auch André grinste und Orestes wischte sich mit einem Tuch die Stirn trocken. Sobald er damit geendet hatte, ergänzte er die Worte von Schoonas:
>Bevor man sich verstrickt in Interpretationen, sollte man einen Rahmen abstecken, in dem eine Analyse überhaupt möglich ist<.
>Oh< wiederholte Lira >Ich wusste gar nicht, dass du auch Philosophie studierst<.
>Tue ich auch nicht. Ich versuche nur logisch zu denken, soweit das möglich ist bei der Hitze<. Ich reichte Orestes den Wasserschlauch, den ich glücklicherweise immer noch bei mir hatte.
>Durchaus vielversprechend deine Worte< lobte Schoonas unseren jungen Begleiter.
>Die Zeit< schoss es mir durch den Kopf >Der Rahmen ist die Zeit!<.
>Sehr gut, junger Mann!< hoffentlich übernahm sich Schoonas nicht mit seinen lobenden Worten für uns. Ich befürchtete fast immer in solchen Situationen, dass schon sehr bald eine negative Kritik dem ganzen Hochgefühl den Garaus machen würde.
Schoonas begann mit seinen Ausführungen:
>Unter Berücksichtigung der Zeit, die uns als Rahmen dient, ist die Existenz eines jeden Individuums begrenzt. Es existieren eine ganze Reihe von Parametern, die maßgeblich sind für den Fortbestand einer ganzen Art. Das Verschwinden einer Solchen, in die göttlichen Hände einer nicht beweisbaren Macht zu legen, diese Doktrin haben wir in der Philosophie auf Anderran überwunden. Ich hätte gerne von Aristoteles erfahren, wie er das sieht, aber das tut jetzt nichts zur Sache< Schoonas musste sich neu sortieren und stockte. Darum ergriff ich das Wort:
>Sokrates wurde beschuldigt, er wolle neue Götter einführen. Vielleicht war es ja eher so, dass er begann, die Alten in Frage zu stellen, vielleicht sogar den gesamten Olymp<.
Meine Ergänzung half uns aber auch nicht weiter. Wir sollten bei dem Traum bleiben und ich knüpfte an Schoonas` „Endlichkeitsprinzip“ an:
>Schließen wir also göttliche Einflüsse bei der Gestaltung der Endlichkeit aus<
>Dann sind wir einer rationalen Erklärung für die Endlichkeit erheblich näher< ergänzte Schoonas und fuhr fort >Krieg und Zerstörung sind Elemente, die das Ende einer Art durchaus beschleunigen können oder auch ganz plötzlich beenden. Es muss aber nicht immer der Mensch sein, der durch seine Unvernunft ein Desaster erzeugt. Wir wissen heute, dass das Multiversum kein ruhiger Ort der ausgewogenen Harmonie ist, im Gegenteil, es geht dort sehr ungemütlich zu< der Philosoph stockte erneut, um sich zu wiederholen >sehr ungemütlich<. Mir schien, dass der alte Mann nicht mehr die Kraft besaß, über einen längeren Zeitraum hinweg, nach einer Lösung für ein Problem zu suchen. Meine Begleiter sahen dies ebenso und Orestes ergriff erneut das Wort:
>Um es abzukürzen: Spätestens, wenn sich das Multiversum in seine Bestandteile aufgelöst hat, wird es auch keinen Homo Sapiens mehr geben!<. Punkt aus, dachte ich. Aber das traf nicht die Essenz meines Traumes. Wieso war ich eigentlich so beharrlich darauf aus, eine Bedeutung für meinen Traum zu ergründen, wenn ich Atheist war und von Visionen nichts wissen wollte? Diese Frage schien mich fast noch mehr zu beschäftigen. Doch dann setzte Schoonas wieder mit reden an:
>Es ist doch so, dass der Mensch mit seinem Wissen über seine eigene Endlichkeit, begierig danach trachtet, dieser existentiellen Bedrohung etwas entgegenzusetzen, und da bietet sich die vermeintliche Unendlichkeit der Fortpflanzung geradezu an<.
>Da kommen wir der Sache schon näher< meinte ich und schaute Lira an, die prompt sprach:
>Bei einer gesunden Durchmischung der Populationen ist eine Reproduktion auf unbestimmte Zeit durchaus möglich, aber unendlich wird sie nie sein!<.
Niemand sah sich veranlasst, etwas zu sagen, also fuhr sie fort:
>Eigentlich ist es doch ganz einfach: Wenn das destruktive Verhalten der Menschen kein Ende findet, dann wird der Homo Sapiens sich selber vernichten. Das war es, was der Traum dir sagen wollte< meinte Lira zufrieden mit sich selbst und schien erleichtert zu sein.
>Ich weigere mich, daran zu glauben, Lira< meinte Schoonas >Unsere Kreativität im Umgang mit Problemen aller Art, hat uns bisher immer noch vor dem Untergang bewahrt<. Das war eine sehr optimistische Haltung des Anderraners, die ich so nicht erwartet hatte.
>Was meinst du, André?< wollte ich von meinem Freund wissen.
>Wir sollten nachsehen<. Damit meinte André, wir sollten per Multiverser durch die Zeit reisen und den letzten Sapiens suchen, um ihn zu fragen, was passiert sei.
>Wenn wir nach Anderran zurückkehren, ist Ende mit den Zeitreisen!< antwortete Lira auf den ziemlich unverblümten Vorschlag von André. Ich war mir nicht sicher, ob er das überhaupt ernst meinte, mit der Suche nach dem letzten Sapiens.
Als ich beinahe davon überzeugt gewesen war, dass unser Dialog über die Begrenzung von Leben recht bescheiden ausgefallen war, wartete Schoonas doch noch mit einer interessanten These auf:
>Nehmen wir an, das Paradoxon vom Ende allen Seins in Verbindung mit dem Ende von Zeit und Raum und der Theorie der Unsterblichkeit könne gelöst werden, dann wäre der letzte Sapiens tatsächlich unauffindbar und unser junger Freund André braucht sich gar nicht erst auf die Suche danach zu machen<. Schoonas schaute hierbei André mit versöhnlichem Blick in die Augen. Hoffentlich hatte er das Signal verstanden. Dann fuhr der Anderraner fort:
>Die zweite Variante wäre die beständige Fortdauer eines Universums durch beispielsweise stetige Reproduktion< nun blickte Schoonas meine Freundin Lira an, und nahm Bezug auf das, was sie als „gesunde Durchmischung der Population“ bezeichnete. >Im Gegensatz zu dir, Lira, lehne ich gedanklich die Unendlichkeit von Reproduktion nicht grundsätzlich ab. Jedenfalls wäre in beiden von mir skizzierten Fällen die Endlichkeit abgeschafft und das Tor in die Unendlichkeit aufgestoßen<.
Im Gegensatz zu meinem Traum, der im weitesten Sinne einen leeren Raum am Ende der Zeit hinterließ (Big Freeze, Big Rip), schuf der Philosoph ein Universum, dass unendlich schien, weil es sich immer wieder neu erschuf. Die wissenschaftliche Theorie von einem unendlichen Universum bzw. einem Multiversum wurde auf der Erde durchaus kontrovers diskutiert, war aber immer sehr spekulativ und erfasste in einigen Szenarien nicht die Bedeutung der Dunklen Energie und der Dunklen Materie, dessen tatsächliche Existenz bisher nicht bewiesen werden konnte.
Ich war zufrieden mit den Ausführungen von Schoonas und auch Orestes schien es zu sein. Er nickte wohlwollend den Kopf und träumte bestimmt von einer friedfertigeren Welt, als der, in der wir uns gerade befanden. Allerdings konnten wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht beklagen. Unser Dialog hatte ein Ergebnis gezeitigt, der attische Bürgerkrieg ließ noch auf sich warten und die Göttin auf dem Altar stand immer noch an ihrem Platz.



Das Plenum auf Katenam war noch lange nicht zu Ende. Nach einer Mittagspause hatte man wieder Platz genommen am Oval des großen Tisches im Hörsaal der astronomischen Station. In Auroville hingegen pausierte man offensichtlich noch, denn der Bildschirm mit der Übertragung der dortigen Plenumsmitglieder blieb noch dunkel.
Einer der wichtigen Arbeitspunkte war der, der den Mond von Anderran betraf. Man hatte beschlossen, eine kleine Sonde loszuschicken, um den lunaren Begleiter genauer zu untersuchen. Den Orbiter würde man per Aufzug in eine geostationäre Bahn verfrachten und von dort aus würde er mit Solarantrieb den Mond erreichen. Mehr ließ die anderranische Technologie, die auf fossile Brennstoffantriebe verzichtete, nicht zu. Von intergalaktischen Reisen mit entsprechenden Raumschiffen war man Lichtjahre entfernt. Den Kontakt zum Weltraum konnten daher nur Teleskope herstellen und natürlich die Multiverser.
Was die Zeitreisenden Lira, Orestes und die anderen Teilnehmer betraf, so war man in Auroville über den aktuellen Stand unterrichtet worden. Man wusste nun definitiv, dass sich ihre Leute im Athen des Jahres 323 v.u.Z. befanden. Deren Rückkehr aber stand unmittelbar bevor und erwartete diese mit Spannung. Damit verknüpft war das Ende der Technologie der Zeitreisen. Die letzten Multiverser, die dann nach Anderran kamen, würden anschließend endgültig zerstört werden. Die Manufaktur, in der die Geräte einst hergestellt wurden, war inzwischen dem Erdboden gleich gemacht worden und damit wurde auch dem Volksentscheid der Anderraner Respekt gezollt.
Ein Gedenktag für die Opfer des Bürgerkriegs wurde für die kommende Woche anberaumt. Der brisanteste Punkt war allerdings der Kampf gegen die Umstürzler. Man hatte sich über den Hergang auf der Insel Vik ausgetauscht und die Toten auf beiden Seiten beklagt.Wie, um sich ins Gedächtnis zurückzurufen, klopfte der Krieg an die Tür der astronomischen Station in Form eines Telefonats. Gondvira und die anderen Teilnehmer saßen allesamt im Hörsaal, als der Student Charkas den Raum betrat und eiligen Schrittes auf die Professorin zuging:
>Auf einer der gesicherten Leitungen: Ein wichtiges Gespräch für dich und Dennis!<.
Normalerweise hätte man vermutet, der Mann wäre diskret gewesen und hätte in leisem Ton die Mitteilung überbracht, aber dem war nicht so. In der offenen und pluralistischen Gesellschaft der Anderraner galten Heimlichkeiten als verpönt und geradezu als dekadent.
>Das hört sich nicht gut an< Gondvira stand sofort auf und Dennis folgte ihr wortlos. Der Mann von der Erde ahnte, was auf ihn zukam.
>Man hat was?< Gondvira konnte es nicht glauben. Dennis stand neben ihr und wusste sofort, was los war. Sein Freund Tom war aus einer anonymen Wohnung aus dem Spiralarm A in Auroville entführt worden. Nun stellten die Kidnapper ein Ultimatum: Wenn bis morgen Mittag um 12 Uhr auf dem Flugfeld von Katenam nicht alle 64 Gefangenen bereitstehen würden zur Übergabe an Malekko und seine Leute, dann würde man Tom auf grausamste Weise zu Tode foltern; so jedenfalls die Ankündigung der Entführer. Die Astronomin konnte es nicht fassen und musste sich erst einmal setzen. Dennis hatte den Hörer in die Hand genommen und sich selbst als Geisel angeboten, was völlig überflüssig, aber gut gemeint war.
>Natürlich werden wir auf den Tausch eingehen, wenn auch nur zum Schein< hatte Gondvira Lesalee geantwortet, die am anderen Ende der Leitung ihr die Mitteilung über die Entführung gemacht hatte.
>In Amerika, wo ich herkomme, sagt man „keinen Fuß breit den Terroristen“!<. Dennis erklärte der Professorin, was damit gemeint war und dass man eher die Geisel opferte, als dass man den Entführern nachgab.
>Terraner!< hatte Gondvira geantwortet. Die Anderraner würden niemals einen Menschen opfern, egal, wo der herkam.



Auch wenn wir in Athen von Krieg und Zerstörung bisher verschont worden waren, so hatten wir dennoch in Berenikes Taverne einen Vorgeschmack davon bekommen, denn allem Anschein nach war die Atmosphäre ziemlich aufgeheizt und trieb die Menschen jetzt schon in gewalttätige Auseinandersetzungen. Und nun wartete auch noch das Stück „Die Perser“ auf uns, was wiederum den Krieg zum Thema hatte. Ich mochte nicht mehr ins Theater gehen und zog unsere gemeinschaftliche und friedliche Wanderung durch das attische Tal einem Besuch der Dionysos „Arena“ vor. Aber wir hatten ja noch Zeit und ich versuchte, so gut es ging, die Gedanken zu verscheuchen, die Krieg und Gewalt zum Thema hatten. Wir wollten uns gerade erheben, um den Zypressen bestandenen Platz zu verlassen, an dem wir versucht hatten, meinen Traum zu analysieren, als ich Schoonas endlich fragte, wie lange er bei den Minoern gewesen war und warum ausgerechnet bei ihnen:
>Wie ihr wisst< der Anderraner blickte hierbei Orestes und Lira an >bin ich auf der Suche nach einer Erklärung für unser Dasein. Nicht, dass Anderran keine Geschichte besäße und kein Repertoire an Antworten bereitstellte, aber die Vielfalt der terranischen Ansätze und Deutungsmöglichkeiten des Seins sind schon sehr beeindruckend<.
Das war mal wieder ausweichend, aber ich beschloss, nicht weiter nachzubohren.
>Wieso die Minoer?< stellte dann aber mein Freund die Frage.
>Ich war mir sicher, dass diese hochentwickelte und relativ friedliche Kultur auch eine entsprechende Philosophie besäße< antwortete Schoonas.
Einerseits konnte ich seine Neugierde sehr gut nachvollziehen und bezogen auf die Kultur der Minoer ganz besonders. Aber ich empfand es als befremdlich, dass eine so fortschrittliche Zivilisation wie die der Anderraner es nötig hatte, sich überhaupt am Geschichtsbestand der Erde zu „bedienen“. Wieder kam André mir zuvor:
>Wieso gerade die Erde?<
Schoonas nestelte an seinem Umhang herum und zog erneut den Papyrus heraus, den er am Abend zuvor noch so ehrfurchtsvoll auf dem Tisch in der Taverne entfaltet hatte und meinte:
>Um Antworten zu erhalten, muss man auch die richtigen Fragen stellen. Auf meinem Heimatplaneten mangelt es an beidem< Lira und Orestes rümpften beide die Nasen.
>Vielleicht besitzen wir nicht die gleiche philosophische Tiefgründigkeit wie die Erde, aber wir haben eine überaus freiheitliche Gesellschaft geschaffen< sah sich denn auch Orestes genötigt, die Kritik des Philosophen zu kontern und Lira fügte hinzu:
>Zweihundert Jahre lang hat das hervorragend funktioniert<.
>Und jetzt stehen wir vor den Trümmern unserer Gedankenlosigkeit!< stellte Schoonas ziemlich resolut fest. Das Ganze schien mir nun ein zutiefst anderranischer Konflikt, der aber letzten Endes doch wieder ein universeller war, weil er immer mit Geschichte und der Betrachtung der individuellen Existenz zu tun hatte. Ich schaute nachdenklich auf die Papyrusrolle und Schoonas erriet, was mich beschäftigte:
>Es ist nicht das, was du denkst. Dies ist eine Abschrift<. Der Philosoph war natürlich kein Dieb. Wie die Kopisten in der Bibliothek von Alexandria und auch Eratosthenes in meinem Traum, hatten Abschriften erstellt von Werken der begabtesten Wissenschaftler, Künstler und Philosophen, um deren Wissen in alle Welt zu tragen.
>Faust< meinte André. Mein Freund spielte auf den faustischen Pakt an, um Antworten zu erhalten. Es war Goethes Mephisto, der dem Suchenden nach der Frage, was die Welt im Innern zusammenhält, helfen sollte.
>Am Ende stellt sich die Frage: Sollten wir wirklich zu allem bereit sein, um unsere Antworten hier und heute zu bekommen?< meinte ich und sah meinen Freund in die Augen.
>Ganz bestimmt nicht< antwortete André ziemlich ernst und fügte hinzu >lass den Teufel mal da, wo er hingehört!<.
>Ich habe das Buch studiert< Schoonas musste es ganz einfach gelesen haben. Jemand, der so vehement der Ergründung aller Urfragen nachging, der musste sich natürlich auch mit seinem eigenen Tun auseinandersetzen und den Konsequenzen, die sein Handeln haben möge; jedenfalls jeder, der auch einem gewissen Ethos huldigte.
>Der Raum um uns herum, der ist nicht leer!< das sollte heißen: Alles was wir tun, erzeugt eine Reaktion, stellte Orestes fest. Und nun standen wir doch noch auf und beschlossen, ein wenig in die Richtung zu gehen, wo noch ein kleiner Restbestand an Wald auf Attika wuchs. Dem Schiffsflottenbau waren beinahe sämtliche Wälder zum Opfer gefallen.
Der Krieg – vor allem gegen die Perser – hatte dazu geführt, dass die junge athenische Demokratie beschlossen hatte, ein enorm großes Projekt über den Bau von Kriegsschiffen in die Wege zu leiten. Die Folgen dieser verheerenden Politik konnte man überall beobachten auf dem griechischen Territorium: Die dominierende Vegetation war die Macchie mit ihren kleinwüchsigen Pflanzen; Wälder gab es nur noch in kümmerlichen Restbeständen.
Ein ähnliches Zerstörungsprinzip verfolgten fast zeitgleich auch die Römer, die sich dem Kampf gegen Karthago, den sogenannten Punischen Kriegen verschrieben hatten. „Hannibal ante portas!“ - Hannibal steht vor den Toren der Stadt, vor Rom! Er würde die Stadt niemals einnehmen, und damit war auch das Schicksal des karthagischen Feldherrn und Politikers entschieden, der später Suizid begann, um seinen Verfolgern nicht in die Hände zu fallen. Ich hatte bisher nie darüber nachgedacht: Alexander und Hannibal waren tatsächlich Zeitgenossen, die sich aber nie gegenübergestanden hatten!
Wir näherten uns dem Saum des Waldes und betraten bald die kühlen Schatten der riesigen Koniferen. Orestes seufzte wieder einmal; das Tuch zum Trocknen seiner Stirn hatte er schon lange nicht mehr aus der Hand gelegt. Nun wurde mir auch erstmals wieder die Gegenwart des Gobiconodon bewusst, der nach seinen Wachdiensten in unserem Schlafgemach ein sehr unauffälliger Begleiter gewesen war. Lira ging neben Schoonas daher und ich hatte André von meinen Überlegungen bezüglich Alexander und Hannibal erzählt und fuhr fort:
>Wäre Alex< ich benutzte gerne die Abkürzung für Alexander >ein Bündnis mit Hannibal eingegangen, dann hätten sie gemeinsam Rom besiegen können<.
>Der Karthager von Westen aus die Römer in die Zange genommen...< führte André fort.
>Und das makedonische Heer von Osten< schloss ich ab.
>Dann hätten die Römer keine Chance gehabt!< kamen wir beide zum gleichen Resultat.
>Ihr wollt doch wohl nicht die Geschichte verändern?< raunzte uns Schoonas an, der offensichtlich unser Gespräch mitgehört hatte.
>Du hast gut reden – machst den König in Knossos und nun das!< André war offenkundig verärgert. Ich musste meinem Freund Recht geben. Es handelte sich um reine Gedankenspiele, was ich auch Schoonas sagte.
>Mir ging es bei den Minoern um die ehrwürdige Suche nach einer bedeutsamen Antwort auf eine der größten Fragen der Menschen und nicht um den Ausgang von Kriegen und Schlachten<. Offenkundig hielt Schoonas unser Gespräch für dünkelhaft und viel zu kurz gefasst. Auch er hatte Recht und ich kam zu dem Resultat, dass man nicht durch die Galaxien reisen musste, um interessante Gespräche zu führen und vielleicht auch neue Erkenntnisse zu gewinnen. Wie so oft lagen die Antworten auf viele der Fragen, die uns manchmal auch elementar beschäftigten, vor einem selber in unmittelbarer Nähe, nein, wir trugen sie in uns! Manchmal schleppten wir sie ein Leben lang mit uns herum, ohne sie auch nur ein einziges mal artikuliert zu haben. Wie bedauerlich, dachte ich.
>Ich finde, du bist manchmal ziemlich extrem< fuhr André das Gespräch fort und sprach Schoonas damit an, der sofort antwortete:
>Das Leben polarisiert nun mal. Wo Leben ist, da lauert auch der Tod<.
>Wo Licht ist, ist auch Schatten< meinte Orestes, der froh war, endlich die kühle Luft des Waldes um sich herum zu spüren. Er begann, sich deutlich zu entspannen. Es war wirklich verdammt heiß an diesem Tag. Hoffentlich würde sich die Hitze nicht noch steigern. Wir hatten noch zwei Tage vor uns bis zu unserer Abreise.
Und Klimaanalgen gab es nicht im griechischen Altertum. Soweit ging dann doch nicht der geniale Erfindergeist der antiken Denker und Forscher.
>Krieg und Frieden< meinte André und schloss dann endgültig unsere Exkursion in die Gefilde der Polarisation ab. Letzten Endes ging es immer um die Dinge, die wir so gerne als die zwei Seiten einer Medaille bezeichneten.



Aus den Aufzeichnungen von Tom Hazard
>Tom von der Erde!<
Einer der Lakaien von Malekko gab mir einen Tritt in den Hintern, und ich flog aus der Gondel des riesigen Luftschiffs, hinein in den Dreck der staubigen Landepiste. Da war ich also wieder in Katenam. Als ich aufsah, konnte ich erblicken, wie in einiger Entfernung die Männer und Frauen aus den Baracken getrieben wurden, die für den Austausch bereitstanden. So viele für einen einzigen, völlig unbedeutenden Alien wie mich, dachte ich. Die Anderraner überraschten mich immer wieder. In meiner Heimat hätte man kurzen Prozess mit den Gangstern gemacht. Ich konnte froh sein, in einer zumindest teilweise moralisch sehr gefestigten Gesellschaft gestrandet zu sein.
>Aufstehen!<
Malekkos Lakai zielte mit einer Waffe auf mich. Er stand in der Tür der Gondel, die sich langsam auf den Boden abzusenken begann, mitsamt des riesigen zigarrenförmigen Flugkörpers. Die Hülle war tatsächlich mit Wasserstoff gefüllt. Gefährlich, dachte ich, hoffentlich ist hier niemand übernervös beim Handling seiner Feuerwaffen! Mir gingen natürlich die Bilder der Katastrophe von Lakehurst durch den Kopf, als das Nazi-Propaganda Luftschiff dort in Flammen aufgegangen war – 1937 war das.
Die geforderten 64 politischen Gefangenen hatten Aufstellung in Zweierreihen bezogen. In einiger Entfernung davon und hoffentlich sicherer Distanz konnte ich meinen Kumpel Dennis erkennen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass er sich selbst als Geisel im Austausch gegen mich angeboten hatte. Wie edel, dachte ich; dass wir Freunde waren, stand außer Frage, aber dass er so weit gehen würde, überraschte mich dann doch.
Auf der anderen Seite des Zeppelins waren weitere Helfer von Malekko heraus gesprungen oder über eine Leiter gestiegen und befestigten das Luftschiff mit armdicken Tauen an den im Boden fest verankerten Pollern. Alles ging so schnell von statten, dass ich erst sehr spät mitbekommen hatte, wie sich ein riesenhafter Schatten langsam über die vor Hitze glühende Landepiste schob. Als ich nach oben sah, konnte ich es zuerst kaum glauben: Ein gigantisches Flugobjekt schwebte über den Flughafen von Katenam herein und ließ die „Hindenburg II“, wie ich sie scherzhaft nannte, wie ein kleines Würstchen erscheinen.
Kurz nachdem ich die gewaltige Präsens des Raumschiffs bemerkt hatte, intonierte eine bedrohliche Stimme mit einer solchen Wucht die gesamte Gegend um mich herum, dass ich glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Alle, die jetzt noch bewaffnet waren, mussten einfach ihre Revolver und Maschinengewehre niederlegen. Da niemand zu diesem Zeitpunkte wusste, wer oder was sie waren, die dort urplötzlich über ihren Köpfen erschienen in ihrer wahrhaft majestätischen Erscheinung und einer Macht, die der auf Anderran in keinster Weise eine Entsprechung fand, erstarrten die meisten Menschen und ergaben sich den „Aliens“.
>Der Bürgerkrieg ist zu Ende! Jede Gewalt ist ab sofort einzustellen!< verkündete die Stimme, die von allen Seiten des tellerförmigen Flugobjektes abzustrahlen schien.
Selbst die Engel und Posaunisten des göttlichen Himmelszeltes hatten sich die Ohren zugehalten bei dieser Lautstärke.
>Der Bürgerkrieg ist zu Ende! Jede Gewalt ist ab sofort einzustellen!< wiederholte der anonyme Friedensstifter an Bord des arkadischen Raumschiffs.
Die verbale Botschaft war eindeutig, aber man konnte nie wissen, was hinter der Fassade noch alles verborgen lag. Wenn die Bewaffnung ebenso gewaltig war, wie der gesamte bisherige Auftritt, dann hätten alle, die sich dort unten auf dem Flugfeld – und darüber hinaus – keine Chance, ihren vielleicht feindlich gesinnten Häschern zu entkommen, also ergab man sich lieber seinem vermeintlichen Schicksal, und gab jeden Widerstand und jede Feindseligkeit auf.
Mich hätte es trotzdem nicht gewundert, wenn einer von Malekkos Schergen begonnen hätte, wild durch die Gegend zu ballern. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre, vor allem, weil über unseren Köpfen immer noch die „Zigarre“ aus Wasserstoff schwebte. Einer der ersten, der seine Fassung wieder erlangt hatte, war mein guter Freund Dennis, der geradewegs auf mich zugelaufen kam und mich umarmte:
>Bin ich froh, dass du lebst!<
>Und ich erst!< antwortete ich >Du kannst mich jetzt loslassen, Dennis!<. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Colt nicht mehr an seinem Platz war und ich schlich mich zu diesem Bastard von Malekko herüber, um mir mein Eigentum zurückzuholen.
>Her mit der Waffe!< forderte ich Malekko auf und riskierte wahrlich eine große Klappe.
Wider Erwarten zog Malekko, der kreidebleich geworden war, aus seiner Uniform die 44er und übergab sie mir widerstandslos. Die Einsicht der grandiosen Niederlage aufgrund einer höheren Macht, die da plötzlich vom Himmel herabschwebte, schien den Rationalisten Malekko völlig aus der Bahn geworfen zu haben. Der Mann sagte kein Wort und bedeutete lediglich mit Gesten seinen Befehlsempfängern, jeden Widerstand einzustellen und ihre Waffen auf den Boden zu legen. Die Mannschaft, die für die Bewachung der Gefangenen zuständig war, war inzwischen aus ihrem komatösen Zustand erwacht und hatte damit begonnen, die Waffen aller beteiligten Umstürzler einzusammeln. Dann wurden alle die, die zu dem Luftschiff gehörten zu den bisherigen Gefangenen gebracht und alle wurden gemeinsam in die Baracken geführt. Ich konnte sehen, wie Gondvira, Valdur und Ortas den Treck der Subversiven begleitete. Ein trauriges Bild, wie ich fand, obschon ich bis eben mich noch in der Gewalt dieser Bande befunden hatte. Ich hätte durchaus dabei draufgehen können.



>Paul, hörst du das?< André legte die rechte Hand an sein Ohr.
Bevor wir die kühlenden Schatten des Waldes betreten hatten, glaubte ich, am Horizont eine Staubwolke erkannt zu haben, war mir aber nicht sicher und äußerte deshalb auch nicht meinen Verdacht. Wir waren alle sehr still geworden; bis auf ein paar Vögel, die in einiger Entfernung Kommunikation betrieben, war nichts zu vernehmen. Langsam und sehr vorsichtig schlichen wir weiter den Weg entlang, den wir vor einiger Zeit betreten und der uns in den Wald geführt hatte.
>Ich höre auch etwas< sagte Lira im Flüsterton. Wenig später konnte ich es auch vernehmen. Es waren eindeutig die Hufe galoppierender Pferde.
>Schnell, da hinein!< André deutete auf das Dickicht links des Waldpfads.
Das mussten Reiter sein, die von der Küste kamen und sich auf dem Weg nach Athen befanden. Vielleicht waren es doch schon die Boten, die am attischen Hafen angelandet waren und geradewegs die Kunde vom Tod des Alexander an den Hof von Antipatros überbrachten. Ich wagte gar nicht, den Gedanken weiterzuspinnen. Als „keltische Barbaren“ konnten wir zur Zielscheibe einer jeden politischen Koalition werden.
Wir waren einige Meter tiefer in den Kiefernbestand eingedrungen, als ich stehen blieb und einen Zweig der wenigen Laubbäume aufhob, die hier wuchsen; er sollte für mein Vorhaben als Besen dienen:
>Geht schon mal weiter, ich hole euch bestimmt wieder ein! Macht schnell!<.
Ich erklärte meinen Begleitern, dass wir unbedingt unsere Spuren verwischen mussten, also zog ich mich wieder zurück auf den Weg und fegte den Wald. Innerhalb weniger Minuten war ich in Schweiß gebadet. Mein Herz klopfte bis zum Halse und der Klang der donnernden Hufe drang immer näher an meine Ohren. Anstatt mich zu entfernen von der Gefahr, bewegte ich mich immer weiter auf sie zu. Ich musste an mein Pendant Tom denken. Hatte ich etwa begonnen, seine halsbrecherischen Eigenschaften zu übernehmen? Ich wollte niemals als Held gelten und litt auch nicht an übermäßiger Profilierungssucht. Das Ganze passte nicht zu mir und dennoch begab ich mich in äußerste Lebensgefahr mit dieser Aktion. Wie viele Pferde und Reiter mochten das sein? Ich schätzte sie auf ein Dutzend. Vielleicht würden sie sich aufteilen an dem Weg, der in den Wald führt, dachte ich, sofern ich überhaupt noch klar denken konnte. Vielleicht ritten sie aber auch einfach weiter. Es musste uns niemand beobachtet haben, als wir in den Wald marschiert waren. Fakt war aber, dass immer im Rahmen eines drohenden oder schon beginnenden Bürgerkriegs die Nerven aller Beteiligten blank lagen. Verdächtige Handlungen, ein falsches Wort, eine falsch gedeutete Geste, falsche Freunde und Bekannte und verwirrende politische Botschaften konnten einen den Hals kosten!
Als ich am Waldrand angelangt war, brach ich meine Aktion ab, warf den „Besen“ ins Dickicht und begab mich selbst auch dort hin, um anschließend meinen Geländelauf zu starten. Darin war ich ziemlich gut und kaum zu besiegen, jedenfalls nicht von meinen Altersgenossen. Je länger ich lief, um so ruhiger wurde ich! Mein Herz begann wieder im Takt zu schlagen, nachdem ich zuvor leichte Herz-Rhythmusstörungen verspürt hatte.
Ich konnte mich gut an der Sonne orientieren, die ihre Strahlen hin und wieder durch die Äste des Waldes hindurch scheinen ließ. Kein Problem, dachte ich, ich weiß, wo die stecken. Wenig später schon vernahm ich auch meinen Freund André:
>Hier, Paul, wir sind hier!<.
>Weiter, wir müssen weiter!< drängte ich die anderen. Leider war Schoonas sehr langsam unterwegs. André feuerte ihn an:
>Mach hinne, alter Mann!<. Tatsächlich beschleunigte der Philosoph ein wenig das Tempo, bis er nicht mehr weiter konnte und stehen blieb. Wir blieben alle still und horchten in die Richtung, wo wir die anonyme Reiterschaft vermuteten. Zuerst konnte ich nur das Schnauben unserer eigenen Atmungsorgane vernehmen, doch dann waren sie deutlich zu hören: Die Kommandorufe eines Mannes zu Pferde.
>Runter!< befahl André uns.
Wir duckten uns so tief es ging hinter einen umgestürzten Baum, der uns als Deckung dienen konnte. Lira hatte sich flach auf den Bauch gelegt. Ich konnte sehen, wie sie vergeblich versuchte, einige der piksenden Fichtennadeln unter sich zu entfernen. Der Wald war einfach voll davon; ich war schon immer mehr ein Freund lichter Buchenwälder gewesen. Glücklicherweise aber reichte hier das Geäst vieler Nadelbäume bis tief auf den Boden, sodass der Wald insgesamt recht dicht bewachsen war und das gab uns zusätzlich Deckung. Hier sah es ganz anders aus, als in den Fichten Monokulturen meiner Zeit, wo allenfalls die Kronen noch ein Dach bildeten, aber der Rest der Bäume einer trostlosen Wüstenei ähnelte und die Baumstämme eher toten Stelzen glichen, als lebendigen und stützenden Körpern einer atmenden Waldkultur.
>Psst!< ich hatte gar nichts gesagt, oder hatte ich etwa laut gedacht?
André mahnte mich zur Ruhe. Schoonas lag ebenfalls bäuchlings im Geäst und Gestrüpp, hatte den Kopf zur Seite gedreht und hielt mit der Rechten seinen Krückstock fest umklammert. Orestes lag als Einziger auf dem Rücken und hatte alle Gliedmaßen von sich gestreckt. Seine Bauchdecke hob und senkte sich in einem Tempo, als wäre er derjenige gewesen, der den Lauf hinter sich hatte. Er tat mir aufrichtig Leid. Lira kroch zu mir herüber:
>Ich habe Angst!<
>Ich auch, Lira< was nicht besonders aufmunternd war >aber, es wird schon gut gehen!< fügte ich zaghaft hinzu – und das so leise, dass ich es kaum selbst verstand. Wieder einmal bewies die Zeit, wie relativ sie war. Aus Sekunden schienen Stunden zu werden, und wir hörten nur noch das Pochen unserer Herzen und das Hufgetrappel einiger Pferde. Sie schienen sich zu entfernen von der Stelle, an der wir den Weg verlassen hatten. Das war gut. Aber sie schienen auch misstrauisch, denn alles ging sehr langsam vonstatten.
Wahrscheinlich verfolgten sie irgendwelche Spuren auf dem Boden. Jetzt würde sich zeigen, ob ich gute Arbeit geleistet hatte.
>Sie scheinen sich zu entfernen< glaubte André.
Ich war mir da nicht so sicher.
>Psst! - Ich höre etwas< Lira hatte Recht.
Man konnte vernehmen, wie ein Ast nach dem anderen zerbarst. Da kam jemand auf unserer Stellung geradewegs zu, schien dann aber wieder stehen zu bleiben. Ich schob meinen Kopf ein wenig über den Baumstamm und konnte die Silhouette eines Soldaten erkennen, der offenbar glaubte, dass sich etwas im Busch befand, was da nicht hingehörte. Er blieb tatsächlich stehen und jegliche Geräusche verebbten. Nicht einmal mehr ein Vogel war zu hören. Ich glaubte, dass wir inzwischen sogar aufgehört hatten, zu atmen. Nun war die Zeit wirklich stehengeblieben. Lira hatte sich ganz an mich gedrückt und suchte offenkundig meine Nähe. Würde ich sie beschützen können, wenn der Mann uns hier entdeckte? Für eine Weile überlegte ich, mich nach vorne zu arbeiten und den Kerl mit dem Messer meines Campingsets zu erledigen. Ich zog das Set aus meinem Umhang und entnahm ihm das Messer. Die Klinge war so klein, die war wirklich nur etwas, um Butter aufs Brot zu schmieren. Wenn ich den Soldaten ausschalten wollte, dann musste ich ganz nah, sehr nah, an ihn ran. Würde er einmal sein Schwert gezogen haben, hätte ich keine Chance mehr.
>Du willst doch nicht?!< flüsterte Lira mir ins Ohr, als sie mein Campingmesser erblickte.
>Doch!< meinte ich und war mehr denn je entschlossen, den Soldaten zu ermorden.
Dann allerdings hielt mich etwas zurück: Was wäre, wenn der Kerl nicht mehr zurückkehren würde zu seiner Kohorte? Die Beantwortung dieser Frage überließ ich der Unterwelt, denn der Soldat entfernte sich ganz langsam wieder von seinem Platz. Offenbar schätzte er die Situation als nicht bedrohlich ein, denn er rief seinen Leuten zu, dass alles in Ordnung sei, er würde gleich zu ihnen stoßen. Immer schneller entfernte sich der Mann aus dem Dickicht, schlug noch ein paar Haken und betrat dann wieder den Weg, auf dem er und seine makedonischen Mitstreiter gekommen waren. Die Kohorte war wieder vollzählig und verließ die Schonung.
>Mein Gott!< André tat einen Seufzer, wie ich ihn noch nie bei ihm vernommen hatte.
Wir waren allesamt völlig am Ende mit unseren Nerven; mag sein, dass sich im Detail die schlimmsten Befürchtungen und Ängste unterschiedlich ausgedrückt hatten in unseren Vorstellungen, aber letztendlich hatten sie alle mit dem Tod zu tun, mit dem Ableben in einem kleinen Wäldchen am Rande von Athen, oder dem verschleppt werden in die Sklaverei, oder der Einkerkerung in einem feuchten Verlies auf einer der zahllosen Inseln des Mittelmeeres. Keiner von uns sagte etwas oder fragte den anderen, was in seinem Kopf vorgegangen war. Jeder verarbeitete das Geschehene erst mal selber und für sich alleine.
>Gehen wir zurück zur Akropolis< ich erhob mich als erster aus unserer Deckung hinter dem Baumstamm, der uns vielleicht das Leben gerettet hatte.
>Danke!< tätschelte ich beinahe zärtlich die Rinde der Schwarzkiefer.
>Alles in Ordnung?< erkundigte sich Lira nach dem Zustand des anderranischen Philosophen.
>Ja, danke Lira, es geht schon<.
Schoonas entfernte ein paar der Nadeln von seinem königlichen Gewand, welches er immer noch trug. Hätten wir vorgehabt, noch länger zu bleiben, dann hätten wir dem Mann unbedingt eine neue Bekleidung besorgen müssen; die die er trug war einfach zu auffällig mit den purpurnen Farbmustern und goldenen Applikationen im Schulterbereich. Sein Outfit signalisierte förmlich „Schaut her – ich bin euer Herr und Meister!“. So manch einer könnte auch glauben, der Mann ist vermögend, sehen wir doch mal nach, was der so in den Taschen hat!
>Ihr solltet euch die Verbände wechseln lassen!< Lira deutete auf meine und Schoonas` Bandagen.
>Stimmt – das machen wir!< antwortete ich.
Das nette Mädchen aus dem Tempel des Asklepios hatte ohnehin gesagt, wir sollten erneut die Sanitätsstation besuchen, bevor das Schauspiel des Aischylos im Theater aufgeführt würde.
>Wir meiden besser den Weg, den wir gekommen sind< meinte André.
So schlugen wir uns zurück durch das Dickicht, überquerten den Weg, auf dem die Reiterei einen Stopp eingelegt hatte und verließen den Wald in nördlicher Richtung. Am Rande der Schonung konnten wir in der Ferne die Akropolis erblicken und östlich von unserem Punkt den Wegverlauf, auf dem wir zuvor entlang gewandert waren. Wir entschlossen uns, parallel davon zu bleiben und entlang der Olivenplantagen zu gehen. Hier hatten wir immer etwas Deckung und sogar ein wenig Schatten vor der unerbittlichen Strahlkraft der Sonne. Dies war die schlimmste Hitze, die wir seit unserer Reise in die Vergangenheit erlebt hatten – und das Wasser in meinem Getränkeschlauch ebbte immer ab.
>Hier!< Orestes gab Schoonas zu trinken.
Wir saßen zwischen den Olivenbäumen und aßen einige der herrlich delikaten Früchte. Die Pause würde uns gut tun und wir hatten sie wahrlich verdient. Lira hatte ihren Kopf an meine Schulter gelehnt:
>So gefährlich habe ich mir das nicht vorgestellt<.
>Ich auch nicht, Lira<.
>Morgen noch und dann sind wir weg!< versuchte ich sie, aufzuheitern.
>Hilft alles nix – da müssen wir durch!< André hatte mitgehört.
>Morgen bleiben wir in der Stadt< schaltete sich Schoonas ein und Orestes ergänzte >Vielleicht kann uns Aristoteles schützen, immerhin hat er uns Asyl angeboten<.
Da hatte Orestes gar nicht mal so Unrecht mit.
Natürlich hatte der Mann Einfluss auf seine Umgebung, aber ich war auch skeptisch, aufgrund der Feinde, die er sich gemacht hatte. Vielleicht kamen wir durch eine Verbindung zu Aristoteles vom Regen in die Traufe. Das erschien mir ein gefährliches Spiel und sagte es auch so zu meinen Begleitern. Wir würden es eher dem Zufall überlassen; vielleicht träfen wir den Philosophen im Theater und es ergäbe sich eine Situation, aus der heraus wir eine Entscheidung treffen würden, für den weiteren Verlauf unseres Verbleibs in der Stadt.
>Die Taverne scheint mir so eine Art konspirativer Treffpunkt zu sein< meinte ich bezüglich unserer Schlafstatt.
>Und zwar der verschiedensten Gruppen< ergänzte André.
>Soviel ist sicher: Sicher sind wir da nicht!< rundete ich die Situationsanalyse ab.
>Vielleicht sollten wir im Tempel schlafen< war Liras Idee.
>Oder im Krankenhaus< so André.
>Wir entscheiden das, wenn wir in der Stadt sind!< beendete Schoonas endgültig unser Geplänkel.
Lira war an meiner Schulter eingeschlafen und Orestes hatte sich im Schatten eines besonders großen Olivenbaumes in die Embryonalhaltung begeben und schien ebenfalls zu schlafen. Ich legte den Arm um meine Freundin und wir begaben uns ebenfalls in eine entspannte Liegeposition. Schließlich dämmerten wir auf den Wellen eines traumlosen Ozeans dahin, während André und Schoonas Wache hielten.


>Seid gegrüßt, Anderraner – wir kommen in friedlicher Absicht!< Die Jordans hatten ihren großen Auftritt mehrmals auf dem Raumschiff „Antares“ geübt. Sie wollten unter allen Umständen vermeiden, dass ihre Landsleute in einen Schockzustand gerieten, oder was viel schlimmer gewesen wäre, sie hätten eine feindliche Haltung eingenommen mit einem eskalierenden Schusswaffeneinsatz.
>Ihr seid von da oben?< Gondvira deutete auf den Mond, der stets die gleiche öde, vertrocknete Seite zeigte, wie eh und je. Man befand sich immer noch auf dem Flugfeld von Katenam; die Subversiven um Malekkos Bande, die man als politische Kriminelle betrachtete, waren alle entwaffnet und in die Baracken gesperrt worden.
>Ja – wir sind eure Verwandten von Arkadia. So nennen wir unserer Welt: Arkadia< antwortete Kommandant Erik Jordan.
>Arkadia< murmelte die Professorin und fügte dann deutlich vernehmbar hinzu: >Es hätte schlimmer kommen können. Wir dachten zuerst, eine feindliche Alien-Invasion wäre im Anmarsch. Ihr habt uns ganz schön Angst eingejagt!<.
>Das war nicht unsere Absicht. Wir haben gesehen, dass ihr in Schwierigkeiten steckt und wollen euch helfen, die Krise auf eurem Planeten zu überwinden<. Was Laura Jordan da sagte, war, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. In erster Linie wollte man eine Zusammenarbeit bezüglich der drohenden Gefahr aus den Galaxien des Coma-Virgo-Superhaufens. Darüber hinaus wollte man sich vergewissern, dass die Anderraner auch tatsächlich die Multiverser Technologie endgültig aufgaben, mit der entsprechenden Zerstörung aller Gerätschaften. Man dachte überhaupt nicht daran, sich in die innenpolitischen Zwiste der Anderraner einzumischen.
Diese politischen Haltungen und eine kurzfristige Zusammenarbeit müsste man schon sehr rasch bei einem Treffen ausloten und einen Vertrag abschließen, so jedenfalls waren die Vorstellungen der Arkadier, über eine temporäre Zusammenarbeit. Für die Zukunft kam allenfalls eine lockere Föderation in Betracht, die die volle Souveränität der beiden so unterschiedlichen Staatengemeinschaften auf den beiden Himmelskörpern festlegte. Bezüglich dieser politischen Annäherung war man sich sehr schnell einig. Allerdings wollten die Anderraner in Auroville ein großes Plenum abhalten, auf dem die Vorstellungen über die Gestaltung dieser kommenden Politik besprochen und auch abgestimmt werden sollte. Letzten Endes würde ein Plebiszit abgehalten, bei dem alle Bewohner des Planeten ihr „Okay“ über das neue „Planeten-Arrangement“ abgeben sollten oder auch ein „Nein“; das würde sich dann zeigen.
Unter dem Eindruck dieser völlig neuen Situation, die auf Katenam stattgefunden hatte, blieb Gondvira relativ gefasst und sprach und handelte sehr rational. Die emotionalen Aspekte dieser überraschenden „Invasion“ von ihrem Mond, würden sich später noch bemerkbar machen, da war sich die Professorin sicher. Und auch ihre Landsleute würden einige Zeit brauchen, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Immerhin: Sie waren nicht alleine in diesem Sonnensystem. Über lange Zeit schon lebte eine Nachbarschaft über ihren Köpfen, von der die Anderraner nichts wussten. Vielleicht waren sie sogar ausspioniert worden. Gondvira fiel Ortas ein, als er von dem „voyeuristischen Prinzip“ sprach, wenn es darum ging, die Bewohner von Terra zu besuchen, denn die wussten ja in der Regel auch nichts von dem, was da geschah, dass sie im Grunde als eine Art Studienobjekt galten für eine höher entwickelte Zivilisation als die ihrige.
>Ich weiß, wie verwirrend das alles für Sie sein muss< Laura Jordan überreichte Gondvira ein Gerät, das wie ein Tablet aussah und einen Kommunikator >Hier drauf sind unsere Vorschläge für einen Vertrag gespeichert< Sub-Kommandantin Jordan deutete auf den eiförmigen Kommunikator >und damit können Sie uns jeder Zeit kontaktieren<.
Die Frau mit dem Irokesenschnitt nahm beide Geräte in Empfang und bedankte sich. Man würde sich spätestens wieder melden, wenn man sich in Auroville in einem Plenum besprochen hatte. Gondvira war ohnehin klar, dass sie das Meiste von dem, was heute vorgefallen war, an die entsprechenden Stellen in die Hauptstadt nach Kongress delegieren würde. Wir sind hier eine astronomische Station und nicht die Entscheider der großen Politik des Planeten, dachte die Professorin. Sie spürte, wie ein wenig der Druck, der auf sie lastete, nachließ.
>Sieh es mal so: Wir brauchen nun keine Sonde mehr zu starten< Ortas legte seine Hand auf die Schulter von Gondvira.
Ihm war nicht entgangen, wie erschüttert die Frau war, auch, wenn sie bemüht schien, dies nicht zu zeigen. Die beiden waren sich sehr ähnlich in ihrem Bestreben, ihre wahren Gefühle vor ihrer Umwelt zu verbergen.
>Unser nächstes Treffen sollte in einem würdigen Rahmen stattfinden< entgegnete die Professorin >und nicht auf einem staubigen Flugfeld<. Sie schüttelte den Kopf und konnte immer noch nicht so recht fassen, was hier geschehen war.
Trotzdem hatte sie die Kontrolle behalten und Ortas unterstützte ihre Selbstwahrnehmung mit einem wohlwollenden „Gut gemacht!“. Der erste Kontakt hätte schlechter ausfallen können, dachte sie, und schritt mit den anderen auf das E-Mobil zu, welches die Leute zurück zur Station bringen würde. Dann schob sich der gigantische Schatten mitsamt dem Schiff hinauf in die Stratosphäre von Anderran und entschwand dem Orbit des Planeten in atemberaubender Geschwindigkeit, um hinüber zu wechseln nach Arkadia, was wirklich nur ein kurzer Weg war, ein Katzensprung sozusagen.
Während der Fahrt zum Observatorium meinte sie zu Ortas, man müsse unbedingt eine Historiker Kommission damit beauftragen, die Geschichte und die Evolution auf Anderran einer Überprüfung zu unterziehen. Ortas stimmte dem zu und würde gleich eine entsprechende Empfehlung nach Auroville und Leartas übermitteln. Der Philosoph könne als Mediator in diesem Prozess der Aufarbeitung eine durchaus positive und gewichtige Rolle spielen, schließlich seien die Vorkommnisse des heutigen Tages eine Zäsur in der Geschichte des Planeten. Gondvira begrüßte seine Idee und war überaus froh, mit Ortas einen Kollegen an der Seite zu wissen, der sie bei ihrer Arbeit konstruktiv und wirkungsvoll unterstützte. Allerdings nahm sie sich vor, sich wieder verstärkt astronomischen Phänomenen zu widmen und sich künftig mehr aus der Politik herauszuhalten. Das würde schwer zu realisieren sein, denn zum anderranischen Selbstverständnis gehörte es, dass jeder und jede auf dem Planeten ein Mitgestalter des anarchistischen Systems war und damit auch im starken Maße mitverantwortlich für das Wohl und Wehe der gesamten Gemeinschaft der Anderraner.



>Heute geht`s nach Hause!<
André war außer sich vor Freude. Ich schloss mich seiner Euphorie gerne an. Wir hatten die letzten drei Tage ohne Schäden überstanden, kein Asyl gebraucht und Aristoteles war uns ohnehin nicht mehr über den Weg gelaufen. Der letzte, der das mit Bedauern bewertet hätte, war André, wo hingegen Schoonas es begrüßt hätte, in einen Dialog zu treten mit dem großen Philosophen – von Philosoph zu Philosoph.
Von dem Theaterstück „Die Perser“ hatte ich nichts mitbekommen, war immer wieder eingenickt und verstand auch nicht die historischen Zusammenhänge. Hinzu kamen die Masken der Schauspieler, die sie allesamt gleich aussehen ließen. Ich hatte es irgendwann aufgegeben, dem Stück zu folgen und sah lieber in die Ferne, hinüber zur attischen See nach Piräus und hing meinen persönlichen Gedanken nach. Die Hatz durch den Wald in der Ebene von Attika allerdings hing mir immer noch ein wenig nach. Obschon uns nichts passiert war, war die psychische Belastung enorm gewesen. Folgerichtig hatten wir nach Verlassen der Schonung erst einmal eine lange Rast gebraucht und die hatten wir auch ausgiebig unter den Olivenbäumen genossen und uns dabei erholt von den Strapazen. Den gestrigen Tag hatten wir ohne besondere Vorkommnisse in der Plaka verlebt. Nun galt es nach vorne zu schauen:
>Hast du alles?< fragte ich meinen Freund, der sein Bündel für die Abreise packte.
>Trumpy, komm hier hin!< befahl er dem Dino, in den Rucksack zu kriechen, was der auch prompt tat.
>Ja, alles klar!<.
Lira saß auf einem der Betten und schien sich zu langweilen. Sie war längst fertig mit packen und auch Orestes und Schoonas saßen auf ihren „Koffern“. Endlich würden wir die Kaschemme verlassen. Wir hatten uns nicht wirklich gut gefühlt hier, weil stets damit gerechnet werden musste, dass wir unangenehmen Besuch erhalten würden. Die Lage in der Stadt war alles andere als stabil und sicher. Wenn es ruhig war, dann war es die Ruhe vor dem Sturm, das war gewiss!
Wir nahmen noch ein Frühstück in Berenikes Taverne ein, in der wir an diesem Morgen die einzigen Gäste waren, André überreichte ihr zum Abschied eine „Träne der Götter“, dann war auch das letzte Stück seines Vorrats an Bernstein aus der Hand gegeben. Wir brauchten diese Handelsgüter nun nicht mehr, denn in der Nähe des Dionysos Theater würden wir schon sehr bald das Portal betreten, um nach Anderran zu gelangen. Hoffentlich ging alles gut:
>Bist du sicher mit dem Wurmloch< wollte ich von Orestes wissen, der erneut den Multiverser überprüfte, als wir draußen in der Plaka unbeobachtet zwischen zwei Häusern standen.
>In einer Stunde, zehn Minuten und 34 Sekunden ist das Wurmloch stabil< versuchte Orestes mich zu beruhigen.
>Und dann öffnet sich ganz sicher das Portal?< kam mir André mit der nächsten Frage zuvor.
>Absolut sicher!< Orestes schien wirklich überzeugt von seiner Analyse. Ich blieb misstrauisch. Einen Multiverser hatten wir unfreiwillig im Meer versenkt, einmal stimmte die Lokalisierung des Ortes nicht und wir waren auf Thera, statt in Kreta gelandet. Und zuletzt machten die Kommunikatoren Probleme und wir hätten fast unsere „Sprache verloren“. Nicht zu vergessen: Schoonas, den Zolan mit einem manipulierten Gerät ins Nirwana befördern wollte.
Es wurde Zeit, dass diese Geräte aus der Welt verschwanden. So faszinierend es auch war, durch die Zeit zu reisen, die Komplikationen, bis hinauf zur Störung des Raum-Zeitgefüges, die diese Technologie mit sich brachte, war es nicht wert, dass sie weiter benutzt wurde. Nicht alles, was machbar war, sollte auch umgesetzt werden – das würden wir alle noch lernen müssen, oder wir würden wahrlich ein schreckliches Ende nehmen, dachte ich. Mir fiel wieder mein Traum ein vom letzten Sapiens.
>Träumst du wieder?< Lira war von hinten an mich herangetreten und strich durch mein Haar, was inzwischen für meinen Geschmack viel zu lang geworden war. Ich erschrak, als sie mich berührte, und zuckte zusammen.
>Was?< für einem Moment schien ich ganz weit weg zu sein und das ohne Techno Schnickschnack, wie ich fand.
>Entschuldigung – ich wollte dich nicht erschrecken!< Lira nahm mich in den Arm, was ich sehr genoss. Schließlich war ich wieder präsent und es konnte weitergehen. Wir erreichten den Tempel des Asklepios und waren ganz nahe beim Theater und auch bei der Stelle, wo wir den Übertritt gemacht hatten vom 17. Jahrhundert in das 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.
>Und das Ziel?< fragte ich Orestes erneut.
>Habe ich eingegeben: Planet Anderran, Katenam, Vorplatz des Observatoriums<.
>Hoffentlich nicht im Garten von Valdur; der wäre nicht vergnügt, wenn wir ihm seine Rosen zertrampeln< meinte André.
>Und die Zeit?< natürlich mussten wir darauf achten, dass auf Anderran genau so viele Tage verstrichen waren, wie die, die wir auf der Erde zugebracht hatten. Eigentlich sollte dies das Gerät selbstständig errechnen, aber eine Überprüfung konnte nicht schaden, was Orestes auch tat.
>Fünf Tage waren wir insgesamt unterwegs< antwortete Orestes, nachdem er einige Feinjustierungen vorgenommen hatte.
>Was, mehr nicht!?< André konnte es nicht glauben und auch Lira und ich schauten ungläubig zu Orestes herüber. Der schüttelte nur den Kopf:
>Alles in Ordnung!< sollte heißen, das alles seine Richtigkeit hatte. Wir hingegen hatten das Gefühl, als wären wir ein halbes Jahr unterwegs gewesen.
Nur Schoonas blieb gelassen und schien überhaupt kein Problem damit zu haben. Überhaupt hatte er sich unglaublich gut gefangen, nachdem er zu Beginn unseres Auftretens in Athen eine wirklich schwere Krise hatte, die uns alle zu Schaffen machte.
>Alles ist gut!< wiederholte Orestes.
Die Wiese unter unseren Füßen war erstaunlicherweise saftig grün und korrespondierte mit den farbigen Skulpturen der Tempel und Heiligtümer sowie dem Parthenon im Hintergrund. Alles war so friedlich und ich konnte nicht glauben, dass in diesem Moment die erste Demokratie des Abendlandes in Scherben lag. Zweitausend Jahre würde es dauern, bis erneut sich die Menschen ihrer Tyrannen entledigten und sich ein Mitspracherecht erkämpften um die Gestaltung ihrer Gesellschaft, in der sie beabsichtigten, friedlich und gerecht zu leben. Ich schaute ein letztes Mal hinüber zur attischen See, etwa 10 Kilometer entfernt von unserer Stelle unterhalb des Tempels der Athene. Das Arsenal des Hafens von Piräus, welches alle wichtigen Bauteile und Schiffszubehöre aufnahm und eine Art Werft war, würde in diesem Jahr fertiggestellt werden und galt als eines der größten und kriegstechnisch wichtigsten Bauprojekte der attischen Demokratie.
Etwa 150 Jahre später würden die Römer unter Diktator Sulla den Hafen und das Arsenal niederbrennen. Aber zuvor würde das Reich des Alexander zwischen drei Generälen aufgeteilt werden, den sogenannten Diadochen. Vielleicht war die Linie der Ptolemäer die erfolgreichste, schließlich brachte sie Kleopatra hervor, aber spätestens mit dem Tod ihrer Königin erlosch dann auch endgültig die glorreiche Geschichte des antiken, historischen Ägyptens.
>Du träumst ja immer noch!< Lira zog mich am Ärmel meines Umhangs in den Zeittunnel. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie sich das Portal geöffnet hatte, so sehr war ich gefangen von dieser Zeit, die so bedeutungsvoll war für die weiteren Geschicke und die Geschichte des europäischen Abendlandes.



Als wir auf der anderen Seite wieder auftauchten, war ich ernüchtert und enttäuscht. Wir hatten die Vergangenheit verlassen, die für mich voller Inspiration und Poesie war, aber leider auch angefüllt mit Bedrohung und Gewalt. Zudem landeten wir dummerweise doch noch in den Blumenrabatten, die der Hausmeister und Gärtner Valdur so hingebungsvoll mit seinen eigenen Händen geschaffen hatte. Nach unserem Erscheinen in Katenam verließen wir sofort die Beete, denn wir wollten nicht den Zorn des Gärtners auf uns ziehen. André strich mit den Händen über die Erde, um alles wieder zu glätten, dabei steckte er eine umgeknickte Blütenpflanze einfach mit dem blanken Stiel in die Erde zurück. Nichts sollte an unsere etwas „rustikale“ Ankunft erinnern. Gerade als wir alles wieder in den Urzustand verbracht hatten, kamen auch schon Gondvira, Ortas und Dennis aus dem Observatorium gerannt:
>Hallo, alle miteinander!< begrüßte uns die Astronomin, sichtlich erleichtert, dass wir wohlbehalten heimgekehrt waren.
Die Frau umarmte nacheinander Lira und Orestes. Was für ein herzliches Verhältnis zwischen Studenten und Lehrkräften, dachte ich, so sollte es sein. Eine entspannte Atmosphäre in einem überschaubaren Rahmen lässt die Menschen gleich viel besser arbeiten und schafft Erfolg, aus dem Zufriedenheit erwächst. Was niemand wusste: Ich hatte Tagebuch geführt während unserer Reise. Ich beabsichtigte, der Professorin das Buch zu überreichen, wenn ein geeigneter Augenblick gekommen war. Auch wenn ich ein Gegner der Zeitreise Technologie war, so hatte ich dennoch das einzigartige Privileg gehabt - vielleicht als einer der letzten Menschen – durch zwei so faszinierende Abschnitte der Geschichte des Altertums zu reisen. Hierbei hatten wir hautnahen Kontakt zu denen, die ihrer Zeit den Stempel aufgedrückt hatten. Nun kam auch mein alter Ego – Tom – auf mich zu und umarmte mich etwas ungestüm:
>Na, mein Alter! Hast du mir was Schönes mitgebracht aus Griechenland? Siehst ziemlich ramponiert aus!< Tom hatte mich auf dem völlig falschen Fuß erwischt und ich stolperte verbal so vor mich hin:
>Öh, Äh, nee...<.
>Schon gut, macht nix<. Ich würde mich nie an mein zweites Ich gewöhnen. Tom dagegen schien überhaupt kein Problem damit zu haben, einen „Zwilling“ aus einer Parallelwelt in der Nähe zu wissen. Wir waren total verschieden, da gab es gar keine Zweifel auf meiner Seite.
Valdur war nirgends zu sehen, so gab es auch keine Schelte wegen des Malheurs in seinem Garten. Wir verließen den Außenbereich der Station und betraten über die Stufen das Observation und anschließend die Mensa, wo wir erstmals wieder anderranische Verpflegung erhielten, die rein vegetarisch war, aber lecker schmeckte. Ich goss mir einen starken Kaffee hinter die Binde und entfernte die Binde von meinem Hals:
>Genug von dem Teil!<.
>Ja, sieht schon besser aus. Aber wir gehen trotzdem gleich mal in die Erste-Hilfe Station< beurteilte Lira die Situation um meinen Gesundheitszustand. Der keltische Halsring befand sich noch in meinem Bündel. Er würde mich immer an die Wellen des Mittelmeeres erinnern und an die schwankenden Planken, mit denen ich beinahe in der minoischen See untergegangen war.

Am nächsten Tag waren wir alle versammelt an den Tischen in der Mensa. Gondvira saß mir gegenüber und ich überreichte ihr mein Buch mit den Aufzeichnungen:
>Das ist ein unglaublich wertvolles Geschenk, aber ich kann das so nicht annehmen. Ich werde eine Kopie anfertigen und dir das Original zurückgeben< ich war damit einverstanden und sogar davon ausgegangen, dass die Professorin so reagieren würde.
>Danke nochmals! Vielen Dank!<. Lira hatte zugehört und war verblüfft:
>Ich habe gar nichts davon mitbekommen. Nie habe ich dich schreiben gesehen<. Ich antwortete ihr, dass ich nachts geschrieben hatte, wenn ich nicht schlafen konnte. Tatsächlich hatte ich eine kleine Kerze dabei gehabt und im Schein der Flamme meine Gedanken in das rote Büchlein niedergeschrieben.
>Vielleicht war ich auch deswegen manchmal so müde tagsüber< versuchte ich eine Erklärung für meine „Durchhänger“, die ich manchmal hatte.
>So kenne ich dich!< meinte André anerkennend >Immer auf dem Laufenden, alles analysieren und strukturiert vorgehen<.
>Danke, ich hoffe, du meinst das nicht ironisch!<.
>Nein!<. André schüttelte den Kopf. Dann trat Schoonas an unseren Tisch und verabschiedete sich:
>Ich werde heute noch mit Ortas und Valdur nach Auroville zurückkehren. Ich beabsichtige, mich einem Plenum zu stellen, aber zuvor möchte ich mich mit meinem Kollegen Leartas beraten<.
Das war sein gutes Recht, wie ich fand und glaubte nicht daran, dass seine Extratour ernsthafte Konsequenzen haben würde. Unterstützung für meine These fand ich in den folgenden Neuigkeiten, die Gondvira uns präsentierte:
>Wir haben Besuch von unseren Nachbarn erhalten<. Ich war nicht sonderlich überrascht, dass ihr Mond bewohnt war. Mir war beim letzten Besuch aufgefallen, wie sehr sich die Silhouette des lunaren Begleiters von Anderran, der des Mondes der Erde glich. Ich glaubte sogar, das Mare Tranquillitatis – Meer der Ruhe – erkannt zu haben. Ganz offensichtlich hatten sich die Arkadier keine besonders große Mühe gegeben bei der Gestaltung ihrer Holografie und waren damit wohl nicht besonders kreativ in ihrem Handeln. Ganz davon abgesehen, hatten auch sie sich in unserem Sonnensystem bedient; wenn sie auch nicht gewalttätig waren oder gemordet hatten, so hatten sie alle für meinen Geschmack eine rote Linie überschritten mit ihren ideellen Diebstählen und den tatsächlichen Beutezügen einiger krimineller Anderraner. Da hatten die Bewohner beider Trabanten noch einiges aufzuarbeiten, war ich mir sicher. Meine Kritik fand ihr Äquivalent in der Einstellung von Ortas, der sich immer dafür ausgesprochen hatte, sich den „Erdlingen“ zu offenbaren.
Eine Sanktionierung, die Teil eines Strafgesetzes war, kannten die Anderraner nicht. Was man auf der Erde gemeinhin als „Therapie statt Strafe“ oder „Resozialisierung“ als Teil eines liberalen Umgangs mit Gesetzesübertretungen bezeichnete, war hier Kern des Gedankens, dass man alles, ja wirklich alles „heilen“ könne durch Einsicht der Klienten, dass sie zum Schaden für alle gehandelt hatten. Ich war zu wenig involviert in das Gesellschaftssystem der Anderraner, um mir ein abschließendes Urteil zu erlauben über die Art und Weise wie die Bevölkerung zu leben gedachte und hielt mich damit auch verbal zurück.
>Kommen wir zu dem Multiverser Artefakt, weswegen wir ja nach Kreta gereist waren< brachte ich den wichtigsten Punkt zur Sprache. Ich sah Orestes in die Augen, der neben Gondvira saß und sogleich zwei dieser Geräte vor uns auf dem Tisch platzierte.
>Hervorragende Arbeit! Wir sind euch zu ewigem Dank verpflichtet. Die Multiverser werden in Auroville bis zu ihrer Zerstörung sichergestellt<. Gondvira meinte es ehrlich, das wusste ich. Aber sie hätte sich für meinen Geschmack dennoch etwas zurückhalten können mit ihren Lobeshymnen. Auf „ewigen“ Dank konnte ich verzichten, nicht aber auf eine sichere Rückkehr auf die Erde und nach Aachen.
>Wenn es dir Recht ist und du es wünscht, dann bringe ich euch persönlich von Auroville aus, auf die Erde zurück<. Das war es und ich nahm ihr Angebot gerne an. Auch André war damit einverstanden. Tom und Dennis wollten ebenfalls in ihre Heimatwelt zurückkehren, was ich durchaus nachvollziehen konnte, spätestens, nachdem ich erfahren hatte, in welche Gefahr sich Tom begeben hatte. Ich glaubte, dass sein Job in Oakland besser zu kalkulieren sei. Dort war er aufgewachsen, kannte sich hervorragend aus und wusste wie seine Landsleute tickten, aber hier war das etwas völlig anderes. Lira sah mich mit ihren kastanienbraunen Augen an und ich wusste die Signale zu deuten, die ich vernahm, als sie unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte:
>Meine Freundin Lira wünscht mitzukommen auf die Erde<. Lira lächelte und war froh, dass ich für sie sprach.
Aus irgend einem Grund fühlte sie sich Gondvira verpflichtet und wagte nicht, es ihr selbst zu sagen, dass sie beabsichtigte, ihre Heimatwelt zu verlassen und das vielleicht für immer. Dieses Problem hatte sie schon, als sie erstmals mit uns Katenam verlassen hatte.
>Wieso glaubt ihr immer, ich hätte hier etwas zu bestimmen?!< dies schien einer ihrer Standardsätze zu sein, unterstrich aber einmal mehr den anarchistischen Anspruch, den sie selbst vertrat, und zwar vollen Herzens vertrat.
>Da ist noch etwas< begann ich >Wie du weißt, ist eines der Geräte verschwunden. Ich kann nicht versprechen, dass wir Erfolg haben werden, aber ich werde mit Lira zusammen auf der Erde danach suchen<.
Meine Freundin wusste noch gar nichts von ihrem Glück, schien aber weder überrascht, noch erzürnt, dass ich nicht mit ihr gesprochen hatte über meine Pläne. Ich wusste, dass sie Blut geleckt hatte an diesen Abenteuern, auch wenn sie sich nicht kopflos hineinstürzte, so war sie doch genauso neugierig wie ich und liebte Herausforderungen jeder Art.
>Das ist mehr, als wir erwarten können. Und eigentlich dürfen wir gar keine Wünsche an euch richten. Ich schäme mich für meine Mitbürger, die sich so schändlich verhalten haben auf eurem Planeten. Ihr seid uns zu nichts verpflichtet, aber wenn ihr den Multiverser bergen könnt, dann haben wir hoffentlich alle Geräte zusammen und können diesen praktischen Teil der Suche endlich abschließen. Die eigentliche geschichtliche Aufarbeitung müssen wir erst noch beginnen hier auf Anderran< beendete Gondvira ihre Ausführungen.
>Ich komme mit!< warf mein Freund ein, als ich von der Bergung des Multiversers gesprochen hatte.
>Da gehe ich von aus, dass du uns hilfst. Jemand muss auf dem Schifferklavier spielen, wenn wir auf dem Mittelmeer unterwegs sind< bemerkte ich scherzhaft. Gondvira hob die Augenbrauen und meinte zu André:
>Bitte spiele uns heute Abend mit Dennis noch etwas von eurem Blues vor – das geht so herrlich in die Beine!<. „Sehr gerne“ hatte André geantwortet und freute sich sichtlich, endlich wieder in die Tasten hauen zu können. Tom, der eigentlich nicht auf dem Mund gefallen war, saß ebenfalls am Tisch, hatte aber während der ganzen Konversation nicht ein Wort gesagt.
>Was ist los mit dir „Bruder“?< fragte ich ihn.
>Ich bin wohl etwas melancholisch; eigentlich freue ich mich auf Oakland und Frisco, aber andererseits würde ich gerne bleiben. Dieser Planet hat viel Potenzial!<.
>Ich verstehe dich!<.
Auch mir war nicht ganz wohl zumute; andererseits: Sollten wir den Multiverser finden, und davon war ich überzeugt, dann würden wir ohnehin nach Anderran zurückkehren, um das Gerät für die endgültige Zerstörung zu übergeben. Wie ich inzwischen erfahren hatte, war es der Kern der Multiverser, der die Probleme mit der Raumzeit erzeugte. Zerstört werden konnte dieser Kern nur, wenn ein ungeheuer großer Druck mit entsprechender Hitze erzeugt wird, wie in einem Vulkan beispielsweise. So hatten die Menschen auf der Insel Vik, von denen mir Gondvira erzählt hatte, mit ihrer Aktion genau das Richtige getan, nämlich die Multiverser dem Rachen des Vulkans zu übergeben: Erde zu Erde, Asche zu Asche, dachte ich.
>Unsere Kollegen von der Insel Vik kommen auch heute Abend zur Party< meinte die Professorin.
>Ich musste gerade an sie denken< antwortete ich >Ich freue mich darauf, ihre Bekanntschaft zu machen<.
Sie hatten wirklich Großartiges geleistet; leider musste einer der Ihren dies mit dem Leben bezahlen - Raf hieß der - und zu Ehren des Getöteten sollte in der nächsten Woche eine Gedenkfeier in Auroville stattfinden, die wir aber nicht mehr besuchen würden, weil wir dann zurück in Aachen wären – wenn es alles gut ging.



Der Hörsaal war beinahe völlig leergeräumt – in der Mitte standen zwei Klaviere in edlem schwarzen Lack – und von der Decke hing eine Discokugel; einige schick aussehende Paravents schafften kleine Nischen an den Wänden. Was ich sah, gefiel mir sehr und meinem Freund André ganz besonders. Natürlich setzte er sich sofort an eines der Tasteninstrumente und begann vorsichtig damit, die musikalischen Eigenschaften des Klaviers zu erkunden, indem er einen ruhigen Jazz intonierte. Der Saal war beinahe noch leer, denn es war noch früh am Abend; es würde wohl der letzte sein auf dieser Welt für uns. Bei der Musik, die André leise spielte wurde ich wehmütig. Lira stand nehmen mir und ihr wurde gewahr, wie ich empfand. Ich wollte aber nicht, dass sie mich tröstete, denn der Verlust, den sie zu verzeichnen hatte, wog um einiges schwerer, als die rein sentimentalen Emotionen, denen ich anheim gefallen war. Mir ging es da wie Gondvira, die depressiv war; ohne dass sie je etwas gesagt hätte, wusste ich genau, wie es um sie stand. Ich fühlte mich dieser Frau sehr verbunden und wahrscheinlich hatte ich deshalb ihr mein Reisetagebuch geschenkt und nicht wegen ihrer fachlichen Kompetenzen.
Dennis war dazugekommen und setzte sich an das Klavier gegenüber, sodass sich beide Künstler während des Spiels in die Augen schauen und auch kommunizieren konnten. Beide hatten sich in schwarze Anzüge geschmissen und sahen vortrefflich aus in ihren Garderoben. Nach unserem „Maskenball“ in der Antike wurde es auch Zeit für einen neuen Auftritt in etwas angemessener Mode. Lira trug wieder ihre enge schwarz-weiße Hose, die ihre schlanke Figur so superb betonte. Darüber eine weiß-blaue Lederjacke, darunter ein weißes Hemd, über dem eine „Klerikal“ violette Krawatte hing. Sie hatte ihre Haare wieder in Ordnung gebracht; es war die gleiche stylische schwarze Kurzhaarfrisur, die ich schon so hübsch an ihr fand, als ich sie das erste Mal erblickte. Sie hakte sich bei mir unter und wir gingen an die Bar. Im Vorbeigehen an den schwarz glänzenden Musikinstrumenten flüsterte ich André zu:
>Blues, Baby, Blues!<.
>Ja, doch; es ist noch früh am Abend. Nicht so ungeduldig, junger Mann!<.
An der Bar reichte mir Lira eines der Getränke, die ich schon vor unserer Reise so genossen hatte. Es erinnerte mich an Limone und Ingwer. Herrlich prickelnd und Durst löschend. Eine Limonade, die es nur hier so gab. Noch etwas, was ich vermissen würde. So war das bei mir: Erst hatte ich immer wieder Sehnsucht nach meiner gemütlichen Wohnung in Aachen und dann wollte ich doch nicht mehr weg von dem Ort, an dem ich mich befand.
>Bist du dir wirklich sicher mit der Erde?< ich musste Lira jetzt einfach fragen.
>Mit dir, ja!< antwortete sie, ohne zu zögern >Und im Übrigen bin ich genauso neugierig wie du<.
>Aber du wirst deine Arbeit vermissen – und Gondvira< wandte ich ein.
>Gondvira wird mir tatsächlich fehlen, aber auf deiner Welt haben wir ja etwas vor, langweilig wird es nicht<. Sie sprach damit auf unser Vorhaben an, den Multiverser bergen zu wollen.
>Da müssen wir noch einen Plan aushecken< meinte ich.
Das fing an mit Geldbeschaffung für die Reise, für ein Boot etc. und, was entscheidender war: Wir brauchten eine Art Sonde oder Radar, um das Gerät lokalisieren zu können. Hoffentlich besaß der Multiverser überhaupt so eine lange Lebensdauer. Bei dem Kern machte ich mir weniger Sorgen, als um die Ummantelung und die ganze übrige Technik. Immerhin lag das Gerät auf dem Ozeanboden nun schon seit über 3600 Jahren! Aber: War es überhaupt noch da? Vielleicht hatte es ja schon jemand gehoben und das wäre nicht gut, gar nicht gut.
>Lass uns das Thema wechseln!<
Ich musste Lira zustimmen. Wir wollten unsere Wiederkehr feiern und nicht schon jetzt wieder gedanklich auf Reisen gehen. Im richtigen Augenblick betraten die Forscherinnen Relaja und Bel sowie ihr Kollege Ulja den Ballsaal. Ich war überaus begierig, ihre Bekanntschaft zu machen, nachdem ich gehört hatte, was im Nordmeer vorgefallen war. Und darüber hinaus interessierte mich ihre Arbeit einfach: Geologie und Meteorologie hatten mich schon lange Zeit begeistert.
>Ich bin Geomorphologin, keine Geologin!< korrigierte mich Bel >Ich befasse mich in erster Linie mit Strukturen der Erdoberfläche<. Die Frau galt eigentlich als sehr introvertiert und unnahbar, muss aber gestehen, an diesem Abend hatte ich nicht den Eindruck, dass auch nur im Entferntesten etwas dran war an diesem Gerücht.
>Und ich bin Schriftsteller< entgegnete ich >Ich befasse mich in erster Linie mit Geschichten, möglichst außergewöhnlichen Geschichten<.
>Aha<. Und dann kam nichts mehr. Vielleicht stimmten die Gerüchte doch.
Lira tippte mir auf die Schulter und signalisierte mir, dass es Zeit würde, nach den Schallplatten zu sehen. Ich hatte versprochen, einige Reproduktionen irdischer Originale auszusuchen für den Abend. Man hatte tatsächlich eine altmodische Disco-Anlage installiert, worüber ich sehr glücklich war. Tom stand schon bei der Anlage und hatte bei der Verkabelung der Elektroverbindungen mitgeholfen. So ganz geheuer war mir die Geomorphologin nicht und so ging ich zu Tom herüber, um die Musikträger zu inspizieren.
>Hallo Tom!<
>Hallo Paul!<
>Ich sehe mir mal die Platten durch, für den Abend<
>Ja, mach das!<
Ich wurde sehr schnell fündig. Die LP`s waren alphabetisch geordnet, sehr akkurat und die Cover in einem einwandfreien Zustand, als kämen sie geradewegs aus der Fabrik. Unter „O“ stieß ich auf den Multiinstrumentalisten Mike Oldfield mit dem Longplayer „Tubular Bells“.
>Eine ausgezeichnete Wahl!< meinte Tom anerkennend.
Ich legte die Platte zur Seite. Diese Art der Musik ließ mich sofort eine Zeitreise beginnen in die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ich war damals sehr viel unterwegs gewesen, hatte lange Wanderungen unternommen und die Natur genossen. In diesem Zusammenhang bemerkte ich, wie groß mein Verlangen war, wieder durch die Wälder und Gebirgslandschaften meiner Heimatwelt zu marschieren. In den letzten Jahren hatte ich mit meiner Schwester sehr viel unternommen. Wir kamen aus einer Familie, in der alle sehr sportbegeistert waren und die täglichen Leibesertüchtigung waren für uns keine lästige Pflicht, sondern sie bedeuteten eine immense Bereicherung der Lebensqualität. Ich freute mich sehr darauf, mit Angelika erneut an den Bodensee zu fahren in Süddeutschland, wo wir als Kinder schon mit unseren Eltern im Urlaub waren. Die Musik von Mike Oldfield schaffte es immer wieder, mich an die Sehnsuchtsorte meiner Kindheit zu verbringen. Obwohl Tom die Platte noch nicht ans Laufen gebracht hatte, war ich schon ganz weit weg – wieder einmal.
>Nur die eine?< fragte Tom und hielt mir die ausgewählte LP vor die Nase.
>Nein, ich habe ja gerade erst angefangen mit der Suche<. Das würde ein vorzüglicher Abend und eine lange Nacht werden, da war ich mir sicher.
Nachdem ich noch einige weitere Schallplatten ausgewählt hatte, wie „The Rolling Stones – Sticky Fingers“ und „Pink Floyd – The Wall“ begab ich mich wieder zu Lira und den anderen.
André und Dennis hatten ihre Tasteninstrumente inzwischen in den Griff bekommen und die beiden hatten sich über eine Liste diverser Titel, die sie spielen wollten, abgesprochen. Wie schon kurz vor unserer Abreise ins Jura, als wir in Andrés Wohnung waren, begannen die zwei mit einem spritzigen Boogie-Woogie, der wahrlich Stimmung in die Bude brachte. Eigentlich war der Musikstil konzipiert für ein Solo Piano, aber André und Dennis gingen schon immer andere Wege als der Main Stream. Inzwischen begann sich auch der Raum zu füllen: Gondvira war in Begleitung einiger Studenten und auf dem Weg zu uns an die Bar.
>Hallo!< begrüßte uns die Professorin.
Ich nahm mir vor, an diesem Abend eher zu plaudern, als tiefgründige Gespräche über Zeit und die Bedeutung in der Philosophie nachzudenken und zu parlieren. Die letzten Tage waren anstrengend genug und es wurde Zeit für Erholung.
>Schön, dich zu sehen Orestes!<
>Ja, ebenso! Valdur hat bemerkt, dass jemand durch seinen Garten getrampelt ist und war ziemlich stinkig!< meinte Orestes.
>Zum Glück ist der jetzt in Auroville. Aber ich kann vor meiner Abreise das in Ordnung bringen. Ich habe schließlich lange genug als Gärtner gearbeitet<.
Da hatten wir zwei ein Thema, was unverfänglich war und doch überaus reizvoll. Wir sprachen eine ganze Weile über die Ästhetik der Pflanzen im Allgemeinen und dem Duft der Wildrosen im Besonderen. Und dann waren wir schließlich doch wieder im Garten nahe des Parthenon, wo wir Aristoteles getroffen hatten. Ich wollte doch im Hier und Jetzt verweilen, aber es gelang mir nicht.





Der „Rat der Sieben“ auf Arkadia hatte beschlossen, dass sie nichts beschließen, solange keine eindeutige Erklärung von den Anderranern kam. Sub-Kommandantin Jordan hatte schließlich einer Art Repräsentantin des Planeten, die sich Gondvira nannte, einen digitalisierten Vor-Vertrag überreicht, sowie einen Kommunikator.
>Mehr können wir da nicht tun< meinte der Vorsitzende im Rat, und Erik Jordan hatte geantwortet:
>Die brauchen eben so lange! Bis die durch alle Instanzen sind, kann es dauern<.
>Wir müssen Geduld haben< ergänzte seine Frau Laura Jordan und fragte sich, ob das der Mühe wirklich Wert war, die Anderraner mit ins Boot zu holen, um gemeinsam gegen die vermeintliche Bedrohung aus den Tiefen des Alls zu stehen.

Über den Köpfen derer, die im Observatorium von Katenam weilten, entfaltete die Discokugel ihr ganz eigenes Universum: An den Wänden und der Decke glitzerten im Takt zu „Tubular Bells“ die Galaxien der Nachbarschaft, Sonnen fremder Planeten, gigantische Parallelwelten und die Ereignishorizonte Schwarzer Löcher.

Währenddessen waren die Monolithen der fremden Anorganischen aus dem Coma-Virgo-Supergalxienhaufen erneut durch einen Void geschlüpft und überbrückten das nächste Filament mit Kurs auf die Lokale Gruppe und die Pegasus-Galaxie.


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