Der letzte Sapiens - 5. Zeit ist relativ
von Rouven Bronk (spinowachs)

 

5. Kapitel

Zeit ist relativ

>Aufwachen, Sonnenschein!< das konnte nur André sein.
Wir befanden uns an Bord des arkadischen Raumschiffs „Antares“ und waren auf dem Weg zum Rand des Universums, wenn es so etwas wie einen Rand überhaupt jemals gab oder gibt. Unsere ursprünglichen Pläne, auf die Erde zurückzukehren, mussten verschoben werden, weil der Multiverser vom Grund des terranischen Meeresbodens verschwunden war.
Ich war nach meiner Mahlzeit am Tisch in der Messe eingeschlafen, nachdem ich an zwei aufeinanderfolgenden Schichten auf der Brücke des Schiffes gearbeitet hatte. Die Kommandanten Jordan hatten uns Aufgaben zugeteilt, die selbst ausgewiesene Volltrottel hätten verrichten können. Aber immerhin mussten wir nicht irgendwelche Gänge schrubben oder Abluftfilter reinigen. Im Prinzip hatten wir nichts anderes zu tun, als eventuelle Abweichungen von den regulären Betriebsfunktionen sofort dem Kapitän oder seiner Stellvertreterin zu melden. Eine relativ stupide Arbeit war das, dafür ermüdete sie um so mehr. Allerdings hatte man von der Brücke eine hervorragende Sicht in die geheimnisvollen Tiefen des Weltalls. Das Panoramafenster war zwar kein Fenster im herkömmlichen Sinne, sondern lediglich ein Bildschirm, der aber genauestens wiedergab, was sich vor dem Bug des Raumkreuzers so tat. Überdies bestand die Möglichkeit, Bilder heran zu zoomen; das bedeutete, man konnte interessante Himmelskörper aus der Nähe betrachten oder Gefahrenquellen, wie Asteroiden, schneller erkennen und so den Kurs entsprechend anpassen. Nur dieser Sicht aus dem Schiff heraus, war es zu verdanken, dass ich während der Arbeit nicht einschlief.
Dass man uns überhaupt mitgenommen hatte, lag daran, dass wir sozusagen Zeitreisende waren und über eine gewisse Erfahrung im Umgang mit den diversen Problemen verfügten, die diese Form des Reisens mit sich brachte. Zudem hatten wir vor unserer Reise ein dreimonatiges Trainingsprogramm absolvieren müssen, um halbwegs qualifiziert zu sein für den Dienst an Bord eines Raumschiffes. Darüber hinaus, und da war ich mir ziemlich sicher, gab es gewisse Berührungsängste gegenüber den Anderranern von Seiten der Arkadier. Lira und Orestes waren mit von der Partie, weil sie mit ihrem Wissen über astronomische Phänomene den Arkadiern überaus nützlich und hilfreich erschienen. Nicht zuletzt war der Multiverser, den wir finden mussten, ein anderranisches Produkt, auch wenn die ursprünglichen Erbauer die Arkadier waren. Zudem hatten die beiden Jordans auf ihrer Heimatwelt einen gehörigen Einfluss und entstammten einer der führenden Familien, die seit Generationen in der Raumfahrt beschäftigt waren. So war es für sie überhaupt kein Problem, den „Rat der Sieben“ davon zu überzeugen, mit eben genau dieser Besatzung und in dieser Konstellation die Reise zu unternehmen.
>Gut geschlafen?< erkundigte sich André nach meinem Befinden.
>Nicht wirklich< gab ich zu und beschloss, meine Kajüte aufzusuchen.
André begleitete mich auf dem Weg durch die glänzend weißen Korridore. Hin- und wieder wurde die Monotonie in meiner Wahrnehmung unterbrochen durch kleine Robotereinheiten, die an irgendwelchen Schalttafeln Reparatur- und Wartungsarbeiten durchführten. Das Raumschiff der Arkadier hätte auch vollkommen autonom agieren bzw. fliegen können, aber letztlich sollte immer nur ein Mensch Vorort beurteilen, was in seinem Sinne von Bedeutung war und was nicht. Die wirklich wichtigen Entscheidungen wollte man keinesfalls den Maschinen überlassen. Eine sehr vernünftige Entscheidung, wie ich fand.
>Da ist es!<. André war noch fit; ich hätte meine Kajüte glatt übersehen, so müde war ich.
Eine automatische Schiebetür öffnete sich beidseitig und lautlos. Wir betraten den Raum, der überaus großzügig bemessen war und durchaus Platz für mehrere Personen bot.
>Paul!< begrüßte mich Lira, die von einem grell-roten Ohrensessel aufgestanden war und mich umarmte.
>Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht!<.
In der Tat hatte ich einige Nächte nicht wirklich gut geschlafen, war tagsüber fahrig und launisch gewesen. Das ständige Beschäftigtsein mit universellen Herausforderungen war ich einfach nicht gewohnt. Bisher waren wir durch die Vergangenheit gereist, das war das Eine; aber dann hatte sich vor einer Woche dieser ominöse Fremde vom Rand des Universums gemeldet und nun jagten wir der Zukunft entgegen, und das war etwas völlig anderes. Als wir auf dem Monitor in Gondviras astronomischer Station das erste Mal das verschwommene Bild des irdischen Zeitgenossen erblickten, hatte André ihn prompt „Robinson“ getauft. Tatsächlich war unser Robinson in der Zukunft gestrandet, nachdem er sich des Multiversers bei einem Tauchgang im Herbst des Jahres 1924 in der Ägäis bemächtigt hatte. Und nun hatte er mithilfe des Zeitreise-Gerätes, dessen Energieleistung langsam zu Ende ging, Kontakt zu uns aufgenommen. Es war exakt das Gerät, welches bei dem Piratenüberfall über Bord gegangen war, als wir im Konvoi des Apostis über das Mittelmeer segelten. Und nun sollten wir den Multiverser wiederbeschaffen und Robinson nach Hause bringen, um die Schäden am Zeitkontinuum in Ordnung zu bringen. Aber dafür mussten wir eine ungeheuerliche Reise unternehmen, wie sie eigentlich gar nicht möglich schien.
>Das müsst ihr nicht!<.
Ich konnte es nicht leiden, wenn man sich allzu sehr um mich sorgte, schon gar nicht, wenn ich im Blickfeld mehrerer Personen stand. Und nun schauten mich gleich drei Augenpaare an, denn auch Orestes befand sich in meiner Kajüte mit den weißen Wänden und dem weißen Boden. Alles hier war clean und weiß. Und an Bord der „Antares“ gab es keine wirkliche Privatsphäre. Obwohl jeder seine eigene Kajüte besaß, gab es keine Möglichkeit, die Türen zu verriegeln. Für die Arkadier schien das keine Relevanz zu haben. Zudem tickten sie ähnlich wie ihre Brüder und Schwestern von Anderran: Bei aller Individualität - Geheimniskrämerei galt als verpönt. Offenheit und Transparenz wurde nicht nur postuliert, sondern gelebt.
>Da, ein Komet!<
Lira boxte ihre Rechte gegen meinen Oberarm. Das war in letzter Zeit die Art, mir ihre Freundschaft zu signalisieren, was ich gelassen und bisweilen humorvoll hinnahm. Wir schauten gemeinsam durch das Fenster meiner Kajüte: Tatsächlich bewegte sich da draußen ein Himmelskörper, mit einem kilometerlangen Schweif, durch den Weltraum.
>Er rast auf eine Sonne zu< ergänzte Orestes.
Da hatte der Student Recht. Bedingt durch die Anziehungskraft einer Sonne begann der Komet zu rotieren und der Schweif unter Mithilfe des Sonnenwindes, sich in zwei größere Teile aufzuspalten. Je näher der Komet der Sonne kam, umso stärker wurde er erhitzt und die Ausdehnung des Schweifs erhöhte sich. Manchmal stürzte ein solcher Brocken in den Stern oder brach auseinander, wobei dann ein Teil davon der Anziehungskraft der Sonne entkommen konnte und erneut als Komet seine Bahn zog. Manchmal geschah es aber auch , dass ein solches Himmelsobjekt einen Planeten traf, dann konnte es zu ungemein großen Zerstörungen kommen. Im günstigsten Fall aber brachten Kometen die Bausteine des Lebens auf eine sich neu formende Erde, so eine der Theorien über die Evolution von Leben auf dem kleinen blauen Planeten in der Milchstraße. Wir würden später mit der „Antares“ einen ähnlichen Kurs vollziehen, wie der Komet – ein sogenanntes Swing-by-Manöver, um in die Zukunft zu gelangen, aber das wollten uns die Arkadier noch genauer erklären.



In der Messe verschmolzen wir förmlich mit unserer Umgebung. Einzig die roten Sonnen auf den Uniformlitzen bedeuteten Farbtupfer im klinischen Weiß des Schiffes. So steril und monochrom das gesamte Raumschiff konzipiert war, es war auch äußerst praktisch und zweckorientiert konstruiert, aber vor allem wirkte es auf mich überaus organisch. Mir schien es, als wenn wir uns im Inneren eines Seidenraupen Kokon befänden. Allerdings wurden die Tiere, zwecks der Gewinnung des edlen Textils, in kochendes Wasser geworfen und damit auf grausame Weise abgetötet. Hoffentlich waren diese meine Gedanken für den Fortgang der Expedition kein böses Omen.
Anstandshalber – so war mein Eindruck – hatte man uns jeweils einen halben Stern mit drei kleinen gelben Strahlen gegönnt. Erik und Laura Jordan als kommandierende Offiziere hatten die Höchstzahl – sieben Sterne – auf ihren Litzen. Mehr Platz hätte es auf den, wie ich fand, lächerlichen Uniformteilen auch nicht gegeben. Unserer Anzüge waren maßgeschneidert und - wie sollte es anders sein – in einem blendend reinen Weiß gehalten. Zugute halten musste ich den Arkadiern, dass sie in ihren Reihen hervorragende Schneider besaßen. Ich hatte mich noch nie so wohl gefühlt in einem Kleidungsstück, wie in dieser Uniform. Sie war absolut passgenau und selbst bei großer Anstrengung transpirierte ich nicht darin und fror auch nicht. Das traf auch auf die Freizeitkleidung zu, die wir trugen, wenn wir ins Fitnessstudio gingen oder uns in einem der Holografie Studios vergnügten.
>Ich habe eine Mitteilung zu verlesen, die der „Rat der Sieben“ in Zusammenarbeit mit dem Plenum von Anderran verfasst hat< kam Laura Jordan direkt zur Sache.
Neben Orestes, Lira und André waren nur noch die Jordans, der Chefingenieur Bolo Conceptor und die Ärztin Amanda Mueller anwesend. Letztere stammten allesamt vom Mond Arkadia. Mehr Personal befand sich nicht an Bord der „Antares“.
>Der Rat von Arkadia sowie das Plenum von Anderran erweisen allen Beteiligten an dieser Expedition die volle Hochachtung und Ehre<. Subkommandantin Jordan hielt eine Art von Tablet in der Hand und wedelte damit herum, als wäre es ein Blatt Papier. Sie hatte die Worte nicht abgelesen, stattdessen fixierte ihr Blick jeden Einzelnen von uns. Ich vermutete, dass sie sich in der freien Rede übte. Darüber hinaus sollte die Art ihres Vortrags die Bedeutung unserer Reise unterstreichen.
>Sind wir wieder voreingenommen?< flüsterte mir André ins Ohr. Tatsächlich hatte ich ein Problem mit den Arkadiern, zumindest mit denen, die ich bisher kennengelernt hatte. Wie um mich in meiner Voreingenommenheit zu bestätigen, strich sich unsere Bordärztin Amanda Mueller über ihren schwarzen Haarknoten, der die Strenge ihres Gesichtes unterstrich. Niemals würde auch nur einmal ein Lächeln über das versteinerte Antlitz dieser Frau huschen, da war ich mir sicher. Sie war der personifizierte Zerstörer eines jeglichen humoristischen Gedankens!
>Psst!< machte jemand und wir konzentrierten uns wieder auf den Vortrag.
>...wissen wir um die Gefahren, die die Reise mit sich bringt< Laura Jordan las nun doch von dem Tab ab und fuhr fort >Um weitere Störungen im Raumzeit Kontinuum zu verhindern, muss der Fremde zurück in seine Zeit gebracht und der Multiverser anschließend vernichtet werden<. Wenn ich das richtig verstanden hatte, vertrat man die Ansicht, man könne Vorgänge in der Zeit rückgängig machen und so käme alles wieder ins Gleichgewicht. Die Kommandantin las weiter:
>Uns ist bewusst, dass die Möglichkeit besteht, dass sich das Multiversum nach der „Reparatur“ in einen Zustand begibt, den es so zuvor nicht gegeben hat<.
Ich verstand das nur teilweise und würde immer Schwierigkeiten haben, wenn es um Zeitparadoxien ging. Aber wahrscheinlich wäre es so, als wenn wir in einer Art Parallelwelt weiter existieren würden. Ich stellte mir vor, wie ich in meiner Wohnung erwache, und nichts von dem, was bisher geschehen war, war wirklich geschehen. Es würde sein, als hätte jemand den kosmischen Stecker gezogen und dann wieder eingestöpselt. Das Leben ging einfach in einer anderen Realität weiter. Vielleicht würde aber auch alles ganz anders kommen. Die Jordan fuhr fort zu lesen:
>Robinson hat sich 37 Milliarden Jahre durch die Zeit bewegt, in eine Ausdehnung des Alls, wo bereits Galaxien und Sterne beginnen zu zerreißen<. Beim Stichwort Robinson bemerkte ich ein Grinsen in Andrés Gesicht. Man hatte seine Wortschöpfung „Robinson“ offensichtlich übernommen, dabei hieß der Mann Stavros und war ein Grieche, ein verdammt alter Grieche!
>Dann ist Robinson der Verursacher des Verschwindens von Sonnen und Planeten!?< entfuhr es André.
>Zumindest müssen wir davon ausgehen, dass seine Reise erheblichen Einfluss auf das Zeitkontinuum hat< meldete sich der Chefingenieur, der auch ein exzellenter Mathematiker war, zu Wort. Die Mathematiker auf Arkadia waren die Philosophen des Mondes und ein wenig geheimnisvoll. Bolo Conceptor hatte einen dunklen Vollbart, unter dem sein rundes Gesicht kaum zu erkennen war. Eine tief zerfurchte Stirn und die dunkelbraunen Augen unterstrichen eine ausgeprägte Individualität. Ich glaubte in ihm einen äußerst sperrigen Charakter zu erkennen, der es niemandem einfach machen würde, in eine verbale Auseinandersetzung mit ihm zu treten.
>Darf ich fortfahren?< Die Kommandantin war nicht amüsiert über die Unterbrechung und ihr Ehemann intervenierte:
>Ich möchte sie bitten, eventuelle Fragen, nach Verlesung der Botschaft zu stellen<. Erik Jordan wandte sich an seine Frau:
>Subkommandantin Jordan – bitte fahren sie fort!<. Das strenge Reglement der arkadischen Gesellschaftsordnung brachte Orestes dazu, den Kopf zu schütteln, leicht und eher unmerklich, aber ich hatte es beobachtet. Zu seinem Unverständnis gesellten sich ein paar Schweißperlen auf seiner jugendlichen Stirn. Diesmal war es nicht die unerbittlich strahlende Sonne der Antike, die ihm zu schaffen machte, sondern die strikt hierarchische Einteilung einer Gesellschaft von „oben nach unten“. Dennoch war Orestes von einer unglaublichen Ausdauer und Neugierde beseelt, wie ich es bei sonst niemandem je beobachtet hatte. Ich war immer wieder auf´s Neue erstaunt über diesen Studenten. Er hätte locker Zuhause bleiben und weiter seine Studien betreiben können, aber stattdessen zog er in ein Abenteuer, dessen Verlauf und Ende völlig offen war und das bei einer Konstitution, die ich eher als labil bezeichnen würde.
Laura Jordan fuhr fort mit ihrer Rede, während die Augen angestrengt das Display des Tablets absuchten nach den richtigen Zeilen. Mit der freien Rede würde das heute nichts mehr geben, dachte ich, nicht ganz ohne Schadenfreude.
>...zu verflüchtigen. Eine weitere Eskalation der Situation kann nur erreicht werden, wenn die Zeitlinien nicht weiter auseinanderstreben. Alle relevanten Reisedaten befinden sich an Bord der „Antares“ und werden mit der Besatzung besprochen<.
Es folgten noch eine Reihe von Solidaritätsbekundungen im Kampf gegen die Zeitparadoxien sowie im gemeinsamen Auftreten gegen die Gefahr aus dem Coma-Virgo Supergalaxienhaufen in Form der drei Raumschiffe, die auf die Pegasus Galaxie zusteuerten. Dann beschloss Frau Jordan ihren Vortrag mit den Worten:
>Schauen wir uns gemeinsam den Weg, den wir vor uns haben, auf dem Strategie Board an – wenn keine weiteren Fragen mehr anstehen<.
>Wieso unternehmen wir die Reise nicht per Multiverser, wäre das nicht einfacher, als mit dem Raumschiff?< wollte mein Freund von den Jordans wissen.
>Eine durchaus berechtigte Frage, zumal noch zwei dieser Geräte im Besitz der Anderraner sind< Kommandant Jordan bedachte Lira und Orestes als einzige anderranische Besatzungsmitglieder mit leicht abschätzigem Blick und fuhr fort:
>Nur ist es so, dass jeder weitere Gebrauch dieser Geräte ungeahnte Folgen für das Multiversum haben kann und wir daher die Reise mit einem Raumschiff bevorzugen. Ist damit ihre Frage hinreichend beantwortet, Fähnrich André?<. Mein Freund bejahte und hakte auch nicht weiter nach.
Orestes wischte sich mit einem fliederfarbenen Taschentuch die Stirn trocken und Lira deutete fragend auf meine Kette, die ich um den Hals trug. Es war das Teil, welches sie mir vor unserer Reise nach Kreta geschenkt hatte: Das Medaillon des stilisierten Buchstabens „A“ mit einem Kreis darum. Anstelle des Geschenks hatte ich damals jenen unglaublichen keltischen Ring getragen, der mir mit seinen scharfen Kanten glatt den Hals abrasiert hatte. Doch im Dienst an Bord der „Antares“ trug ich die Kette diskret versteckt unter dem Shirt der arkadischen Uniform.
>Ich habe auch ein Geschenk für dich!< meinte ich zu Lira.
>Da bin ich mal gespannt< antwortete sie.
>Ich gebe es dir nach der Lagebesprechung<.
>Ja, gut. Ich freue mich schon!<.
In meiner Kajüte hatte ich etwas vorbereitet. Lira hatte nämlich Geburtstag. Der wurde zwar auf Anderran nicht gefeiert, aber ich hatte beschlossen, eine Ausnahme zu machen in dieser Angelegenheit. Es war sehr schwer gewesen, das genaue Datum ihrer Geburt zu erfahren. Niemand aus ihrem Bekanntenkreis kannte es oder er wollte einfach nicht damit herausrücken. In der anderranischen Datenbank war ich schließlich fündig geworden: Nach irdischer Zeitrechnung wäre sie genau 30 Jahre alt. Da war unser Robinson mit seinen 37 Milliarden Jahren entschieden älter, dachte ich. „Der Letzte Sapiens“, sinnierte ich weiter, André kam also doch noch zu seiner Suche nach ihm, entgegen der Prognose des Philosophen Schoonas.
>Das ist die Sonne, die auf unserem Kurs liegt<
Kommandant Jordan hielt einen Zeigestock in der Hand. Wie altertümlich, dachte ich. In einer Welt der Hochleistungscomputer und Zeitreisen vollzog nun ein hölzerner Stock einen Bogen um eine gelbe Sonne, die mit einem gewöhnlichen Filzschreiber, ziemlich ungelenk, auf eine gläserne Scheibe gemalt worden war. Es war das Strategie Board, eine Art Tafel, auf der taktische Szenarien demonstriert werden konnten, aber für meinen Geschmack überhaupt nicht in diese Zeit und schon gar nicht in den Bereich der Brücke gehörten. Vielleicht waren ja die Arkadier hoffnungslose Romantiker, die einer Zeit nachtrauerten, als noch Kreidestücke quietschend und markerschütternd über alte Schiefertafeln fuhren und die Schüler sich erfolglos die Ohren zuhielten – sie bekamen garantiert eine Gänsehaut.
>Weil der Raum gekrümmt ist, nehmen wir für ganz kurze Zeit die Position eines Satelliten ein mit unserem Raumschiff, dann beschleunigen wir und sssttt - hier, und verlassen dort, am „point of no return“, wieder den Orbit der Sonne. Das ist ein ganz altes Manöver, welches angewandt wird, um ein Schiff zusätzlich zu beschleunigen<. Erik übergab Laura Jordan den Stock und sie vollendete die Erklärungen an der Schautafel mit den Worten:
>Der große Unterschied zu den prähistorischen Manövern ist der, dass wir über wesentlich mehr Potenzial bei der Geschwindigkeit verfügen. Das Geheimnis der Zeitreise in die Zukunft erschließt sich aus der genauen mathematischen Berechnung zwischen Eintritts- und Austrittswinkel, Geschwindigkeit des Schiffes, Rotation der Sonne bzw. der Rotation eines Schwarzen Lochs und der Gravitation<. Bei den Erklärungen der Jordan bekam der arkadische Mathematiker glühende Augen, sogar seine blasse Haut wurde allmählich rötlich. Lange würde er sich nicht mehr zurückhalten können und genau so war es:
>Darf ich< unterbrach er die Subkommandantin und nahm ihr relativ unsanft den Stock aus der Hand, um anschließend auf einen dunklen schwarzen Punkt auf dem Board zu zeigen >Es ist das Privileg des Alters< entschuldigte er sich >Hier, hier befindet sich der Ereignishorizont des Schwarzen Lochs. Wenn wir auch nur ein Jota abweichen vom vorgegeben Kurs, dann reißt es uns in Stücke!
Gelingen wird uns das Manöver nur, wenn die Berechnung absolut einwandfrei ist und jede nur denkbare Störung und Beeinflussung des Kurses mit einkalkuliert oder sie aus der Rechnung eliminiert ist<.
Der Mann gefiel mir! Ich hatte einen neuen Freund an Bord der „Antares“. Wie er sich gegen die Hackordnung stellte, imponierte mir und stimmte mich wahrlich heiter. Lira hatte meine Wandlung im Gemüt bemerkt und wusste Bescheid. Auch sie war froh, unter der Besatzung der Arkadier jemanden zu wissen, der sich den strengen Regeln der Macht widersetzte.
Hier waren wir die Subversiven; nur würden wir so schnell keine Meuterei anzetteln, so wie es auf Anderran der Mörder Zolan getan hatte oder seine Gefolgsleute Assagog und Malekko.
>Wie oft müssen wir dieses Manöver vollziehen?< wollte Lira von unserem Mathematiker und Chefingenieur wissen.
>Auf dem Hinflug nach Planet X: Um drei Sonnen und ein Schwarzes Loch – für den Rückflug müssen wir wohl mit dem gleichen Szenario rechnen< gab unser Mathe Ass unumwunden zu >Ich muss gestehen: Unsere Chancen, heil zurückzukommen stehen allenfalls fifty-fifty<.
Wenn die Akustik zuvor im Raum als äußerst ruhig zu bezeichnen gewesen wäre, dann wich sie nun einer Totenstille.
>Ein Himmelfahrtskommando!< seufzte André.
>Da standen unsere Chancen in der Ägäis besser< ergänzte ich.
>Na, na, na, wer wird denn gleich Trübsal blasen!< schaltete sich Orestes ein. Ausgerechnet der junge Student mit den Schweißperlen auf der Stirn begann uns aufzumuntern.
>Ich werde meine Schwester mal fragen, wenn wir wieder daheim sind, die kennt bestimmt ein Mittel gegen deine Transpiration< konterte ich Orestes` Versuch der Aufmunterung.
>Lesalee ist damit schon gescheitert, ich glaube nicht…<.
Das deutlich vernehmbare Stakkato eines hochfrequenten Alarmsignals durchdrang das Schiff und versetzte sofort alle in große Aufregung.




Aus dem Gedächtnisprotokoll von Tom Hazard – Letzte Eintragungen
Wir befanden uns auf dem Weg zum Hangar 5 und waren bereit für den Abflug nach Auroville. In der Hauptstadt waren die letzten zwei Multiverser deponiert, mittels derer ausgeklügelten Technik wir letztmalig zwischen den Welten wechseln würden. Mit ein wenig Glück bekäme ich zuvor noch ein paar nützliche Tipps für meine Arbeit als Privatdetektiv. Ich hatte den Abbot-Auftrag nicht vergessen. Er würde mir ein paar Tausend Dollar in die Kasse spülen, wenn ich die Sache gut zum Abschluss brächte. Ich musste einfach an meine Zukunft denken, auch wenn das im Zusammenhang mit den Zeitparadoxien und einem möglichen Ende des Multiversums lächerlich erschien.
>Alles dabei: Zahnbürste, Rasierschaum, etc.?< Dennis war ebenso froh wie ich, dass wir uns auf die Heimreise machten. Valdur schüttelte mir zum Abschied die Hand und Gondvira umarmte mich, wo ich nichts gegen hatte. Dieser Kalfaktor mit den langen Haaren hingegen erinnerte mich an einen hinterlistigen Pavian mit seiner hölzernen Kette um den Hals und den ollen Hippie-Klamotten. Ich traute dem Kerl nicht über den Weg und war mir fast sicher, dass die Anarchos ein Kuckucksei in ihrem Nest hatten. Mit Korruption und Verrat musste man gerade im Sumpf der Politik immer rechnen. Ich hielt mich allerdings zurück mit Äußerungen hinsichtlich meiner Vermutungen. Solange gegen den Mann keine konkreten Verdachtsmomente vorlagen, konnte man da nichts machen. Außerdem hatte ich schon genug für den Planeten und seine Bewohner riskiert. Es wurde einfach Zeit, meinen alten Job wieder aufzunehmen.
Als wir im Solarflieger Platz genommen hatten – es war das gleiche Modell, mit dem wir schon einmal geflogen waren, als Valdur uns nach Katenam begleitete – warf ich das letzte Mal einen Blick auf das Observatorium. Ob wohl alles gut gehen würde bei der Mission meines „Parallelwelt Ichs“? Ich wusste es nicht, aber hatte größten Respekt vor Paul.
Warum er das machte, wusste ich genauso wenig, es entschloss sich mir einfach nicht. Paul würde sagen „Jenseits des Geldes gibt es auch noch etwas“ oder so ähnlich. Klar, worauf er anspielte. Paul war Idealist, darum verstand er sich so gut mit den Anderranern. Und er fand den Anarchismus richtig klasse. Ich dagegen würde nie meine Freiheit eintauschen gegen eine so verschwommene Ideologie, wie die Anarchie eine war. Für mich ging das amerikanische Konzept von Geben und Nehmen voll auf. Das hatte gar nichts mit Kapitalismus zu tun, sondern mit harter ehrlicher Arbeit.
>So ein vergurkter Typ!< schimpfte Dennis, als gerade die Ladeluke geschlossen wurde.
>Wie?< fragte ich nach.
>Valdur, dieser Valdur< ergänzte Dennis.
>Ja, natürlich. Dem würde ich nicht einmal einen Scotch anbieten<. Scotch war das Letzte, eher würde ich aufhören zu trinken, als dieses Zeugs zu saufen. Es ging nichts über einen guten alten Tennessee Bourbon, im Holzfass gereift und einige Jahre gelagert.
Erst die gute amerikanische Eiche gab ihm das einzigartige und rauchige Aroma, das an die Freiheit in der Prärie erinnerte. Ich sehnte mich nach einem guten Schluck aus einem meiner Kristallgläser. Anne würde nicht begeistert sein, dachte ich, sie hasste Whiskey und trank lieber Cuba Libre in den Florida Keys. Sie bezeichnete das als „Die Leichtigkeit des Seins“, wenn sie die Flüssigkeit in ihrem Glas hin und her schwenkte und ihr dabei die unerbittliche Sonne einen Flächenbrand auf der weißen Haut entfachte.
>Aber das soll uns nicht mehr kümmern< meinte ich zu Dennis >Wenn wir wieder in den Staaten sind, dann kommst du mit mir und Anne und wir fliegen nach Florida – wir machen Urlaub, Juchee!<. Ich war entzückt. Dennis weniger, denn der schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren, als ich ihm meine Linke entgegen reckte „Juchee!“.
>Was guckst du so, ich dachte, du würdest dich freuen?!<.
>Ich bin nur...sagen wir, etwas überrascht. Lass mir ein wenig Zeit. Ich muss darüber nachdenken<. Dennis öffnete seinen Rucksack und zog dann den Reißverschluss wieder zu. Er schien nervös zu sein.
>Ruhig Blut, mein Junge, wird schon alles gut werden!< versuchte ich mein Bestes, Dennis` Psyche wieder zu stabilisieren. Ich wusste, was in ihm vorging. Die Präsenz seiner Sucht war ihm wieder gegenwärtig geworden. Sie hämmerte und drosch auf seinen Schädel ein, brachte ihn ins Wanken und verunsicherte ihn zutiefst. In den vergangenen Tagen war er so sehr beschäftigt gewesen mit der Rettung des Universums oder was auch immer, sodass er die Drogen fast vergessen hatte, aber eben nur fast!
Als wir erfolgreich gestartet waren in Katenam und uns endlich in der Luft befanden, schaute ich erneut durch das Fenster des Fliegers und besah den Mond von Anderran. Der zeigte erstmalig sein wahres Gesicht: Ein grün-bläulich schimmerndes Juwel im Orbit des Planeten Anderran. Wo zuvor über Generationen hinweg das Trugbild einer obskuren und toten Kugel den Bewohnern eines Planeten ein völlig falsches Geschichtsbild ablieferte, prangte nun die Perle eines ungeahnten Paradieses über den Häuptern einer Welt, die sich in einem erneuten Umbruch befand.

>Niemand hat die Absicht, Zeitreisen zu verbieten! Denn jeder Einzelne macht seine ganz persönliche Zeitreise – von der Geburt an, bis zu seinem Ableben< sprach der weise Leartas.
Ich hatte diese Antwort nicht erwartet, als ich von einem „anderranischen Dilemma“ gesprochen hatte, wenn die Bewohner dieser Welt nicht mehr über die Technologie der Zeitreisen verfügen würden. Wir waren inzwischen in Auroville und befanden uns in der Wohnung des Philosophen Leartas. Zugegen waren außerdem: Die kluge und etwas ungestüme Torolei, der baumlange Ortas mit seiner aparten Freundin Lesalee sowie mein Kumpel Dennis. Nicht mehr lange und ich würde wieder in meinem Büro stehen, aus dem Fenster schauen, hinunter in eine Straßenschlucht, in der die Menschen wie Ameisen umherliefen und wo die mit fossilen Brennstoffen betriebenen Blechkutschen die Atmosphäre vergifteten. Ich liebte das Leben in der Stadt! Und dennoch würde ich ein wenig diese Anderraner vermissen. Die, die ich kennen gelernt hatte, waren durchaus ehrenwerte Leute, mit Ausnahme derer, die die Macht an sich anreißen wollten. Sollten doch Malekko und seine Schergen in der Hölle schmoren, ihnen würde ich keine Träne nachweinen.
>Ihr wollt uns also wieder verlassen< meinte Torolei, nicht ohne Bedauern in der Stimme >Ich persönlich finde das schade. Männer wie ihr könnten wir im Kampf gegen die Subversion noch brauchen<. Torolei und Lesalee waren diejenigen, die sich vehement für meinen Einsatz gegen die Umstürzler stark gemacht hatten in den diversen Plena. Nicht alle Anderraner waren begeistert davon, dass Fremde von einem anderen Planeten, sich in ihrer Welt aufhielten und sich dann auch noch in deren innere Angelegenheiten einmischten. Man muss sich das einmal vorstellen: Aliens aus einer anderen Galaxie würden auf der Erde als US-amerikanische Freiheitskämpfer im Krieg gegen den „Islamischen Staat“ kämpfen?!
>Wir müssen die Souveränität aller Beteiligten achten – ich respektiere euren Wunsch, nach Terra zurückzukehren< wen Leartas genau meinte mit „allen Beteiligten“ wusste ich nicht und fragte auch nicht mehr nach. Aber offenkundig war, dass er eine Auseinandersetzung um das Thema Rassismus scheute. Und klar war mir auch, dass die anderranische Welt schon genügend Probleme an der Backe hatte, da konnte man auf eine – wenn auch bescheidene Anzahl Fremder von einem anderen Planeten - gerne verzichten, denn die würden die ohnehin schon aufgeheizte Atmosphäre nur noch zusätzlich belasten. Das war es, was Leartas uns sagen wollte, wenn auch sehr reduziert und verhalten.
>Leartas wird euch begleiten< Ortas überreichte dem Philosophen einen der Multiverser, den dieser auch prompt in die Hand nahm, um ihn mit den entsprechenden Zielkoordinaten zu programmieren. Man konnte spüren, dass Ortas nicht wohl war in seiner Haut, denn offensichtlich war er aufgrund seiner Eigenmächtigkeiten im Umgang mit den Multiversern von weiteren Zeitreiseaktivitäten ausgeschlossen worden und war nun dazu verdammt, eine Statistenrolle zu übernehmen. Lesalee nahm ihren Freund bei der Hand, drückte diese, um ihm zu signalisieren, dass alles nicht so schlimm sei, die Epoche der Zeitreisen nun ohnehin ein Ende haben würde. Wie zur Bestätigung meiner Einschätzung meinte dann auch Torolei:
>Tja, das war es dann wohl: Genießen wir den Augenblick!<.
Wir nahmen Abschied voneinander, nicht ohne uns der Solidarität zu versichern, falls wir in unseren Welten in Schwierigkeiten geraten würden und die Hilfe der anderen brauchen könnten. Wie das geschehen sollte, verriet uns dann auch zum Abschluss Ortas Freundin:
>Unsere neuen Freunde, die Arkadier, werden bestimmt nichts dagegen haben, uns für einen Blitzbesuch auf einem ihrer Raumschiffe zur Erde mitzunehmen<.
>Ich muss dich leider enttäuschen, Lesalee, ich glaube nicht, dass man auf der Erde schon bereit ist für außerirdische Kontakte und außerdem: Wie sollten wir Kontakt aufnehmen?!< erwiderte ich sehr nüchtern. Uns war allen klar, dass Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander lagen und so beließen wir es bei allgemeinen Bekundungen der Freundschaft. Nach der Betätigung der letzten Eingabe auf dem Multiverser öffnete sich für uns die Schleuse nach Amerika und mein Büro war am Ende des Tunnels zu sehen sowie ein Fenster mit der Aufschrift „Tom Hazard – Private Investigation“.
Auf der anderen Seite betraten wir meine Welt in Oakland: Die Räumlichkeit hatte sich seit meiner Abreise nicht verändert. Auf dem Kühlschrank nahe bei der Bürotür stand noch eine halbe Flasche Bourbon, so wie ich sie dort abgestellt hatte, bevor ich zu Dennis in die Entziehungsanstalt der „Heiligen Brüder vom St. Jakob“ gestartet war.
>Alles in Ordnung?< erkundigte sich der anderranische Philosoph sofort, als wir mein Büro betreten hatten. Dennis und ich schauten uns um: Es war immer noch unerträglich heiß.
>Alles perfekt, bis auf die Hitze< meinte ich zu Leartas, der nickte, und machte sich ohne Umschweife daran, den Weg zurück in den Tunnel anzutreten. Ich wusste, dass der Philosoph nicht im Geringsten daran dachte, in unserer Welt länger als nötig zu verweilen. Es ging lediglich darum, sich zu vergewissern, dass wir wieder in unserer Zeit und am richtigen Ort angekommen waren.
>Mach`s gut, alter Knabe!< ich hob die Hand zum Abschied. Leartas nickte würdevoll, schritt zurück durch die Pforte der Zeit und kurz darauf schloss sie sich für immer. Ziemlich unspektakulär verlaufen das Ganze, dachte ich bei mir.
>Ha!< meinte ich, besah die Flasche Tennessee Bourbon, war hervorragend gelaunt und das trotz oder gerade wegen der Hitze. Ich genoss es, wieder Zuhause zu sein. Sofort machte ich mich daran, ein paar Eiswürfel in mein Kristallglas zu verfrachten und den Bourbon darüber zu verteilen.
>Das war es also!< und goss in einem Zug mir die herrliche Flüssigkeit hinter die Binde.
Weil Dennis ein Problem mit Alkohol hatte, verzichtete ich darauf, ihm ebenfalls von dem Whiskey anzubieten. Doch eh ich mich versehen hatte, hatte der sich schon selber bedient und schüttete sich einen Doppelten in ein altes Senfglas ohne Eis, und stürzte es ebenfalls in einem Zug herunter.
>Nicht, dass ich dich gleich wieder ins Krankenhaus fahren muss< meinte ich zu meinem Freund und hoffte, dass dies keine Prophezeiung sein möge. Wir traten beide an das Fenster, wo unten das gleiche Gewusel auf der Straße herrschte, wie immer.
>Vielleicht schreibe ich ja eine Geschichte über unser Abenteuer< meinte Dennis und goss sich noch einen Bourbon ein.
>Mach das!< antworte ich >Jedenfalls besser, als sich den Drogen zu ergeben<.




Auf der „Antares“ hatte jemand den schmerzlich durchdringenden Alarmton abgestellt, dafür vollzogen wir nun einen schwerelosen Tanz durch den Raum der Brücke. Die künstliche Gravitation innerhalb des Schiffes hatte ihren Dienst eingestellt. Ich war jetzt zwei Meter über dem Boden, nahe bei dem Mathematiker Bolo Conceptor, nahm ihn bei den wurstigen Händen, um der Schwerelosigkeit mehr Gewicht entgegen zu setzen. Das hatte zwar keinen Sinn, aber ich wollte den Mann sowieso etwas fragen:
>Wieso habe ich da so ein Gefühl, dass das nicht klappt mit ihren Plänen, die sie eben an der Tafel demonstriert haben?!<.
>Ich verstehe nicht< antwortete Bolo, der sehr wohl verstand.
Wir trieben inzwischen kopfüber in Richtung Bildschirm in Front des Schiffes, wo sich auch Lira befand, die mit der Wiedergabe des vor uns liegenden Weltraums verschmolzen schien. Sie befand sich irgendwo zwischen dem Schweif des Kometen, den wir zuvor noch von meiner Kajüte aus beobachtet hatten und einem unbekannten Sternbild westlich davon.
>Ich meine, die Sprünge reichen nicht aus, um 37 Milliarden Jahre in die Zukunft zu reisen< brachte ich es auf den Punkt.
>Genau genommen sind es nicht so viele, abzüglich der 14, 6 Milliarden Jahre, die unser All bereits besteht. Aber - sie haben Recht!<.
Wusste ich es doch: Die Arkadier hatten uns etwas verschwiegen. Bei aller Transparenz und Offenheit, diese Tugenden galten wohl nur innerhalb ihres Volkes.
>Ich war von Anfang an dafür, sie einzuweihen, aber die Jordans waren dagegen< erklärte der Mathematiker und Chefingenieur.
Wir machten eine weitere Drehung durch den Raum und trieben gefährlich nahe an einer Steuereinheit vorbei, die für das Schiff essentiell von Bedeutung war.
>Verdammt noch mal, stell doch mal jemand die Gravitation wieder ein!< schimpfte eine weibliche Stimme.
Es war die Ärztin Amanda Mueller, die inzwischen durch die Tür trieb und die Brücke verließ, da halfen auch keine Ruderversuche mit den Armen. Ich musste grinsen, als ich sah, wie erfolglos die Frau sich gegen die Elemente des Alls zu wehren versuchte.
>Die Jordans meinten, sie könnten die Wahrheit nicht verkraften. Wir müssen nämlich durch ein Schwarzes Loch hindurch, um so weit wie möglich in die Zukunft zu gelangen. Berechnungen hierfür sind das Eine, aber das Andere ist die Praxis< fuhr Bolo mit seinen Erklärungen fort >Ich bin erstaunt, wirklich erstaunt, dass ihnen aufgefallen ist, dass etwas nicht stimmte an dem Board<.
>Tja< antwortete ich >vielleicht sind wir von der Erde gar nicht so unbedarft, wie sie meinen<. Dann vernahmen wir über Lautsprecher die Stimme von Laura Jordan:
>Bitte alle Mann irgendwo festhalten! Die Gravitation wird nun wieder aktiviert!<.
>Halt, noch nicht!< schrie Lira, die immer noch vor dem Bildschirm dahintrieb.
>Die werden doch nicht…< Bolo und ich hielten uns nach wie vor an den Händen, wie zwei Fallschirmspringer, deren Schirme sich nicht richtig öffnen ließen.
>Doch, die werden!< antwortete der Mathematiker.
Und schon kam uns der Boden schnell näher. Die Gravitation begann sich wieder zu stabilisieren, nicht so schnell wie ich befürchtet hatte - sonst wären wir alle erbärmlich abgestürzt - und hätten uns nicht unerhebliche Verletzungen beim Sturz auf die Erde zugezogen - aber es war auch so eine schmerzhafte Angelegenheit.
>Aua, Aua!< Lira hatte sich an einem der Handläufe unterhalb des großen Bildschirms gestoßen.
>Aua, Aua!!< hörte man allenthalben auf der Brücke.
Doch schließlich lagen, knieten oder standen wir bereits wieder auf den Füßen. Ich löste mich von dem dicken Bolo Conceptor, dessen kleiner Schmerbauch über den Gürtel der Hose gehüpft war, nachdem die Gravitation wieder ihre volle Wirkung erzielt hatte.
>Hat mich gefreut, ihre Bekanntschaft zu machen, Bolo!<.
>Gleichfalls, Paul, von der Erde!<. André war schon bei Lira, als ich sie unterhalb des Schiffsmonitors erreichte.
>Alles okay – nichts gebrochen?< ich strich mit meinen Händen über ihre Beine, Schultern, Arme und den Kopf.
>Alles gut, vielleicht gibt das ein paar blaue Flecken, mehr nicht<.
Orestes und Laura Jordan waren durch die Tür nach draußen in den Korridor getrieben worden und betraten nun wieder die Brücke.
>Was war das?< wollte ich von der Subkommandantin erfahren.
>Das wissen wir noch nicht. Wahrscheinlich die Auswirkungen des Schwarzen Lochs vor uns<.
Sie deutete auf den Bildschirm. Tatsächlich bewegten sich um eine geheimnisvolle, erahnte tiefe Dunkelheit, die Lichtstrahlen entfernter Sonnen; die Photonen intergalaktischer Sterne krümmten sich in der ungeheuren Wucht und Stärke der Anziehungskraft eines super massereichen Schwarzen Lochs, welches vor uns lag. Das würde unser erste mathematisch-physikalische Bezugspunkt sein für den Sprung in die Zukunft – da war ich mir jetzt sicher. Die Sprünge, die uns die Jordans und der Chefingenieur an dem Board demonstriert hatten, entsprachen tatsächlich unserem Reisevorhaben, aber den weitaus größten Sprung in der Zeit würden wir über die Reise durch ein Schwarzes Loch machen; dagegen waren die Swing-by-Manöver eher Feinjustierungen im Getriebe der Raumzeit.
In einer der Wandhalterungen hatte ein Raumschiffsmodell gehangen, bevor es zu Boden gestürzt war. Ich hob es auf und besah es mir genauer: Es schien das detailgetreue Abbild der „Antares“ zu sein. So hatte ich es mir nicht vorgestellt. Statt kreisrund, war das Schiff eher elliptisch geformt und ähnelte einer langgezogenen Linse, sehr aerodynamisch und windschnittig, was im Vakuum des Alls absolut keinen Sinn machte, aber schön anzusehen war. Das alles passte zum Design des Inneren und entsprach meinem ästhetischen Empfinden von Schönheit und Eleganz. Ich fuhr mit den Fingern über die glatte Struktur des Modells, wobei im vorderen Bereich eine kleine Wölbung zu erkennen war: Das war der Kommandoraum, also die Brücke, auf der wir uns befanden. Ich war so entzückt von diesem kleinen silberfarbenen Modell, dass ich für einen kurzen Moment um mich herum gar nichts mehr wahrgenommen hatte.
>Es scheint ihnen zu gefallen< meinte Laura Jordan, die erneut an mich herangetreten war.
>Ja, sehr!<. Ich überreichte der Subkommandantin das unversehrte Modell, die es sogleich mit ihren grazilen schlanken Fingern in die Halterung zurück beförderte. Das Modell des Schiffes war das einzige Objekt an Bord, welches offenkundig keinen besonderen Nutzen hatte und dennoch zur Schau gestellt wurde.
>Ihr Chefingenieur hat mich aufgeklärt über den nächsten Sprung mittels Reise durch ein Schwarzes Loch. Konventionelle Swing-by-Manöver reichen offensichtlich nicht aus für unser Vorhaben< stellte ich die Jordan zur Rede.
>Tut mir Leid. Wir wollten sie keinesfalls brüskieren. Aber sie sind nun mal keine Raumfahrer, sie von der Erde< lies die Subkommandantin – wie ich empfand - ziemlich abschätzend verlautbaren.
>Wir hätten sie aber zu gegebenen Zeitpunkt eingeweiht über den weiteren Verlauf unserer Reise. Im übrigen schlage ich sie für eine Beförderung vor, Fähnrich Paul<.
Da war ich nun ziemlich baff, kam aber nicht mehr dazu, mir über die Belobigung weitere Gedanken zu machen.
>Alles auf die Plätze – Kapitän auf der Brücke!< versuchte sich Bolo in einem Kommandoton. Wir taten wie befohlen, als Erik Jordan den Raum betrat, den offensichtlich die fehlende Gravitation ebenfalls aus dem Brückenraum herausgetrieben hatte. Mein Platz war mit Lira zusammen vorne im Bereich der Brücke; dort blinkte immer noch ein Licht, was die Störung der Gravitation anzeigte, ich schaltete es aus; dann nahm ich Platz, wobei Lira hinter mir stand und über meine Schulter schaute. André saß an Steuerbord zusammen mit Orestes und bediente die Langstreckenscanner.
Im hinteren Bereich der Brücke befand sich das technische Equipment, welches von Bolo Conceptor bedient wurde. Erik Jordan saß auf einer Empore in einem voluminösen schwarzen Sessel, der sich deutlich abhob vom strahlenden Weiß des Innenraums. Wenn er nach steuerbord sah, hatte er direkten Blickkontakt zu seinem Chefingenieur, backbord von ihm saß seine Frau als erster Offizier der „Antares“ und hatte die Aufgabe, dem Kapitän Vorschläge zu unterbreiten bei schwierigen Situationen. Bei einem Ausfall ihres Mannes übernahm sie automatisch die Funktion des Schiffsführers.
Inzwischen war es still geworden an Bord des Schiffes und auf dem Bildschirm war in der Ferne ein undefinierbarer heller Punkt zu erkennen, der sich aber klar und deutlich durch seine Bewegung abhob von den Sternen, die allenthalben das Panorama erfüllten.
>Fähnrich André – vergrößern sie das Bild auf 20!< mein Freund tat wie befohlen und zoomte den hellen Bildpunkt mit seinen Scannern heran.
Da waren sie also: Die Fremden in ihrem Monolith, von denen wir schon gehört hatten. Die Arkadier vermuteten, dass das die Fremden sein mussten, die hinter dem Stoff her waren, aus dem die Multiverser bestanden. Andere meinten auch, die Arkadier wären habgierige Diebe gewesen und hätten auf einem der Planeten der Fremden illegal das Erz abgebaut, ohne das die Multiverser niemals funktioniert hätten. Wie dem auch sei: Vor uns befanden sich die, vor denen Arkadia einen gehörigen Bammel hatte. Für meinen Geschmack konnten wir uns nun der fremden Gefahr stellen oder direkt auf das vor uns liegende Schwarze Loch zusteuern – für was würde sich der Kapitän entscheiden? Da war ich jetzt wirklich gespannt.
>Zustand des Schiffs – Bolo?< erkundigte sich Kapitän Jordan beim Chefingenieur, der zugleich auch der Steuermann war.
>Alles bestens – Kapitän!<.
>Ich empfehle, Kurs auf das Schwarze Loch< meinte die Subkommandantin.
>Das wird das Beste sein. Wir sind ein Langstreckenaufklärer und kein Kampfschiff. Zudem haben wir den einen klaren Auftrag und der heißt?< Erik Jordan sah zu seiner Frau hinüber nach Backbord und die antwortete recht leise, aber bestimmt:
>An den Rand des Universums zu fliegen, um den Letzten Sapiens und Multiverser nach Hause zu bringen – mon cher!<.
>Richtig! - Chefingenieur Conceptor, mit halber Kraft auf das Schwarze Loch!<.
>Jawohl, Kapitän!< Bolo tat wie geheißen; seine dicken Finger glitten über ein buntes Schaltbild und berührten die „5“. Wir nahmen wieder Fahrt auf, nachdem wir bei dem Zwischenfall mit dem Zusammenbruch des Gravitationsfeldes stillgestanden hatten im Weltraum.
Die Konsole an der ich saß war die eigentliche Steuereinheit des Schiffes, aber natürlich traute man einem Menschen von der Erde nicht zu, den Job eines Steuermanns an Bord eines Raumschiffs zu übernehmen. Das wäre ungeheuer anmaßend, aber vielleicht würde meine Zeit noch kommen, dachte ich. Inzwischen hatte Lira neben mir Platz genommen und überprüfte die Umweltsysteme des Schiffes. Eine verdammt wichtige Aufgabe, wie ich fand; sollten einmal die Systeme komplett ausfallen, wären wir geliefert, würden allenfalls noch die kleinen Robotereinheiten das Schiff nach Hause fliegen können – mit einer toten Mannschaft an Bord. Ich vertraute Lira über alle Maßen; sie war die Richtige für den Job.
>Das Schiff beschleunigt auf Card 6,7,8...Geschwindigkeit weiter zunehmend< Bolo Conceptor war die Ruhe selbst, sogar als das Schiff langsam begann, eine gewisse Eigendynamik zu entwickeln, das heißt: Es fing an zu vibrieren!
Was genau die Jordans vorhatten, wussten wir nicht, weil man uns ja übergangen hatte, wie ich fand. Aber gewiss würde es sich gleich zeigen. Inzwischen hatte der Monolith beschleunigt und nahm einen Abfangkurs ein, würde uns aber nicht mehr erreichen, da war ich mir sicher. Langsam entschwand das Schiff außerhalb unseres Blickfeldes. Erst als André das Bild entsprechend justierte, war es wieder da und klar zu erkennen.
>Schutzschirm aktivieren!<
Erik Jordans Befehl kam genau zur rechten Zeit.
Etwas hatte uns getroffen und schüttelte uns gewaltig durch, sodass ich zu Boden geschleudert wurde, ebenso Lira und André. Orestes hatte sich am Pult festhalten können.
>Volle Kraft voraus! Nichts wie weg hier!< befahl der Kommandant, der sich in die Armlehnen seines Sessels verkrallt hatte. Der Chefingenieur stand wie eine Eins und beschleunigte das Schiff auf „13“. Durch die Anziehungskraft des Schwarzen Lochs allerdings würde sich gleich die Geschwindigkeit weiter erhöhen.
>Haben die geschossen?< wollte Lira von mir wissen, als wir wieder Platz nahmen an unseren Konsolen.
>Ich weiß es nicht. Ich habe nichts sehen können. Vielleicht war es auch ein Meteorit oder etwas ähnliches.< Ich wusste es tatsächlich nicht. Niemand an Bord der „Antares“ wusste es und wollte auch nicht wirklich vermuten, dass sich da draußen eine Spezies befand, die uns feindlich gesinnt war.
Das Schiff wurde immer schneller und übertraf nun die eigentliche Geschwindigkeit, für die es konzipiert war. Die Antriebsaggregate des Schiffes wurden nun zurückgefahren, weil die Gravitation des Schwarzen Lochs völlig ausreichte für die Beschleunigung, die vonnöten war, um uns durch die Zeit nach vorne zu katapultieren. Ich konnte nicht anders, ich musste zu Orestes hinübersehen, doch der war völlig ruhig, was ich nicht erwartet hatte. Vielleicht war es reiner Fatalismus und er hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen.
>Wo ist eigentlich die Mueller?< fragte ich Lira.
>Die ist in ihrer Praxis< das meinte Lira wirklich ernst >Die hat keine Funktion hier auf der Brücke, ist nur für die Medizin zuständig<.
Wir beschleunigten und vibrierten weiter, bis wir schließlich den Ereignishorizont erreichten. Man sagt, wenn der einmal überschritten wäre, gebe es kein Zurück mehr in die vormalige Dimension des Raumes. Ich würde gespannt sein, was nun passierte. Was meinte Bolo noch an dem Strategieboard? Würden wir nicht zerrissen, wenn auch nur der geringste Fehler innerhalb der Berechnungen auftritt? Auf der Erde sprach man von der „Spaghettifizierung“, weil man beim Überschreiten des Ereignishorizontes lang gezogen würde wie Spaghetti. Dieser Begriff wurde allen ernstes von der Wissenschaft benutzt, aber kein Erdenbürger war jemals zuvor durch ein Schwarzes Loch geflogen, daher konnte man nur Vermutungen anstellen. Und die ersten europäischen Hochsee Schiffsbesatzungen hatten bestimmt auch Angst, sie könnten über eine imaginäre Kante rutschen und auf nimmer Wiedersehen in der Hölle landen.
>Wir bewegen uns nun oberhalb des Ereignishorizontes und werden weiter beschleunigen. Nach etwa fünf Minuten beenden wir den Ritt und stürzen in das Loch, um den Zeitsprung zu vollziehen. Wenn alles gut geht, haben wir später dann den größten Teil der Zeit und des Raums überbrückt< sprach der Kommandant mit einem leicht nervösen Unterton in der Stimme, wie ich fand.
Für mich war das nicht wirklich überzeugend, musste ihm aber Zugute halten, dass er nicht den durchgeknallten Revolverhelden gespielt hatte beim Zusammentreffen mit dem fremden Schiff aus dem Coma-Virgo Supergalaxienhaufen. Der Kommandant hielt uns weiter auf dem Laufenden:
>Der Chefingenieur wird nun ein stabiles Schutzfeld generieren, um uns vor der Strahlung innerhalb des Schwarzen Lochs zu schützen. Dafür zapft er die Energie des Schwarzen Lochs an. Das ist doch richtig – Herr Conceptor, oder?< Erik Jordan schaute seinen Steuermann und Strategen mit nur einem einzigen Fragezeichen im Blick in die Augen „Du wirst uns doch heil da durch bringen, oder?“.
>Ich gebe nun die Berechnungen für den Schutzschild ein sowie die Daten für den Transfer. In Ergänzung zu ihren Anmerkungen – Kommandant – der Schutzschild wird uns vor allem die strukturelle Integrität des Schiffes sichern<.
Bolo Conceptor war ganz Routinier und ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Er hatte alles schon tausend Mal durchgerechnet und die Supercomputer auf seiner Heimatwelt hatten immer wieder bestätigt, dass der Zeitsprung durch das Schwarze Loch möglich ist. Auf der anderen Seite dann würden wir beinahe 37 Milliarden Jahre in die Zukunft gelangt sein, am Rande eines völlig unbekannten Universums, welches seine Materie beinahe völlig verbraucht haben wird, dessen Gestirne langsam erlöschen und wo Schwarze Löcher kaum mehr Nahrung finden werden für ihre „Fresswut“ und infernalische Gravitationsgewalt.
>Ich muss mal pinkeln!<
André hatte die rechte Hand gehoben wie ein kleiner Schuljunge und blickte in Richtung Kapitän. Orestes war verblüfft und auch ich konnte es nicht fassen. Aber das war typisch für meinen Freund: Die Launen der Natur forderten ihren Tribut! Da konnte man nichts machen.
>Ja, sicher, gehen sie, Fähnrich André! - Fähnrich Orestes, übernehmen sie die Langstreckenscanner während der Abwesenheit von Fähnrich André!<.
Unser Kapitän schien ebenfalls erfahren genug zu sein, sodass ihn solche Kleinigkeiten nicht aus der Ruhe bringen konnten. André verließ die Brücke, nicht ohne mich zuvor frech anzugrinsen, frei nach dem Motto „Ich zeig euch, was `ne Harke ist!“.
>Ich glaub`, ich muss auch mal< meinte dann Lira zu mir.
Ich erschrak bei dem Gedanken, Erik Jordan könne das Ganze als Vorzeichen einer Meuterei deuten, wenn nun auch der zweite Fähnrich die Brücke verlassen würde. Oder er würde glauben, er hätte es hier mit lauter pubertierenden Schülern zu tun – oder beides.
>Das war ein Scherz!<. Ich hatte vergessen, dass Lira immer öfter sich in Belustigungen übte. Leider hatte ich nicht immer die Gelegenheit, darüber zu lachen, so auch heute nicht.
>Wir verlassen jetzt den Ereignishorizont< sprach Bolo Conceptor. André hatte sich wahrlich den schlechtesten Moment für eine Pinkelpause ausgesucht! Denn gleich würde der Vorhang sich öffnen und das große Kinoprogramm seinen Blockbuster bringen, der da hieß: „Nervenkrieg im Wurmloch“.
>Wenn sie nachher verwirrende Bilder erkennen mögen, bitte nicht erschrecken! Wir nennen das: Pulsierende temporäre Zeitdifferentiale. Das sind allesamt Trugbilder - sie sind nicht wirklich real<.
Der Kapitän des Schiffes übte sich in sachlicher Überzeugungsarbeit. Ich hatte verstanden und war glücklich darüber, dass ich in der Vergangenheit nie irgendwelche psychotrope Substanzen zu mir genommen hatte; mal abgesehen von den paar Haschpfeifen, die ich geraucht hatte, machte ich um Drogen einen weiten Bogen. Ich konnte mich voll und ganz auf meinen Verstand verlassen, so glaubte ich.
Und schon begannen die Phasenverschiebungen in der Zeit. Leicht transparent erscheinende Schleier schienen so etwas wie die kosmische „Ursuppe“ zu zeigen, die vielleicht ganz zu Beginn der universellen Entwicklung den Raum erfüllte. Nun zog dieser Nebel nicht einfach vor unserer Nase eine Bahn, nein, wir waren mittendrin in diesem Smog elementarer und subatomarer Partikelströme, die manchmal fluoreszierend, manchmal grau matt schimmernd durch das Schiff strömten, durch die Wände, durch den Boden und durch uns hindurch. Lira rückte näher an mich heran:
>Ich habe Angst!<.
>Brauchst du nicht; uns wird nichts passieren – das ist alles Illusion und längst Vergangenheit< glaubte ich wirklich, was ich da sagte? Ich drückte Liras Hand und hielt sie ganz fest. Zumindest ihrer Präsenz war ich mir sicher.
>Wir haben jetzt den Ereignishorizont verlassen, beschleunigen weiter und folgen dabei einer spiralförmigen Bahn durch das Innere des Schwarzen Lochs< nun wusste ich, dass Erik Jordan schon einmal eine solche Tour de force gemacht hatte, so kaltschnäuzig und nüchtern sprach keiner, der das erste Mal den größten Ritt aller Zeiten vollzog! Bolo Conceptor ergänzte lakonisch:
>Die mathematischen Berechnungen werden bestätigt durch Kurs, Geschwindigkeit, Widerstand – die Außenhülle ist stabil<.
>Die Umweltkontrolle!< flüsterte ich Lira ins Ohr, die sofort die Prüfung durchführte.
>Alle für uns relevanten Umweltdaten sind im grünen Bereich – Kapitän!<.
>Danke, Fähnrich Lira<.
>Danke, Paul! Ich hatte ganz vergessen...< „schon gut“, meinte ich zu Lira.
Die Situation war für niemanden leicht, zumal die Bilder begonnen hatten, immer mysteriöser und geheimnisvoller zu werden. Filigrane kugelförmige Objekte schwebten vorüber, die wie Seifenblasen schimmerten und alle nur erdenklichen Nuancen des uns bekannten Farbspektrums erkennen ließen. In den Hohlkörpern schienen sich Lebensformen zu befinden, die zur Außenhülle strebten – vergeblich bemüht, dass sie umhüllende Material zu durchstoßen, um nach außen zu gelangen. Wir konnten ein herzerweichendes Gewimmer vernehmen, dass an die Laute nach Nahrung bettelnder Tierbabys erinnerte, die von ihren Müttern verlassen worden waren.
>Das ist ja schrecklich!< Lira verbarg ihren Kopf in meinen Armen.
>Kein Grund zur Beunruhigung, alle Systeme funktionieren im Bereich der üblichen Parameter< versuchte Erik Jordan die Emotionalität aufgrund der visuellen und akustischen Wahrnehmungen herunterzuspielen.
Wir hätten an Bord so etwas wie einen Psychiater oder Therapeuten gebrauchen können. Bei aller fachlichen Kompetenz unseres Kapitäns: Ein guter Psychologe war er nicht! Und seine Frau schien ebenfalls unter den Vorkommnissen zu leiden, denn sie sagte kein Wort mehr. Für meinen Geschmack hätte eigentlich unsere Ärztin Frau Mueller auf der Brücke sein müssen – aber vielleicht war es besser so, dass sie sich in ihrer Praxis verbarrikadiert hatte, denn ich traute ihr nicht wirklich zu, so etwas wie Empathie zu besitzen, was die Grundvoraussetzung für eine erfolgsorientierte „Seelenarbeit“ ist.
Ein greller gelb-weißer Blitz durchzuckte irgendwo da draußen das undurchdringliche Dunkel des Schwarzen Lochs, aber es gab keinen Donner, so wie wir das von der Erde her kannten. Erneut bahnten sich die elektrisch geladenen Teilchen ihren Weg durch die Finsternis und verbreiteten nun eine überaus blendende Helligkeit.
>Fähnrich Orestes – Filter über die Scanner!< befahl der Kommandant.
Der junge Mann tat, wie ihm befohlen, doch sehr zögerlich und mit leicht zitternden Händen strich er über das Bedienfeld seiner Konsole. Dann war der Filter eingeschaltet und funktionierte wie eine überdimensionale Sonnenbrille. Die Helligkeit wirkte jetzt wesentlich gedämpfter und das Zucken der Blitze war so besser zu ertragen. Wo war eigentlich André? Hatte er vielleicht im letzten Moment einen Einbruch erlitten und sich in seinem Bett verkrochen? Das glaubte ich eigentlich nicht oder wollte es nicht glauben.
Eine Hand, groß wie die Schaufel eines Riesenbaggers, griff nach mir und schien mich aus dem Sitz heben zu wollen – ich presste Lira näher an mich, die ihr Gesicht weiter abgewendet hatte. Als ich gerade dachte: „so langsam wird es ziemlich widerlich“, hörte der Spuk auch schon auf und eine dunkle Masse gesellte sich an die Stelle der äußerst verstörenden Trugbilder. Völlige Dunkelheit umgab uns nun und langsam, aber sicher wagte sich Lira wieder mit ihrem Kopf aus der Deckung.
>Alles wird gut!< tröstete ich sie und strich über ihr schwarz glänzende Haar, welches mit der Dunkelheit um uns herum im Wettstreit lag, was nun dunkler sei.
>Da geht eine Sonne auf!< deutete Lira auf einen scheinbar weit entfernten, aber dennoch deutlich erkennbaren Lichtpunkt, dessen Volumen immer mehr anwuchs.
Was wir sahen war die Geburt eines Sterns. Das atomare Fegefeuer im Innern eines zuvor noch schlafenden „kalten“ Gasriesens hatte gezündet und überstrahlte nun die kleinen und auch größeren Protoplaneten auf ihren elliptischen Bahnen rund um das sich neu formierende Sonnensystem. Grüne, gelbe, blaue und rote Farbfontänen zeugten von den Gasausbrüchen im Innern des jungen Sterns. Wie die Spitzen von Palmwedeln erreichten uns die Farbmuster, waberten um uns herum und schienen mich geradezu aufzufordern, nach Pinsel und Palette zu greifen, und die herbe Schönheit auf Papier zu bringen, um sie nicht der Vergänglichkeit anheim fallen zu lassen. Man könnte sagen: Das über alles dominierende Weiß des Raumschiffes wurde zur Kulisse und Leinwand für die universellen Spektralfarben eines gerade neu entstehenden Weltalls! Ich musste an einen meiner Besuche in der Normandie denken, als ich beobachten konnte, wie auf den Wiesen eines herrschaftlichen Anwesens die Mädchen Haarkränze flochten aus den roten Mohnblumen, gelb-weißen Margeriten und blauen Kornblumen. Wir waren Zeugen eines Schauspiels der schöpferischen Kraft von Materie, Gravitation und all den übrigen kosmischen Zutaten, die das Universum bereithielt, um dem beginnenden Leben eine neue Heimstatt zu bieten.
André hatte wieder die Brücke betreten und durchschritt gerade die Umlaufbahn des Mondes eines der Protoplaneten. Seine Bahn war immer noch angefüllt mit einer Unzahl von kleineren und größeren Gesteinsbrocken; eine kosmische Schutthalde, aus der sich weitere Planeten und Monde entwickeln konnten. Die rechte Hand meines Freundes bewegte sich durch einen der Himmelskörper, gerade so, als wolle er eine kosmische Seifenblase einfangen, aber nichts geschah. Nun war auch klar, dass dies alles nur Illuminationen waren oder vielleicht so etwas wie die kleine, aber ganz spezielle Filmvorführung eines universellen Schöpfers, dem es Vergnügen bereitete, uns in Erstaunen zu versetzen mit seinem Akt des Schaffens. Da ich nicht gläubig war, musste es eine andere Erklärung für diese extravaganten Erscheinungen geben. Ich vermutete, dass wir sahen, was wir sehen wollten. Es handelte sich um den Versuch von Erklärungen über die Entstehungsgeschichte der Welten, des Multiversums, der Zeit und den Raum. Es ging um die Mutter aller Fragen, um die Sinnhaftigkeit von Sein und Kosmos. Das Schwarze Loch entfaltete unser Innerstes und beförderte es nach Außen. Seltsam nur, dass wir alle das Gleiche sahen. Das widersprach meiner Theorie von der Reflektion unserer Gedankenwelt in Form eines grandiosen Schauspiels im Lichtbildtheater innerhalb eines der faszinierendsten Phänomene, welches die Galaxis anzubieten hatte.
>Fähnrich André – bitte nehmen sie wieder Platz an ihren Scannern!< forderte der arkadische Kommandant meinen Freund auf, nicht weiter auf der Brücke herumzuspazieren und mit seinen Händen Phantome einfangen zu wollen.
Ich konnte ein Lächeln in Andrés Gesicht erkennen, als dieser an unserer Konsole vorbeiging und dabei die Umlaufbahn verließ, in der das neue Sonnensystem entstand und mit ihm eine neue Galaxie in den unermesslichen Weiten eines Alls, dessen Schönheit und abgrundtiefe Gewalt, ein und dieselbe Seite einer weiteren Medaille war, die wir immer wieder in unserem kurzen Dasein unserer Existenz staunend in unseren Händen hielten.
André hatte nicht, wie angekündigt, die Toilette aufgesucht, sondern war in seiner Kajüte gewesen und ich wusste auch, was er da gemacht hatte. Mir wurde schlecht, und in mir machte sich Zorn und Enttäuschung breit, während neue Illuminationen eine weitere Phasenverschiebung andeuteten. Ich hatte während des vorhergehenden Farbspektakels Probleme gehabt, auf meiner Konsole die Eindeutigkeit der Kontrollanzeigen zu beurteilen, aber letztlich konnte ich doch den Weg zurückverfolgen, den André gegangen war. An Bord eines Raumschiffs konnte es keine Geheimnisse geben. Hier war die lückenlose Überwachung Realität. Meinem Freund hätte das bewusst sein müssen, aber letztlich hatte doch wieder die Sucht gesiegt: André war rückfällig geworden! Schon auf Arkadia war mir aufgefallen, dass er den Kontakt zu einem Mediziner gesucht hatte, der offenbar in kriminelle Aktivitäten verstrickt gewesen war. Vergeblich hatte ich versucht, André davon abzubringen, den Kontakt zu dem Arkadier abzubrechen. Auch Lira hatte mit meinem Freund gesprochen, aber letztlich entschied immer die Logik für das Leben oder die dumme Unvernunft für Abgrund und Niederlage. Ich wollte das in meinem Geist nicht weiter kommentieren, dennoch viel mir wieder der Gobiconodon ein, den wir alle liebevoll „Trumpy“ genannt hatten, der aber bedauerlicherweise auf Arkadia eingeschläfert werden musste – der hatte die vielen Weltenwechsel wohl nicht verkraftet und war gegen Ende seiner Existenz total abgemagert und apathisch geworden. Ich war mir sicher: Der Tod des Minisauriers, der eigentlich keine Urweltechse, sondern ein Vorfahr der modernen Säugetiere war, hatte André so sehr deprimiert, dass er schon auf Arkadia wieder mit den Drogen angefangen hatte. „Schluss, Aus!“ dachte ich und konzentrierte mich wieder auf die harte „Wirklichkeit“ um uns herum.
Wenn die Geburt einer Sonne und einer Galaxie uns präsentiert wurde, dann war das nur die sichtbare Gestaltung von Materie, die wir sehen konnten. Inzwischen wussten wir zwar, dass wir nichts wussten, aber wir erkannten auch, dass der Kosmos ohne einen Gegenspieler zur Gravitation nicht existieren konnte. Die dunkle Energie war es, die das All weiter in seiner Ausdehnung beschleunigen ließ, bis an den „Rand“ deren Existenz. Ich vermutete, dass es diese kosmische Zerreißprobe war, die an meinen Beinen zerrte. Ich bekam das Gefühl, etwas zöge an mir beständig von allen Seiten, an den Extremitäten und bis hinab in die molekularen Bestandteile der kleinsten Zellen, ja bis in die Tiefe der Genstrukturen hinein. Zu diesem merkwürdigen Unbehagen gesellten sich nun die dunklen Schleier, die die farbigen Bänder schöpferischer Genialität abgelöst hatten. Die kosmologische Theateraufführung machte sich bereit für ihren zweiten Akt!
Als der kleine Sohn des Astronomen Wilhelm Herschel seinen Vater einst fragte, ob der an Geister glaube und dies bejahte, war der Junge sehr verunsichert. Vater Wilhelm ergänzte jedoch, dass er nicht die von Menschen erfundenen Dämonen und Geistwesen meinte, sondern die Gestirne des Himmels, die schon vor Millionen Jahren erloschen waren, dessen Licht man aber immer noch erkennen konnte. Das wären die Geister, an die er glauben würde. Ich musste an diese historische Anekdote denken, als ich mir erneut Gedanken machte über Schein und Sein im Kosmos. Das Licht unserer Sonne benötigte acht Minuten, bis es auf die Erde traf. Das reflektierte Licht des irdischen Mondes etwa eine Sekunde. Wir bekamen also immer einen zeitverzögerten Eindruck von dem, was für uns die Realität war. So ähnlich verhielt es sich an Bord der „Antares“: Die Realität war für mich nichts anderes als ein Lichtspiel, das die vagabundierende Reise der Photonen wiedergab, die durch das All rasten und auf die Iris ungläubig drein schauernder Zuschauer trafen. Ich wusste, dass ich mich mit meinen Gedanken einer selbst gewählten Manipulation unterzog, die zum Ziel hatte, möglichst nicht auszurasten, und das war auch gut so. Denn ich konnte beobachten, wie schwer es den anderen Besatzungsmitgliedern fiel, die Dimension des so Fremdartigen und schwer Verständlichen zu akzeptieren.
Inzwischen hatten uns die schleierartigen dunklen Nebel vollkommen umhüllt und nur noch sehr vereinzelt schimmerten die gerade erst neu geborenen Sonnen durch das Firmament des noch gar nicht so lang vergangen Urknalls. Als unsere Ärztin, Frau Dr. Amanda Mueller, hysterisch brüllend auf die Brücke gelaufen kam und wie wild mit den Armen um sich schlagend nach den Nebeln des Grauens schlug, die wohl eher in ihrer Fantasie sich breit gemacht hatten, als auf der Brücke unseres Raumschiffes, wusste ich, dass eine rein pragmatisch orientierte Sichtweise der Beste Schutz vor dem Wahnsinn war. Nun brauchte die einzige medizinisch versierte Fachkraft an Bord selbst einen Mediziner. Den Part hierfür übernahm Bolo Conceptor, der sich ohne ausdrückliche Erlaubnis von seiner Station entfernte und sich äußerst rührend um die Doktorin kümmerte:
>Ruhig, ganz ruhig Amanda!< Bolo drückte die Frau fest an sich und die Ärztin beruhigte sich tatsächlich sehr schnell.
Die zwei gaben ein wirklich vortreffliches Paar ab, dachte ich, wie der dicke Bolo die auch nicht gerade magere Amanda zärtlich über ihren Rücken strich. Durch ein Kopfnicken signalisierte der Kommandant seiner Frau, sich um die Ärztin zu kümmern, denn der Ingenieur wurde an seiner Konsole gebraucht. Laura Jordan führte die verwirrte Frau zu einem Sitzplatz unterhalb des Schiffsmodells der „Antares“. Bolo Conceptor übernahm wieder seine Station und gab folgende Meldung:
>Die Gravitation innerhalb des Schiffes ist wieder auf Normalwert – die anatomischen Verspannungen müssten nun nachlassen<. Mit dieser etwas euphemistischen Erklärung meinte Bolo das Reißen und Zerren an unseren Gliedern, welches tatsächlich nachließ, aber die diffusen Nebel ließen sich offensichtlich nicht vertreiben. Der Einzige, der fortan wirklich gelassen an seiner Konsole saß, war mein Freund André. Aber was würde passieren, wenn sein Drogenvorrat sich zu Ende neigte? Dann würde er höchstwahrscheinlich einen ganz üblen Entzug durchmachen. Ich wollte mich aber zu diesem Zeitpunkt nicht mit seinen Problemen belasten, auch wenn sie zum Teil zu unseren Problemen werden würden. „Später“, sagte ich mir immer wieder, später müssen wir darüber sprechen. Lira wusste genau, was passiert war, sie hatte mich und meine Reaktionen und auch André beobachtet und legte ihre Hand auf meine Schulter:
>Später!<
>Ja, später<.
Und wie, als wenn es zum kosmischen Theaterstück dazugehören würde, lichteten sich die dunklen Nebeln, die wohl eher Gas und Staubwolken angedeutet hatten, und wir konnten beobachten, dass neue Galaxien geboren worden waren, neue Sterne und neue Planetensysteme. Als der Schleier sich mehr und mehr hob, schien es, als wären wir in einem irdischen Planetarium und könnten einen wirklich vortrefflichen Teil des Kosmos bestaunen. Obwohl ich nie das Planetarium eines Observatoriums besucht hatte, stellte ich es mir genauso vor: Wie die Entfaltung eines grandiosen Bühnenstücks der Genesis. Das war nun wirklich überaus bezaubernd und zutiefst beeindruckend und entschädigte für das eher miserabel geratene Intermezzo zuvor.
>Fähnrich André – was verraten uns die Scanner?< wandte sich Erik Jordan an meinen Freund.
>Die Daten sind total widersprüchlich<. André runzelte die Stirn und schien nicht schlau zu werden aus den Angaben.
>Präzisieren sie!< fordert der Kapitän mit Nachdruck auf eine konkrete Analyse.
>Der Raum scheint einen Durchmesser zu haben von...340 Millionen Kilometern< Andrés Anzeige gab aber auch noch einen zweiten Wert an, der um einiges höher lag, nämlich unendlich höher. Die Zahl wuchs und wuchs ins Unermessliche. Kapitän Jordan reagierte relativ gelassen auf die gegensätzlichen Anzeigen.
>Gut, Fähnrich – wir befinden uns definitiv im Innersten eines Schwarzen Lochs. Steuermann – den bisherigen Kurs beibehalten!< wandte er sich an Bolo Conceptor, in dessen behaartem Gesicht sich ein vages Lächeln breit gemacht hatte. Ich denke, er war stolz, dass er nicht nur ein begnadeter Mathematiker war, sondern durchaus auch über Empathie und sozialpsychologische Kompetenz verfügte. Die Ärztin hatte sich unter der anschließenden Obhut von Laura Jordan völlig beruhigt und schien bereit, wieder ihren Dienst aufzunehmen - blieb aber einstweilen auf der Brücke. Somit befand sich nun die gesamte Besatzung im Bereich des Kommandoraums.
Als das bisherige Abbild eines entstehenden Kosmos` angereichert wurde durch die bunten Fahnen schleierartiger Vorhänge, begann die Szenerie sich erneut zu wandeln. Zum ersten Mal hörte ich den Begriff „Aurora Universalis“, in Abwandlung zum Begriff der irdischen Aurora. So etwas Schönes hatte ich noch nie erblickt! Aber wie schon zuvor, blieb es nicht beim Zauber einer scheinbar unendlichen Farbpalette. Der kosmologische Film war ständigen Veränderungen unterworfen und gab somit ein Stück unserer vermeintlichen Realität wider, in der es auch nicht immerzu friedlich und harmonisch zuging.
Was nun kam, möchte ich als ein in Zeitraffer präsentiertes Programm der Evolution verstanden wissen, denn als sich eine Zelle zu teilen begann, da in den Tiefen des Alls, begann auch schon kurz darauf höheres Leben sich zu entwickeln, das allenthalben verschiedene Himmelskörper besiedelte. Dies alles vollzog sich vor unseren Augen in einer ungeheuren Geschwindigkeit, wo normalerweise Millionen Jahre vonnöten gewesen wären, um diese Prozesse in Gang zu bringen. Das erstaunlichste aber war die Präsenz eines kleinen blauen Planeten, der durchaus die Erde sein konnte. Vor unseren Augen waren die Vegetationsstufen eines Zeitalters zu erkennen, die dem des Karbon entsprachen, vor etwa 350 Millionen Jahren. Zu sehen waren riesenhafte Schuppenbäume und Farne, eine Welt, eigentlich zu beschreiben, als ein grüner Planet, dessen Leben sich auf zwei großen kontinentalen Massen konzentrierte: Laurussia und Gondwana. Das tierische Leben war inzwischen aus dem Wasser heraus an Land gegangen und hatte aufgrund des sehr hohen Sauerstoffgehaltes riesenhafte Insekten und wirbellose Kreaturen hervorgebracht. Bis hier hin entsprach dies genau meinem Verständnis für die irdische Entwicklungsgeschichte eines Teils des Lebens. Hinein passte dort allerdings nicht, dass plötzlich Hominiden auftauchten in unserem „Kinoprogramm“. Sollte die sogenannte Prä-Astronautik eventuell doch Recht behalten? Ich konnte und wollte das nicht glauben, hatte aber auch keine Erklärung dafür, dass augenscheinlich menschenartige Wesen im Karbon existierten, die eindeutig Hütten erbauten und an selbst entzündeten Feuern ihre soeben erbeuteten Jagdtrophäen verspeisten.
>Da – Leartas hatte doch Recht!< brach es aus Orestes heraus.
>Fähnrich Orestes, ich möchte doch bitten!< wies der Kapitän den anderranischen Studenten zurecht. Der dachte an die „Herkunft des Menschen von der Erde“, dessen Theorie besagte, dass der karbonische Sapiens in die Pegasus Galaxie übergesiedelt war und deren prominentester Vertreter der Philosoph Leartas war. Die universelle Herkunft des Homo Sapiens sei also die Erde und nicht Anderran oder irgend ein anderer Himmelskörper. Inmitten dieser Kette der Ereignisse schob uns Bolo Conceptor ein Diagramm unter, welches auf dem Hauptbildschirm erschien und der Ingenieur begann mit seinen Erläuterungen:
>Wie sie sehen, sind auf der Grafik Feldlinien zu erkennen, die denen eines Magnetfelds nicht unähnlich sind. Diese Linien sind aber Gravitationslinien und Teil der Dunklen Energie enormer Ausprägung und mitverantwortlich dafür, dass wir überhaupt eine Reise durch die Zeit unternehmen können. Die Illuminationen, die wir nun schon eine geraume Zeit wahrnehmen sind ein Nebeneffekt dieses Phänomens. Der trichterförmigen Gestalt des Inneren des Wurmlochs liegt eine Berechnung zugrunde, die sich aus der Intensität der Gravitation sowie der Dunklen Energie ergibt. Die Extrapolation besagt, dass wir mehr als die Hälfte unserer Reise durch das Loch nun hinter uns haben. Nach Verlassen des Schwarzen Lochs werden wir den Rest unserer Reise mittels eines Swing-by-Manövers bewältigen, das für uns keine besonderen Herausforderungen mehr darstellen wird, da die Berechnungen in den solaren Bereichen keinen unbekannten Störfaktoren unterworfen sind<.
>Danke, Bolo!< der Kapitän war höchst zufrieden und ließ die Grafik entfernen, sodass der normale Bildschirmmodus wieder in Betrieb war und uns einen Teil vom Inneren des Schwarzen Lochs präsentierte, den es so gar nicht gab. Wenn das eigentliche Reisen durch die Zeit schon ein höchst problematisches Unterfangen war, dann war es die Reise durch ein Schwarzes Loch ganz besonders. Die meisten Menschen hatten ein solches Unternehmen sowieso für unmöglich gehalten.
Fakt war, dass die unfassbare Masse und Dichte dieses kosmischen Phänomens eine physikalische „Wirklichkeit“ schuf, die mit den gängigen Theorien der Erde und auch der von Anderran und Arkadia nicht in Einklang zu bringen waren. Ich war nicht im Geringsten darüber verwundert, dass die bedeutenden Naturwissenschaftler der Pegasus Galaxie, zu der auch Bolo Conceptor gehörte, auch einen philosophischen Nimbus trugen. Die Lücke zwischen den rational erklärbaren Phänomen und den nur unzureichend beantworteten Fragen, die immer wieder entstanden, wenn eine neue Tür geöffnet wurde auf der Entdeckungsreise des Menschen, diese Lücke hinterließ eine Leere, eine geheimnisvolle Leere, die Unzufriedenheit und wilde Spekulationen schuf. Diese Lücke aber musste unter allen Umständen gefüllt werden, denn sonst hinterließ sie einen Raum der Unordnung und des Chaos. Die Philosophie war bemüht, diese Lücke zu schließen, bevor es zu besagtem Chaos kommen würde. Auf der Erde hatten die großen Religionen diese Aufgabe übernommen. Mit umfassender Machtfülle ausgestattete klerikale Organe versprachen Seelenheil und verteilten Brot an die Armen, riefen aber auch zu Krieg auf und beteiligten sich an massenhaftem Dahinschlachten ganzer Bevölkerungen. Auf Arkadia und Anderran hatte man diese Zeiten hinter sich und wollte keinesfalls mehr religiösen Eiferern die Feldbestellung überlassen, auf denen die bohrenden Fragen über das Sein und seiner Funktion im Multiversum einer Beantwortung harrten.
Während uns Bolo Conceptor äußerst wissenschaftlich nüchtern sein Grafik präsentiert hatte, waren immer wieder kosmische Schwaden durch unsere Schiff gezogen. Die permanente Holografie ähnliche Vorstellung schien kein Ende nehmen zu wollen, beunruhigte zwar nicht mehr allzu sehr, ging aber dennoch ein wenig auf die Nerven. Wir hätten aufstehen und den Schiffsbetrieb auf Automatik schalten können, aber das schien nicht ratsam, denn es konnten jeder Zeit unvorhergesehen Dinge unser Eingreifen erforderlich machen.
>Da, ein Raumschiff!< entschieden leiser als zuvor reagierte Orestes auf ein vermeintliches Flugobjekt, welches sich der „Antares“ näherte.
>Die Scanner können nichts erfassen< meldete sich mein Freund zu Wort.
>Danke, Fähnrich André. So wissen wir, dass es sich um eine weitere Illumination handelt< antwortete Erik Jordan, der ein wenig nervös in seinem Sessel herumrutschte, als das Schiff mit ungebremster Geschwindigkeit Kurs auf uns nahm.
In der Tat sah das sehr bedrohlich aus und schien mich aus dem Sessel heben zu wollen. Lira hatte wieder begonnen, sich vom Bildschirm abzuwenden.
>Das ist doch nicht wirklich?< meinte sie.
>Nein, das ist nicht wirklich< gab ich unsicher zur Antwort.
Das unbekannte Schiff wurde größer und größer und steuerte weiter auf uns zu. Selbst, als wir geringfügig unseren Kurs änderten, half das nichts.
>Ich kann schon die Triebwerke erkennen!< sagte Lira, nachdem sie einen kurzen Blick riskiert hatte.
>Fremdes Schiff – bitte antworten!< versuchte Bolo vergeblich – mehrmals - Kontakt aufzunehmen. Nun konnte ich beobachten, wie auch bei unserem Ingenieur eine leichte Beunruhigung sich breit machte und Schweißperlen sich auf seiner faltigen Stirn gebildet hatten. Unsere Bordärztin hatte entsetzt den Mund aufgerissen und hielt nun die rechte Hand davor. Ihr Teint war aschfahl geworden, während das fremde Schiff näher kam – wie in Zeitlupe.
Und dann konnte ich es erkennen: Das war kein Raumschiff, sondern das Weltraumshuttle „Columbia“! Die Raumfähre war allerdings am 1. Februar 2003 beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre auseinandergebrochen und größtenteils verglüht. Alle sieben Besatzungsmitglieder waren dabei getötet worden.
>Ein fliegender Holländer< meinte André und wollte damit andeuten, dass wir es mit einer Fata Morgana zu tun haben.
>Ich kann die Piloten erkennen!< Orestes hatte ebenfalls den Mund aufgerissen zu einem letzten Entsetzensschrei.
Schließlich glitt die Raumfähre durch uns hindurch, als wäre sie ein Segelflieger auf gemütlicher Reise über sommerliche Wiesen und Felder einer romantisch verklärten Landschaft, wie auf einem dieser Ölgemälde eines unbekannten Künstlers im Biedermeier. Ich konnte jetzt sogar die problematischen Hitzeschilde erkennen und einem der Piloten, der völlig ruhig und gelassen seine Arbeit tat, in die Augen schauen. Dem Schiff, dem einst schadhafte Hitzekacheln den Absturz einbrachten, folgten noch ein paar Gesteinsbrocken, die an uns vorüber schwebten und dann war der Spuk auch schon vorbei. Orestes war der Schrei im Halse stecken geblieben und Frau Dr. Mueller bekam wieder etwas Farbe im Gesicht.
>Ahhh!< seufzte irgend jemand. Ich konnte mich dem Seufzer nur anschließen.
Auch wenn dies alles nicht wirklich real war, so erschien es doch wahrhaftig vor unseren Augen, sodass sich eine Unsicherheit aufbaute, die sich nie gänzlich und vollständig verdrängen ließ – ein „vielleicht ist es ja doch real“ blieb immer zurück und machte Angst, und zwar jedem an Bord der „Antares“. Und so waren wir froh, als der Kapitän vermeldete, dass sich die ersten wirklich existierenden Sterne vor uns befänden. Erik Jordan hatte einen Scanner in seiner Konsole, der die weitreichendsten Sensoren besaß, über einen Raum von Millionen Lichtjahren, und so konnten wir einen Blick erhaschen aus dem Trichter des Schwarzen Lochs hinaus in das All der Zukunft, so wie es sich gestalten würde in beinahe 37 Milliarden Jahren.


Stavros Papadopolous war kretischer Fischer und einer der wenigen Gebildeten seines Berufsstandes. Ihn interessierten die althergebrachten griechischen Philosophien ebenso wie die faszinierende Reise des Menschen im Rahmen seiner geschichtlichen und evolutionären Entwicklung. Stravros war Autodidakt und ein Sonderling und stieß in seinem Dorf nahe Amnissos mit seinem Verhalten und seiner belesenen Art auf Misstrauen und bisweilen auch auf Ablehnung und Hass. Darum beruhigte ihn das Meer so sehr und er fühlte sich nur dort wirklich frei und unbelastet.
Die „Stigma“ dümpelte nun schon seit einigen Stunden lustlos in der Flaute. Der altersschwache Diesel Motor aus Deutschland war ausgeschaltet. Der Fischkutter war einer der wenigen motorisierten, die weit auf die See hinaus fahren konnten. Die meisten seiner Fischer Kollegen ruderten mit kleinen Booten nahe der Küste entlang. Vielfach neidete man Stavros den vermeintlichen Vorteil beim Fischfang, zumal der Kutter einst von Stavros` Vater, dem vermögenden Händler Apostolos aus Iraklion gesponsert worden war. Das Verhältnis zwischen dem verwitweten Vater und seinem Sohn war inzwischen mehr als abgekühlt und man traf sich allenfalls an Feiertagen zu einem opulenten Mahl. Dann war auch seine Schwester Anastasia zugegen, die einst von seinem Vater adoptiert worden war. Die vormals kleine Anastasia war blond und blauäugig und passte so gar nicht in die kretische Gesellschaft mit ihren überaus rauen Handwerksgesellen, den sonderbaren Fischern mit ihren wettergegerbten dunklen Gesichtern und den eifrigen Händlern, die es sehr gewieft verstanden, allen politischen Schwierigkeiten zum Trotz, im Mittelmeerraum immer wieder neue Einkommensquellen zu erschließen. Apostolos wurde nachgesagt, er sei bestimmt ein Nachfahre der sagenhaften Minoer, die einst das Mittelmeer beherrschten. Als die Adoptivtochter älter wurde, hatte sich das pädagogische Geschick des Apostolos bezahlt gemacht; aus Anastasia war eine begabte, souverän auftretende und sehr emanzipierte Persönlichkeit geworden, die wohl später einmal die Geschäfte des Vaters weiterführen würde. Stavros war dies nur Recht: Er war einfach kein Händler. Sollte seine Schwester das kleine Imperium des Vaters fortführen.
Stavros` einziger Freund Ibrahim Kanassos war mit ihm an Bord der „Stigma“. Es war die Zeit nach der osmanischen Besetzung Griechenlands, Ibrahim verhasst aufgrund seiner maghrebinischen Herkunft, und Stavros ein Outsider, weil obskurer Sonderling, dem man zutiefst misstraute. So hatten die zwei schon sehr früh zueinander gefunden und ihre Freundschaft schien einem Bollwerk gleich, zu stehen gegen dumpfe Ignoranz und nationalistische Politik, die die Gräben zwischen den europäischen Staaten begonnen hatten zu vertiefen – trotz einiger Demokratisierungen innerhalb Europas. Es war der Herbst des Jahres 1924 und der erste Weltkrieg war gerade einmal sechs Jahre Vergangenheit und es schien, als bereitete man sich langsam auf den nächsten vor.
>Ich würde so gerne nochmal nach Rhodos< seufzte Ibrahim, der Verwandte dort wohnen hatte.
1923 allerdings war die Insel – wie der gesamte Dodekanes (Inselgruppe in der östlichen Ägäis) – in italienisches Besitztum übergegangen. Mussolini, der sich 1922 zum Diktator aufgeschwungen hatte, betrachtete im Sinne der antiken Caesaren das Mittelmeer als sein „Mare Nostrum“ – Unser Meer – und beabsichtigte es zum erstrangigen Einflussgebiet des italienischen Volkes zu machen. Die Griechen und einige wenige Türken auf Rhodos wurden zu italienischen Staatsbürgern, erhielten aber keine staatsbürgerlichen Rechte!
>Machen wir – die Papiere kann man Vater besorgen< Stavros war bemüht, ein wenig Optimismus zu verbreiten.
>Aber ich dachte, du hast mit deinem Vater gebrochen< wandte Ibrahim ein.
>Ganz so schlimm ist es nicht. Und mit Rücksicht auf meine Schwester habe ich sogar ein Treffen arrangiert für nächste Woche – in meinem Haus; du bist übrigens auch eingeladen< gab Stavros zur Antwort.
>Danke, ich werde gerne kommen<.
Das ausgeworfene Netz signalisierte, dass sich da unten in der Tiefe etwas tat. Die beiden Männer entschlossen sich, es herauszuziehen und begannen mit der Bergung ihres Fangs. Langsam wurde es auch Zeit, denn die Sonne hatte angefangen, die Bahn in den Abend zu verlegen. Schließlich hatten sie noch eine gute Stunde für die Heimfahrt einzukalkulieren und wollten keinesfalls im Dunkeln nach Hause. Manchmal kreuzten hier Kriegsschiffe der Briten, die sich Zypern unter den Nagel gerissen hatten und auch Präsenz in nahen Osten zeigten, inklusive Ägypten. Aber viel unberechenbarer waren die faschistischen Italiener. Die Hegemonial- und Kolonialpolitik der Franzosen, Italiener und Briten würden später einmal mitverantwortlich sein für die ausufernden Nahostkriege und Vertreibungen ganzer Völkerschaften. Als die wenigen Fische auf dem Deck der „Stigma“ um ihr Leben zappelten, fiel sofort der grau-metallische Kasten auf, der zwischen den hüpfenden Leibern einfach nur da lag.
>Was ist denn das?< stieß Ibrahim hervor.
>Keine Ahnung!<
Stavros, der Forscher unter den beiden Freunden, hob den Kasten vorsichtig auf und entfernte einige der grün-braunen Algen von dem Gerät. Es hatte eine handliche Form, besaß zwei Reihen mit Ziffern und Zahlen sowie ein kleines rundes „Fenster“.
>Da - die Faschisten steuern auf uns zu!< Ibrahim deutete auf den Marine Kreuzer der Italiener, der immer schneller auf den Fischkutter zulief und ein paar MG-Salven abschoss. Meistens war dies ein Spiel und man schoss nicht wirklich auf die Besatzungen der Fischkutter oder auf deren Schiffe. Aber das Ganze war dennoch eher perfide, weil es doch mit den Ängsten der schutzlosen und unbewaffneten Menschen spielte. Zudem kam es immer wieder durch Querschläger zu Verletzungen einiger Fischer und es wurden auch schon Boote versenkt. Also nahm man sich besser in Acht und verschwand rechtzeitig von der Bühne, bevor aus dem vermeintlichen Spaß tödlicher Ernst wurde.
>Verdammter Mist!<.
Kurz nachdem Stavros den Blick von dem Kreuzer abgewendet hatte, wandte er sich auch schon wieder dem Gerät zu und konnte einfach nicht anders, als auf einen der Knöpfe zu drücken, die jenseitig der zwei Reihen sich befanden.
>Huch!< entfuhr es Stavros. Vor ihren erstaunten Gesichtern hatte sich eine Art Portal geöffnet. Daneben zappelten immer noch die Fische und rangen nach Luft. Ibrahim warf sie ins Meer zurück >Hat sich ohnehin nicht gelohnt der Fang< und schaute seinem Freund entschuldigend in die Augen >Was ist das nur?<
>Werden wir nie erfahren, wenn wir da nicht durchgehen< Stavros packte seinen Freund am Arm und zog ihn durch das Portal auf die andere Seite >Wir haben hier sowieso nichts mehr zu verlieren<.
Die italienischen Faschisten schossen diesmal scharf, trafen das Boot und versenkten es, gerade als die beiden Fischer den Sprung durch die Zeit vollzogen. Der Strudel der Zeit transportierte die beiden ins Jahr 1626 v. Chr., den Zeitpunkt der letzten Einstellung am Multiverser – also 3550 Jahre fernab von den politisch verwirrenden Zuständen des frühen 20. Jahrhunderts kurz nach dem 1. Weltkrieg. Hier beginnt aber das eigentliche Paradoxon, denn schließlich lag der Multiverser ja auf dem Meeresgrund, nachdem Orestes das Gerät bei dem Piratenüberfall über Bord gegangen war. Wären die beiden kretischen Freunde etwas früher aus dem Portal getreten, wären sie vielleicht mit Paul, André, Orestes, Anis und den vielen anderen zusammengetroffen, was streng genommen eigentlich nicht möglich wäre, weil paradox. Ein weitreichender Effekt der Häufung von zeitlichen Paradoxien und geschichtlichen Abläufen hatte letzten Endes zu einem Chaos im Multiversum geführt und so verschwanden vereinzelt sogar die Gestirne vom Himmel – weil sie nie existiert hatten. Darum schließlich die Bestrebungen der Anderraner, der Arkadier und nicht zuletzt der geheimnisvollen Reisenden aus dem Coma-Virgo Supergalaxienhaufen, dem ganzen Treiben um die Zeitreisen ein Ende zu bereiten.
Als die beiden Fischer auf der anderen Seite wieder materialisierten, befanden sie sich inmitten der Besatzung eines altertümlichen Segelschiffs, welches gerade im Begriff war, den Ort einer kleinen Seeschlacht zu verlassen und den nächsten Hafen anzusteuern. Es waren die Piraten, die von Apostis` politischem Gegenspieler Lareos zuvor erfolgreich in die Flucht geschlagen worden waren.
>Tötet sie!< Einer der brutalen Freibeuter war offensichtlich nach der verlorenen Schlacht gegen die Minoer immer noch in einem Gewaltrausch gefangen, sodass er mit seinem blutverschmierten Krummsäbel gegen die Ankömmlinge aus der Zukunft anstürmte und erhoffte, doch noch einen persönlichen Sieg zu erringen.
Abseitig des Portals stieß ein weiterer Pirat einen hohen Schmerzensschrei hervor und fiel sterbend zu Boden; er war den tödlichen Strahlen des Zeitstrudels zu Nahe gekommen. Ein anderer Mann konnte nicht anders, als seine Neugierde zu befriedigen und streckte seine Hand in die äußere Hülle des Portals und schrie ebenfalls auf. Die Finger der Hand brannten, als hätte er sie in die offene Flamme eines Feuers gehalten. Eine weitere Person, dem die ganze Sache wohl nicht mehr ganz geheuer war, sprang über Bord ins Wasser und entfernte sich von dem Schiff. Der Pirat mit dem Säbel war den beiden Fischern jetzt gefährlich nahe gekommen und hob die Waffe zum finalen Schlag gegen Ibrahim an, der schützend die Arme über seinem Kopf kreuzte. Stavros hatte geistesgegenwärtig eine Reihe von Zahlen gedrückt und zog anschließend seinen Freund zurück in das Portal. Ganz offensichtlich war dies keine gute Alternative zu der gefährlichen Situation mit dem italienischen Kreuzer.
>Weg hier, nur weg hier!< war das letzte, was Ibrahim von seinem Freund vernommen hatte, als beide erneut durch den Strudel gerissen wurden und in einer fernen fremden Realität materialisierten.
>Wo sind wir?< Ibrahims Verwirrung schien komplett, als er realisierte, dass um sie herum alles staubtrocken, die Luft sehr dünn und die Hitze unerträglich war.
>2-0-0-3-5-6< Stavros las die Zahlen vor, die er zuvor willkürlich in den Apparat eingegeben hatte. Was die zwei nicht wussten: Das Mittelmeer war nach über 200 Tausend Jahren verschwunden und war einer riesenhaften Salzfläche gewichen. Kreta gab es da schon lange nicht mehr und auch all die anderen Inseln waren entweder verschwunden oder so stark erodiert, dass sie nur noch kleine Erhebungen in einer trostlosen Wüstenei abgaben. Italien war ein Teil davon, ebenso Südfrankreich, Spanien und Portugal, der gesamte Nahe Osten und Nordafrika eingeebnet in ein staubtrockenes Meer aus Sand, Geröll und Salz. Nur vereinzelt reckten sich geisterhaft ein paar vom Wind geschliffene steinerne Formationen in den stahlblauen Himmel. Skulpturen gleich schienen sie Geschichten erzählen zu wollen - die Gnome, Monster, Hexen - Geschichten von einer Welt, die es nicht mehr gab.
>Mir scheint, wir kommen von einer Misere in die nächste!< war die nüchterne Bilanz des Ibrahim.
>Faszinierend!< dagegen die Reaktion des Fischers Stavros, der sehr wohl ahnte oder wusste, dass sie durch die Zeit gereist waren.
>Mein lieber Ibrahim – deine Vorfahren waren Männer des Geistes, der Vernunft und des Fortschritts. Ohne sie wäre das Wissen der Antike niemals wieder zurück in die Köpfe derer gelangt, die heute erneut Krieg führen, aber auch neue Gärten anlegen, Gärten der Zukunft!<. Stavros bezog sich auf die unglaubliche Ignoranz des Mittelalters in Europa; ohne die Hilfe arabisch stämmiger Gelehrter und Übersetzer hätte der Fortschritt noch viel länger auf sich warten lassen.
>Du meinst, wir sollten zuversichtlicher sein!?< Ibrahim hatte sich in den Staub gesetzt, nachdem sich das Portal abgeschaltet hatte und die Verbindung zu ihrer Zeit nun endgültig gekappt schien.
>Genau – das meine ich<. Stavros wusste, das wäre nur ein Intermezzo, er würde den Horizont überschreiten, dahin gelangen, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen war.
>Wenn ich den See seh`, dann brauch ich kein Meer mehr!< fügte er hinzu, nachdem er sich neben seinen Freund niedergelassen hatte.
Dann deutete Stavros auf die Luftspiegelung in der Ferne, die eine ausgedehnte Wasserfläche vorgaukelte. Ibrahim griff in die Innenseite seiner Jacke und zog eine Flasche hervor, die noch ungeöffnet war und einen harzigen Retsina Wein enthielt. Das war immer noch besser, als völlig auf dem Trockenen zu sitzen, dachte er und entnahm einer weiteren Tasche einen Korkenzieher, um die Flasche zu öffnen.
>Den gibt es schon seit mehr als 2000 Jahren – auch ein eine Art Zeitreise. Hier, nimm einen Schluck!< Ibrahim hielt ihm die geöffnete Flasche hin.
>Endlich hast du deinen Optimismus wieder gefunden!<.
Beide Männer gönnten sich einen tiefen Schluck des wohltuenden Weines, der aus der Nähe von Athen kam und dessen Erwerb für Ibrahim nicht ganz billig gewesen war. Die zwei saßen eine Weile unter der erbarmungslosen Sonne der Zukunft, bevor sie sich anschickten, einen neuen Zahlencode in das Gerät einzugeben, der sie entschieden weiter bringen würde, weiter in eine unbekannte Zukunft und neue Region des Weltalls.



Das Firmament war längst nicht mehr vertraut und schien so ausgedünnt, als schaue man in einen Raum, der verdunkelt war von einem unbekannten Schleier, der sich darüber legte. Wir konnten die Scanner kalibrieren, wie wir wollten, wir bekamen einfach nicht mehr die solare Fülle zu sehen, wie sie lange Zeit so selbstverständlich war. Verantwortlich waren zum Einen die unermesslichen Entfernungen zwischen den Galaxien und Sternen, die immer weiter im Rahmen der beschleunigten Ausdehnung des Alls zugenommen hatten und zum Anderen die rückläufige „Geburtenrate“ neuer Sterne. Das supermassive Schwarze Loch hatten wir hinter uns gelassen und bekamen auf der anderen Seite eine Dimension zu sehen, wie sie uns das All präsentieren würde, sollte dann der Mensch noch existieren und seine Teleskope in den Himmel strecken, um diese Realität wahrzunehmen. Zugegebenermaßen empfand ich es als ziemlich unwahrscheinlich, dass es in 37 Milliarden Jahren noch Menschen geben würde. Aber einen gab es ja noch und den mussten wir nun finden.
Wir hatten uns in den rückwärtigen Teil des Raumschiffs begeben, da wo unsere Kajüten sich befanden. Die Reise durch das Schwarze Loch hatte an den Nerven gezerrt und uns alle ermüdet. Mit Andrés Rückfall wollte ich mich heute nicht mehr auseinandersetzen. Ich hatte Lira eine Überraschung versprochen und zog sie in meine Kajüte.
>Stimmt, du hast ja was für mich!< freute sich Lira und zeigte ihre makellosen weißen Zähne.
Aus einem der lupenreinen und ebenso weißen Wände ließ sich eine Lade ziehen, aus der ich das Geschenk für meine Freundin hervorholte. Es war eingewickelt in rotes Papier, welches glitzerte aufgrund der goldenen Sterne, die sich darauf befanden – das klassische Weihnachtsgeschenk Papier, dachte ich, aber die Anderraner kannten kein Weihnachten, so war dies auch nicht weiter verfänglich. Im Gegenteil: Unsere Reise durch die Galaxien war ebenfalls ein Geschenk, das Geschenk der Sterne an uns. Ungeduldig begann Lira das Papier – dennoch äußerst vorsichtig – von der darin befindlichen Schatulle zu entfernen. Nach dem Öffnen riss sie ihre Augen auf und konnte es kaum glauben! Zum Vorschein kam eine Kette mit dem Anhänger der herrlich minutiös gestalteten Miniatur unseres kleinen blauen Planeten innerhalb der Milchstraße, nahe der Pegasus-Zwerggalaxie. Beiliegend hatte ich eine Einladung zum Besuch und Verbleib auf der Erde geladen. Die Kette hatte ein begabter Schmuckdesigner auf Arkadia gestaltet nach meinen Vorstellungen; wahrscheinlich hatte zeitgleich mein Freund damit begonnen, den zwielichtigen Doktor aufzusuchen, um sich wieder Drogen zu beschaffen. Ich wurde bei dem Gedanken sofort missmutig und Lira begriff:
>Wegen André?< fragte sie.
Ich erzählte ihr, woran ich gerade dachte. Sie meinte, ich solle besser hinüber gehen und mit ihm reden.
>Vielleicht mache ich das, aber erst stoßen wir an<.
Ich zog aus einer weiteren versteckten Schublade innerhalb der Bordwand eine Flasche arkadischen Mineralwassers hervor und goss zwei Gläser der sprudelnden Flüssigkeit ein. Dann setzten wir uns nahe des Fensters hin und konnten beobachten, wie das All erneut innerhalb seiner normalen Parameter zu funktionieren schien und uns nicht mehr eine schaurig fiktive „Realität“ präsentierte.
>Auf dein Wohl und noch viele glückliche Jahre!<
>Auf die anderranisch-terranische Freundschaft!<
>Die bestimmt noch ausbaufähig ist!<
>Immer positiv denken!<
>Positiv denken – ja!<.
Zur gleichen Zeit in der Suite der beiden Kommandanten Jordan - Eriks Frau hatte Nachholbedarf bei den Logbucheinträgen und begann sehr konzentriert mit der Wiedergabe der aktuellen Situation:
Bordzeit 12.03.45 – wir haben das Wurmloch ohne Beschädigungen und Verluste hinter uns gelassen und halten weiter Kurs auf Planet X. Allerdings hat unsere Doktorin einen leichte Schock erlitten, ich hoffe und denke aber, dass sie sich erholen wird.
Manchmal halte ich unserer Reise für eine Farce. Ich versuche, stark zu sein. Ich vertraue Erik sehr und liebe ihn; er baut auf mich. Nur zu zweit können wir das Schiff wieder wohlbehalten nach Hause bringen in unseren geschützten Hafen auf Arkadia.
Unsere Gäste von der Erde halten sich tapfer. Fähnrich Paul ist ein kluger Kopf, dem man nichts vormachen kann. Ich habe ihn belobigt und schlage ihn für eine Beförderung vor. Mit unseren Verwandten von Anderran haben wir noch eine ganze Menge Arbeit vor uns. Die Fähnriche Lira und Orestes sind sehr motiviert und intelligent und fügen sich gut ein. Wir haben eine hervorragende Mannschaft. An ihr wird die Mission nicht scheitern. Aber kann man wirklich allen Ernstes annehmen, man könne die Zeit überlisten, sie massiv beeinflussen oder gar zurückdrehen?
Es stimmt: Nach unseren Daten sind wir mittels Reise durch das Schwarze Loch beinahe 37 Milliarden Jahre in die Zukunft gereist. Aber zu glauben, das würde ohne Konsequenzen bleiben, halte ich für einen naiven und gefährlichen Glauben.
Was wird passieren, wenn wir diesen Robinson finden und tatsächlich wieder in seine Zeit zurückbringen? Ich fürchte, diese Person hat schon so viel Schaden angerichtet, für eine Reparatur wird es wohl schon zu spät sein.
Und was ist mit den Fremden in ihren monolithischen Raumschiffen, die wir die „Anorganischen“ nennen. Sind sie die Wächter der Zeit, wie ich manchmal glaube?
Wahrscheinlich ist es eher ein Wunsch oder eine Hoffnung, eine fremde Intelligenz möge uns helfen, das Multiversum wieder in Ordnung zu bringen. Denn genau das ist es: Eine Unordnung, ein Chaos - und wir Arkadier mögen keine Unordnung! Aber, da muss man auch ehrlich sein, wir haben sie auch mitverursacht. Ich mache jetzt Schluss, denn Erik erbittet die Übernahme auf der Brücke. Ich freue mich, wenn wir beide zusammen mal wieder frei haben – nur für uns alleine sind!
Laura Jordan atmete tief durch, straffte ihren Anzug und verließ die Suite, um erneut ihren Dienst auf der Brücke anzutreten und ihren Mann abzulösen.



Wenn in 250 Millionen Jahren die Sonne ihre Fusionsaktivitäten verstärken wird, wird der Gehalt des Sauerstoffs und Kohlendioxids auf der Erde sinken. Die Pflanzen haben Schwierigkeiten, die Photosynthese in Gang zu halten. Die Temperaturen steigen. Die Gesamtheit der Biodiversität wird abnehmen. Pangäa Ultima wird der kommende letzte Riesenkontinent genannt, der von einem kleinen Binnenmeer umgeben sein wird. Weiter außen liegt dann ein völlig leeres Ozeanbecken, dessen Wasser in den Subduktionszonen verschwunden sein wird oder verdampft ist. Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Erde liegt dann bei 30 Grad Celsius. Das Zentralgestirn der Erde wird deutlich größer am Himmel erscheinen und seine rötliche Farbe wird immer stärker das blasse Gelb von einst ablösen. In einer Milliarde Jahren wird sich die Sonne zu einem Roten Riesen aufgeblasen haben und die Erde in der Folge verbrennen, aufschmelzen und die explodierenden Reste des einstigen blauen Planeten schließlich seiner eigenen Sphäre wieder hinzufügen.
>Sollen wir nicht besser wieder zurück in unsere Zeit?< war die eher rhetorische Frage von Ibrahim, die Stavros auch prompt mit einem klaren „Nein!“ parierte.
Es war die dritte Station ihrer Reise durch die Zeit. Nachdem sie den antiken Piraten entkommen und vor der sengenden Sonne in der Salzpfanne des ehemaligen Mittelmeeres fliehen konnten, waren sie jetzt an einem Endpunkt in der Entwicklung der Erdgeschichte angelangt, die dem organischen Leben immer weniger zugetan war.
>Das ist ein so verdammt kluger Apparat, der wird uns schon nicht im Stich lassen< versuchte Stavros seinen Freund zu beruhigen.
Beide waren deutlich gealtert, es schien ihnen aber nicht bewusst zu sein. Die Haare waren grau und die Bärte lang geworden. Auch wenn der Multiverser längst nicht so „klug“ war, wie der kretische Fischer meinte, so besaß er dennoch eine äußerst ausgeklügelte Sensorik, die sie beim nächsten Sprung durch die Zeit auf einen erdähnlichen Planeten transferieren würde, denn ein Leben auf der terranischen Erde würde für Menschen schon sehr bald nicht mehr möglich sein ohne besondere Schutzkleidung und Behausungen unter der Erde, denn auch die Strahlenbelastung würde immer mehr zunehmen.
>Die erinnern mich an Akazien< deutete Ibrahim auf eine Gruppe halb vertrockneter Bäume, deren stachelige Äste in eine gnadenlose Umwelt ragten.
>Ob es wohl noch Menschen gibt?< fuhr Ibrahim fort.
>Wir können ja nach ihnen suchen<
>Das meinst du doch nicht ernst?<.
>Wir brauchen gar nicht zu suchen, da kommen nämlich schon welche!< Stavros deutete auf zwei zerlumpte Kerle, die mit Spitzhacken und Spaten bewaffnet auf die beiden Freunde zukamen. Die Männer sahen aus wie Goldsucher, denen schon sehr lange kein Fund mehr gelungen war und vor einiger Zeit die Grenze zwischen Alaska und den USA verlassen hatten.
>Hallo ihr zwei – wohl auch vom Pech verfolgt?!< meinte der Eine, der sich nachfolgend als Harry aus Arkansas vorstellte. Der Klondike wäre auch nicht mehr das, was er einmal war, meinte der Andere – Greg genannt; da drüben würde man sich gegenseitig den Schädel einschlagen für eine Unze Goldstaub.
>Klondike, Arkansas...ich verstehe nicht< Ibrahim schaute verwirrt zu seinem Freund herüber.
>Psst – die sollten besser nicht merken, wer wir wirklich sind. Wir spielen das Spiel mal mit< antwortete Stavros und setzte in Richtung der Fremden hinzu:
>Wir haben es einige Kilometer von hier probiert, leider erfolglos<.
Offensichtlich trafen an diesem Ort und zu dieser Zeit zwei völlig verschiedene Zeitstränge aufeinander. Sie schienen das zu sein, was man als die Paradoxien in der Raumzeit bezeichnete. Aber eigentlich waren sie eher die Folgen des Eingreifens in andere Zeitlinien. Hier hatte sich ein Zeitstrang des späten 19. Jahrhunderts, 250 Millionen Jahre in die Zukunft verlagert. Als sich die beiden Neuankömmlinge neben Stavros und Ibrahim hinsetzten, zog Greg völlig unvermittelt ein Messer und stach Ibrahim das Eisen bis zum Schaft in die linke Brust. Zur gleichen Zeit konnte Stavros gerade eben noch eine Attacke des anderen Mannes abwehren und ihn niederschlagen. Nun stand er Greg gegenüber, der nervös mit dem Messer drohte:
>Her mit der Kohle, oder ich murks dich auch ab!<
>Da hast du Pech, mein Junge!< Stavros hatte einst, als er die deutsche Maschine für sein Boot bekam, auch eine Pistole aus dem Land im Norden ergattert – für alle Fälle. Ohne zu zögern zog der Kreter die Waffe und feuerte einen Schuss auf den Angreifer ab, genau zwischen die Augen. Greg stürzte wie vom Blitz getroffen nach hinten in den Staub der Zukunft. Sofort kümmerte sich Stavros um seinen Freund, der aber nur noch ein paar unverständliche Wort in sein Ohr stammelte, dann verstarb Ibrahim. Er ließ den Leichnam langsam niedersinken, lud erneut die Pistole, ging zu dem bewusstlosen Harry hinüber und gab auch auf seinen Kopf einen finalen Schuss ab. Nun war er alleine. Was folgte, war eine Leichenfledderei: Alles, was Stavros irgendwie brauchbar erschien, nahm er den toten Angreifern ab. Darunter befand sich vor allem Trinkwasser und Proviant, eine Uhr, das Messer, welches seinem Freund das Leben gekostet hatte und ein paar Lederstiefel.
Als er seinen Freund beerdigt hatte im Sand von Pangäa Ultima, schlich er zurück zu dem toten Greg, schnitt ihm ein Ohr ab, wickelte es in ein Taschentuch und verstaute es in einem Rucksack, den er ebenfalls einem der Toten entwendet hatte. Zuletzt gab Stavros eine lange, sehr lange Zahlenkolonne in den Multiverser ein und verschwand von diesem Ort.



>Es ist nicht, wie du denkst – das sind nur Valium!< entschuldigte sich André, als ich ihn auf meinen Verdacht angesprochen hatte.
>Schlimm genug!< meinte ich.
>Ich habe hervorragende dämpfende Mittel, die nicht süchtig machen< entgegnete Lira, die sehr bemüht war, meinem Freund André wieder auf die Beine zu helfen. André bedankte sich dafür, ließ aber keine besondere Begeisterung aufkommen bei dem Gedanken an Baldrian, Hopfen und Melisse.
>Ihr könnt meine Eintragungen im Logbuch lesen< bot uns André an, seine Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Ich empfand das als kindisch und total überzogen.
>Du belügst in erster Linie dich selbst, wenn du Geschichten um deine Sucht erfindest< meinte ich folgerichtig.
Draußen zogen ein paar Sterne an dem kleinen rechteckigen Fenster vorbei. Viele waren es nicht, aber immerhin, dachte ich. In den lichtverschmutzten Zonen unserer Großstädte konnte man selbst bei klarem Nachthimmel kaum noch die solaren Begleiter unserer Milchstraße erkennen. Schließlich leuchtete neben dem Bordfenster eine kleine rote Lampe auf, die uns signalisierte, dass es Zeit war, die Messe aufzusuchen. Wir hatten dort ein Meeting. Wäre zusätzlich ein Alarmton erklungen, hätten wir sofort die Brücke aufsuchen müssen.
>Gehen wir!< brach ich unser Gespräch ab.
Ich besaß ohnehin keine großen Ambitionen mehr, den Part eines Therapeuten zu übernehmen. In der Vergangenheit hatte ich schon zu viel Energie aufgebracht, um meinen Freund vor dem Schlimmsten zu bewahren und war über meine ernsthaften aber letztlich erfolglosen Bemühungen selber krank geworden. Für die Zukunft wollte ich mir dieses Los ersparen und entschloss mich zu deutlicher Zurückhaltung.
Auf dem Flur trafen wir Orestes, der sich uns sogleich anschloss, um die Messe aufzusuchen. Die Jordans und der dicke Bolo saßen bereits an ihren Tischen und erwarteten uns; wir waren aber nicht zu spät und mussten deshalb auch nicht befürchten, gemaßregelt zu werden, was schon einmal vorgekommen war und ich als sehr peinlich empfand, da ich Pünktlichkeit sehr hoch einschätzte. Wenn man die Messlatte sehr hoch gelegt hatte, sie aber selbst unterlief und es nicht gelang sie zu überspringen, dann war das immer sehr enttäuschend für mich. Disziplin, Ehrgeiz und Wille und die unbedingte Pünktlichkeit waren für mich die Bausteine, auf denen man ein erfolgreiches Unternehmen entwickeln konnte. Allerdings gehörte manchmal auch eine gehörige Portion Glück dazu. Der militaristische Hintergrund bezüglich der sogenannten preußischen Tugenden hatte mich immer geärgert, aber letztlich hatte der autoritäre preußische Staat die durchaus löblichen Eigenschaften seiner Untertanen für seine eigenen imperialen Interessen missbraucht. Ich war hingegen so pragmatisch angelegt in meinen Interpretationen, dass ich eine Meinung herauskristallisierte, die es mir erlaubte, diese Tugenden in einer Zivilgesellschaft als durchaus nützlich einzustufen. Hätte man mir diesbezüglich Opportunismus vorgeworfen, hätte ich diesen wohl nur schwerlich entkräften können. Ich dachte, mein alter Ego aus dem Multiversum – der gute Tom – hätte mir bei dieser Gesamteinschätzung durchaus Recht gegeben.
>Bitte setzen sie sich!< begrüßte uns Erik Jordan >Wir haben wichtige Mitteilungen für sie<.
Wer fehlte, war die Ärztin.
>Unsere Doktorin bittet darum, sie zu entschuldigen, sie kommt vielleicht später noch hinzu< klärte uns Laura Jordan schließlich auf, sagte aber nicht, was der Grund ihrer Absenz sei.
Nachdem wir alle Platz genommen hatten, kam der Kommandant auch schon zur Sache:
>Ingenieur Conceptor hat das Signal von Robinson lokalisiert< Bolo grinste deutlich durch seinen dichten Vollbart >Wir werden den Planeten nach einem Swing-by-Manöver erreicht haben<. Dann meldete sich der Ingenieur zu Wort:
>Die Berechnungen für das Manöver liegen vor. Ich habe sie der aktuellen Situation angepasst. Ich sehe keine Schwierigkeiten bei der Bewältigung der weiteren Reise. Wir werden Planet X in...< Bolo schaute auf seine Armbanduhr >Bordzeit 12.03.53 erreichen<.
>Danke, Bolo!< erwiderte der Kommandant >Kommen wir zu Punkt Zwei. Wie sie wissen, haben wir zwei Raumgleiter an Bord unseres Schiffes. Ich möchte, dass sie unterwiesen werden in der Bedienung der Gleiter. Sie werden zum Einsatz kommen, wenn wir den Planeten erreichen und Robinson ausfindig machen, um ihn anschließend an Bord der „Antares“ zu bringen<.
>Wann findet die Unterweisung statt?< wollte ich sofort wissen. Ich war mal wieder ungeduldig.
>Nach dem Meeting< antwortete Laura Jordan >Der Kommandant fliegt eines der Shuttle mit ihnen Fähnrich Orestes und Fähnrich André und ich übernehme den Part des Ausbilders für sie Fähnrich Paul und Fähnrich Lira<.
Bolo Conceptor würde alleine die Brücke besetzt halten und unsere Flugmanöver überwachen. Die Ärztin war zu diesem Zeitpunkt immer noch abwesend und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mit ihr geschehen war. Ich war der Meinung gewesen, dass sie sich von den Folgen der Reise durch das supermassive Schwarze Loch erholt hätte.
>Abschließend haben wir noch eine erfreuliche Nachricht, was die künftigen Ränge an Bord anbelangt. Sie, Fähnrich Paul, sind mit sofortiger Wirkung in den Rang eines Leutnants erhoben, weil sie sich durch ihr kluges Verhalten, welches durch ihre überaus große Achtsamkeit immer wieder zum Ausdruck kommt, besonders verdient gemacht haben. Die Fähnriche André, Orestes und Lira werden zu Oberfähnrichen ernannt aufgrund ihrer hohen Motivation und dem vorbildlichen Gesamtverhalten an Bord sowie während der Grundausbildung auf Arkadia<.
Laura Jordan hatte geendet und ihr Ehemann „hübschte“ unserer Uniformlitzen entsprechend mit weiteren roten Sonnen und gelben Strahlen auf. Lira und Orestes waren absolut verblüfft, André schaute stoisch drein und ich hatte das schon erwartet. Wie schnell man bei den Arkadiern befördert wurde, erschien mir allerdings ein wenig verwirrend. Wenn ich so weiter mache, könnte ich es zum Kapitän bringen auf unserer Rückreise, schoss es mir durch den Kopf. Dann wurde mir die Sache doch etwas unheimlich, wenn man bedenkt, dass ich einst auf der Erde für meine Verweigerung, den Militärdienst zu verrichten, beinahe in den Knast marschiert wäre. Ich beschloss, nichts zu überstürzen, weiterhin achtsam zu sein, aber ich wollte nicht wirklich Karriere machen in einem Bereich, der militärisch organisiert war. Nun war die „Antares“ zwar kein ausgewiesenes Kriegsschiff, unterstand aber dennoch einer Institution auf Arkadia, die sowohl zivile als auch militärische Aufgaben wahrnahm. Ich fühlte mich in einer solchen Kommandostruktur und einer Organisation, die auch militärisch ausgerichtet war, nicht wirklich wohl. Mir war absolut klar, dass ich nach Erreichen des arkadischen Hafens meinen Abschied einreichen und die Uniform an den Nagel hängen würde.
>Meinen herzlichen Glückwunsch!<.
Die Kommandanten Jordan schüttelten jedem von uns die Hände und gar ein seltenes Lächeln huschte über die Lippen unserer Schiffsführer, die sicherlich in redlicher und überzeugter Absicht uns die Beförderungen angedeihen ließen, davon war ich überzeugt. Aber nun freute ich mich auf meinen ersten Flug in einem Raumgleiter. Das würde sicherlich ein Spaß werden!




Stavros hatte nichts zu verlieren. Zeit seines Lebens war er ein Außenseiter. Seine Kollegen, die ebenfalls Fischer gewesen waren, hatten ihn meist gemieden. Was ihn am Leben gehalten hatte, war das Wissen, dass es hinter dem Horizont noch etwas gab, von dem die anderen niemals auch nur wagten zu träumen. In seinen Augen waren die Männer allesamt von beschränkter Geisteshaltung und äußerst hinterwäldlerisch. So einen Augenblick, wie mit dem Fund des Zeitreisegerätes hatte Stavros sich ersehnt, aber nicht wirklich geglaubt, dass dieser Traum je in Erfüllung gehen würde. Auf alle Fälle war dies die Geschichte seines Lebens, diesen Fisch, den er da an Land gezogen hatte, würde er niemals wieder hergeben – nur über meine Leiche, dachte er, als er auf der anderen Seite des Portals auf einem anderen Planeten erneut materialisierte.
Im Halbdunkel stand am Himmel eine kleine weiße Sonne, die sich deutlich von der Irdischen unterschied, in ihrer Größe sowie im Abstand zu ihrem Begleiter. Die Luft war rein und klar, entbehrte aber jeglicher Düfte; Blütenpflanzen gab es nicht und damit auch keine bestäubenden Insekten. Nur schemenhaft konnte der kretische Fischer im blass fahlen Licht die Gestalten einiger blattlosen Bäume und Büsche erkennen, die in der Nähe wuchsen. In der Ferne war eine Bergkette zu sehen, nicht besonders mächtig, eher ein Mittelgebirge ohne Herausbildung von Eis und Gletschern. Es war bei seiner Ankunft angenehm mild und die sonderbaren Geräusche, die an sein Ohr drangen, erinnerten ein wenig an das Gezirpe von Heuschrecken, waren aber in der Tonlage deutlich tiefer angesiedelt. Intuitiv wusste Stavros, dass er die irdische Heimatwelt hinter sich gelassen hatte und nun völlig auf sich allein gestellt war. Aber es machte ihm keine Angst und so beschloss er, völlig rational und gelassen im Gemüt, ein Lager aufzuschlagen für die Nacht. Die hinterhältigen Goldgräber hatten ihm eine goldene Brücke gebaut mit ihrer brutalen Raffgier. Ihre Sachen konnte er gut gebrauchen für die Erforschung dieser neuen Erde. Morgen, so dachte Stavros, werde ich die Gegend nach Süßwasser und jagdbarem Wild absuchen. Vielleicht gibt es auch Seen und Fische. Und dann bemerkte er, dass er müde geworden war und seine Glieder ein wenig schmerzten; der Rücken tat ihm weh. Als Stavros sein Antlitz in einem kleinen Barbierspiegel betrachtete, den er in einem der Rucksäcke der Toten gefunden hatte, erschreckte er sich: Die Spuren einer deutlichen Alterung waren unverkennbar. Tiefe Furchen hatten sich in die wettergegerbte Haut gebrannt. Er war ganz offensichtlich schneller gealtert, als je ein Mensch zuvor. Das ist eben der Preis dieses Lotteriegewinns, versuchte sich Stavros zu beruhigen. Über den Schock halfen diese Gedanken ein wenig hinweg und sie milderten seine leicht depressive Stimmung.
Nachdem er das Spitzzelt eines der Goldgräber aufgebaut und sich einen Schluck Wasser genehmigt hatte aus einer der Feldflaschen, grub er ein kleines Loch und bettete das abgeschnittene Ohr von Greg zur letzten Ruhe. Stavros war sich absolut sicher, dass er seine neue Heimat gefunden hatte, sprach ein kurzes Gebet, in dem er die göttlichen Instanzen um Verzeihung bat für die zwei von ihm getöteten Männer. Der Kreter glaubte zwar nicht unbedingt an den einen christlichen Gott, aber das stand in keinem Widerspruch zu seinen philosophischen Betrachtungen. Die Altvorderen in den antiken Polis hatten auch nicht wirklich den göttlichen Olymp negiert, wenn sie mit neuen Philosophien über das Leben im Allgemeinen und Speziellen aufwarteten. Dennoch hatte er ein schlechtes Gewissen, daher würde eine kleine Botschaft an die unbekannten Göttlichkeiten bestimmt nicht schaden.
Er wusste zwar, dass er in Notwehr gehandelt hatte, aber die Kaltblütigkeit, mit der er Greg und Harry erschossen hatte, erschreckte ihn dann doch. Ibrahim! Ja, er hatte seinen besten Freund verloren, seinen einzigen Freund. Das schmerzte und hinterließ ein dumpfes Gefühl von Trauer und Verlassensein. Stavros wusste: Der Mensch war ein soziales Wesen und konnte auf Dauer ohne seinesgleichen nicht überleben. Die totale Isolation würde zu Schwachsinn, Paranoia und Tod führen. 1719 war „Robinson Crusoe“ erstmals veröffentlicht worden; sein Autor, Daniel Defoe, hatte virtuos mit den Stimmungen von Einsamkeit und Isolation gespielt. In der Bibliothek des Fischers hatte das Buch einen Ehrenplatz. Morgen würde er sich auf die Suche machen nach Leben auf diesem Planeten. Wenn es dieses Leben denn gab.

Der „Morgen“ nahm kein Ende. Was Stavros nicht wusste: Er befand sich an einer Stelle auf dem Planeten, der immerzu die gleiche Seite einer Sonne zuwandte, die theoretisch eine Billion Jahre alt werden konnte, also wesentlich älter als das Universum selbst! Der Planet des Roten Zwergs – auch wenn er ansonsten einem gewöhnlichen Gesteinsplaneten glich – hatte aufgrund der geringen Nähe zu seiner Sonne nicht die Kraft zur Eigenrotation, er unterlag stattdessen der sogenannten gebundenen Rotation, die von seinem Gestirn bewirkt wurde. Daher gab es eine permanent dunkle, der Sonne abgewandten Seite und eine, die ständig dem Stern zugewandt war, ähnlich wie bei der Konstellation Mond/ Erde. Die geringe Leuchtkraft Roter Zwerge konnte keine so große Helligkeit erzeugen, wie man sie von der Sonne der Erde oder von Anderran her kannte. Der kretische Fischer befand sich zudem genau an der Grenze von Tag- und Nachtseite. Wollte er die Fülle des Tageslichtes wahrnehmen, musste Stavros die dem Stern zugeneigte Seite erwandern. Wollte er hingegen eine völlig dunkle Nacht erleben, würde er die lange Wanderung auf sich nehmen müssen, die ihn auf die ständig abgewandte Seite des Planeten führen würde. Das Licht des Roten Zwergs erschien deshalb nicht rot, weil der Rotanteil von der Atmosphäre absorbiert wurde. Im Weltraum käme dagegen das Rot zur vollen Entfaltung.
Hier jedoch in der Grenzlage des Planeten wurde es nie richtig hell und auch nicht wirklich dunkel. Dennoch war dieser Bezirk der einzige, der relativ habitable Lebensbedingungen hervorbrachte. Die Temperaturen waren gemäßigt und die schädlichen Strahlen der Sonne hatten hier nur geringe Auswirkungen auf den zellularen Aufbau lebender Organismen. Über die Dauer mehrerer Milliarden Jahre konnte sich in dieser Zone niederes Leben entwickeln; für eine höherstehende Entfaltung der Arten aber reichten die Bedingungen nicht aus. Weil Planet X keinen Mond besaß, der seine Achse stabilisierte, schwankte und taumelte er durchs All. Dies führte zu fatalen Klimaschwankungen, die die Evolutionsketten immer wieder einbrechen ließen. In seiner Entstehungsgeschichte hatte der Planet mehrere katastrophale globale Eiszeiten erlebt sowie apokalyptische Hitzeperioden, die das Wasser verdampfen ließen und das einstmals zarte Grün dieser Erde verdorren ließ. Nach vielen Jahren verhältnismäßiger Stabilität hatten sich die Bedingungen für das Leben etwas gebessert und vor allem im Binnenmeer auf der Tagseite hatte es zwar keine kambrische Explosion gegeben mit seiner Vielzahl von Fischen, Algen, Säugetieren und Korallen, aber immerhin hatten sich Panzerfische und diverse Krebstiere entwickeln können. Der geringe Abstand zur Sonne von gerade mal 300 Tausend Kilometern – in etwa der Abstand Erde/ Mond – führte zu einer enormen Belastung durch schädliche Bestrahlung, darum mussten die Organismen sich schützen und legten sich harte dicke Schalen zu oder verkrochen sich unter die Erde.
Als Stavros am nächsten Morgen dem Zelt entstieg, konnte er neben der Sonne einen weiteren Trabanten erkennen. Es handelte sich um keinen Mond, sondern um einen der insgesamt sechs planetaren Begleiter dieses Sonnensystems. Sie alle wandelten in einem äußerst geringen Abstand zu ihrer Sonne, was nur so Leben ermöglichen konnte, weil der Rote Zwerg längst nicht die Energie aufbrachte, die für eine nennenswerte Evolution nötig gewesen wäre. Der riesige Planet, den Stavros sah, war soeben dabei, an der Sonne vorüberzuziehen und bedeckte schon einen Teil der kleinen weißen Scheibe. Gleich wird es eine Sonnenfinsternis geben, erkannte Stavros folgerichtig. Da stehe ich auf und schon wird es wieder dunkel, dachte der Fischer, hoffentlich ist das kein böses Omen. Tatsächlich hatte der vorüberziehende Planet teilweise die Funktion eines Mondes übernommen und draußen auf dem Meer würde sich gleich eine gigantische Flutwelle auftürmen und große Teile der Küstenlinien überschwemmen.
Alle drei Wochen trat dieses Phänomen von Ebbe und Flut auf, immer dann, wenn der Planet bei seinem Transit die Bahn von Planet X kreuzte. Könnte ich nur von da oben auf diese Welt schauen, dann wüsste ich, wie es auf diesem Planeten aussieht, könnte mir einen guten Überblick verschaffen, sinnierte Stavros; er wollte aber erst einmal abwarten. Der Kreter hatte Glück: Die Goldgräber hatten einen großzügigen Vorrat an Konserven in ihren Rucksäcken gehabt sowie Kochgeschirr. Er würde sich, bevor er die Gegend erkundet, ein ordentliches Frühstück zubereiten.



Die „Beteigeuze“ hatte mehrere Warnschüsse auf die Monolithen abgegeben. Diese hielten aber völlig unbeeindruckt an ihrem einmal eingeschlagenen Kurs fest und der brachte sie immer näher heran an die Welten der Anderraner und Arkadier. Der Kommandant der „Beteigeuze“ hatte daraufhin den strategischen Rückzug angeordnet und die Basis auf ihrem Heimatmond angesteuert. Später dann berieten im anderranischen Observatorium von Katenam allerlei Fachleute die neu eingetretene Situation. Über ihren Köpfen in einer geostationären Position hatte inzwischen einer der gigantischen Monolithen regungslos verharrt. Der Zweite hielt Station über Arkadia. Der Versuch, mit ihnen eine Kommunikation herzustellen, war kläglich gescheitert. Die Monolithen dort oben, künstlichen Monden gleich, strahlten eine latente Gefahr aus, die niemand auch nur annähernd genau einschätzen konnte. Nur eines schien klar: Hätte die fremde Spezies vorgehabt, ihre Zivilisationen zu vernichten, dann hätte sie mit ihrem Angriffen längst beginnen können. Entweder zögerten sie aus unbekannten Gründen oder sie verfolgten Pläne, die ebenso im Dunkeln lagen, wie ihre Raumschiffe.
>Ihr seid schließlich Schuld, ihr habt die Fremden beklaut, und jetzt wollen sie sich rächen!<
>Wer hat denn mit den Multiversern erst diese Situation heraufbeschworen?! Im Übrigen: Niemand hat irgendwen beklaut!“
>Imperialisten, ihr!<
>Chaoten - anarchistische Chaoten!<
>Technokraten und Ignoranten!<.
Auch die Kommunikation zwischen den ungleichen Geschwistern von Arkadia und Anderran hatte gelitten. Nachdem man zuvor einen geregelten Austausch der verschiedensten Personengruppen beschlossen und Arkadia sich bereit erklärt hatte, Malekko und seine Leute bei sich aufzunehmen, sah es nach einem vielversprechenden Auftakt einer Ära der guten Beziehungen zwischen beiden Welten aus. Mit dem Erscheinen der fremden Schiffe aber schien das neue filigrane politische Projekt auch schon gescheitert – bevor es überhaupt richtig an Fahrt aufgenommen hatte.
>Das ist überaus bedauerlich< konstatierte Gondvira, die sich ursprünglich aus der Politik zurückziehen wollte.
Leartas, der als Mediator fungieren sollte, hatte die Situation ebenso wenig retten können, wie der psychologisch geschulte arkadische Mathematiker Hirat Ludobag. Beide waren außerordentlich betrübt, wollten aber nicht aufgeben und betrieben im letzten Moment eine erneute Kontaktaufnahme für ein Folgegespräch am nächsten Tag.
>Wir dürfen nicht vergessen, was wir schon alles erreicht haben und welche Chancen auch in Gefahren verborgen liegen< versuchte Leartas, Optimismus zu versprühen.
Gondvira konnte nicht so recht daran glauben und nahm eine von den Beruhigungspillen, die sie von Lesalee erhalten hatte - mit der Bitte - die Medikamente entsprechend der beiliegenden Anweisung einzunehmen, das hieß, sie nicht zu überdosieren, weil sie einen leicht Sucht fördernden Charakter besaßen. Zudem hatte ihr die Freundin geraten, sich in therapeutische Behandlung zu begeben und ihren Lebensstil zu ändern. „Ja, Ja“ hatte sie leicht genervt geantwortet „Mach ich schon“.
Nun stand die Astronomin erneut an ihrem Arbeitsgerät, dem Fernrohr von Katenam. Dies war eindeutig ihre Lieblingsbeschäftigung. Die Weiten des Alls hatten sie schon immer fasziniert. Als die Technik der Fernbeobachtung so ausgereift war, dass man auch Oberflächenstrukturen auf fernen Welten erkennen konnte, kannte die Begeisterung der Frau keine Grenzen mehr. Was sie nun allerdings sah, entsprach nicht mehr ihrem Faible für Planeten und ferne Welten: Diese gewaltigen schwarzen Rechtecke, vor dem Hintergrund des dunklen Alls kaum auszumachen, betäubten die Sinne und ließen sie spüren, wie klein und unbedeutend sie alle waren. Eine Zivilisation, die solch monumentale Raumschiffe herstellen konnte und mit fantastischer Geschwindigkeit durch das All zu reisen, diese Erbauer waren den Anderranern in allen Belangen überlegen, so schien es ihr jedenfalls.
>Darf ich auch mal?< drängte die schüchterne Bel, auch einen Blick durch das Teleskop zu werfen.
Die junge Geomorphologin beabsichtigte, ein neues Aufgabenfeld für sich zu erschließen nach den erschütternden Vorgängen auf der Insel Vik, wo sich ihr Kollege Raf in die Luft gesprengt hatte, um die Forschergruppe vor dem Angriff der Terroristen zu retten.
>Ja, natürlich, Bel – entschuldige bitte!< Gondvira gab sofort das Fernrohr frei.
Sie hielt die junge Frau für eine äußerst vielversprechende Fachkraft und überaus sympathische Person und wollte ihr gerne helfen bei der Ausgestaltung neuer beruflicher Perspektiven.
>Äußerst beeindruckend!< als Morphologin schien die Frau ihr perfektes Material im anderranischen Orbit entdeckt zu haben.
>Ja, das ist es – und bedrohlich!< Gondvira machte das „Ding“ eher Angst. Im Kreise ihrer Kollegen nannte sie die Monolithen immer öfter „Dinger“.
>Von absoluter Reinheit und Eleganz!< Bel, eher bekannt als zurückhaltend und introvertiert, entwickelte eine schier grenzenlose Begeisterung für die dunklen Giganten.
Just in diesem Moment zog eines der arkadischen Shuttles an dem Monolith vorüber auf seiner Rückreise zu ihrem Mond. Erst jetzt konnte Bel erahnen wie groß die Teile wirklich waren. Das übertraf alles, was man für technisch machbar hielt. So etwas konnte nur aus den entferntesten Winkeln des Multiversums kommen. Als das Raumschiff der Arkadier über dem Flugfeld von Katenam erschienen war und bei weitem den riesigen Zeppelin der anderranischen Umstürzler in den Schatten gestellt hatte, was seine Ausmaße anbelangte, so drängte die jetzige Szenerie die von einst in das Reich von Spielzeugen und Miniaturen.
>Gondvira – das musst du dir ansehen!< Bel schwenkte das Teleskop in Reichweite der ungeduldigen Astronomin:
>Ich sehe es – es ist das Shuttle mit den vier Emissären von Arkadia, und Leartas ist mit an Bord<.
Gerade in dem Moment, als das Shuttle den Monolithen endgültig hinter sich lassen wollte und weiter Kurs zu nehmen schien auf den Mond von Anderran, kam es zum Stillstand.
>Oh nein! Leartas!< rief Gondvira. Der Philosoph konnte sie natürlich nicht hören >Der Monolith zieht die Fähre hinein!<.
An einer der Seiten des gigantischen Bauwerks hatte sich unmerklich eine Luke geöffnet und ganz langsam, aber deutlich zu erkennen hatte das Shuttle seinen Kurs geändert und verschwand in dem monströsen Leib des geometrischen Monsters.
>Nein, nein, nein…!< Gondvira machte einen Schritt zurück, sie konnte und wollte da nicht mehr hinsehen. Bel übernahm für sie die weitere Beobachtung.
>Es ist alles ruhig. Sie sind verschwunden. Es ist aber nichts passiert!< das sollte heißen, besser so, als wenn die Fremden sie abgeschossen hätten auf ihrem Flug nach Arkadia.
Bel ließ nun ebenfalls ab von dem Instrument und begleitete Gondvira an einen Tisch, wo sich beide hinsetzten, um erst einmal die Situation zu verdauen. Das war schlimm, aber es hätte noch schlimmer kommen können. Vielleicht wollten die Fremden nur „Hallo!“ sagen, meinte Bel, und Leartas wäre genau der Richtige für ein Gespräch mit den Besuchern aus dem Coma-Virgo Supergalaxienhaufen.
>Reich mir mal die Tasche rüber!< bat die Astronomin. Gondvira suchte das Pillendöschen und fand es auch, entnahm eine Tablette und schluckte sie ohne weitere Flüssigkeitszufuhr.
>Hier, trink etwas!< Bel hatte der Astronomin ein Glas mit Wasser gereicht, welches sie nun doch in einem Schluck herunterspülte.
>Alles in Ordnung?< erkundigte sich Bel nach ihrem Befinden.
>Besser!< meinte die Astronomin erleichtert >Besser!<.


Bolo Conceptor hatte die Jordans darüber informiert, dass etwas mit der Ärztin nicht stimmte. Unsere Flugstunden mussten wir bedauerlicherweise schon nach kurzer Zeit abbrechen und kehrten zurück an Bord der „Antares“, wo sich gerade die Landeluke geschlossen hatte. Strahlend schön und in geschmeidige Form gegossen standen sie da, die silbernen Jets der Arkadier. Sie besaßen eine wirklich unglaubliche Genialität bei der Konstruktion ihrer Raumschiffe und brachten die praktischen Anforderungen, die ein Gerät erbringen mussten, in einen raffinierten Einklang mit einer absolut überzeugenden Ästhetik. „Genug der Schwärmerei!“ dachte ich bei mir, als es durch die Korridore zur Station der Ärztin ging.
>Doktor Mueller! Amanda – melden sie sich!< Laura Jordan sprach mit energischer Stimme in den Kommunikator, den sie leicht zitternd in der rechten Hand vor ihren Mund gepresst hielt.
Bolo hatte uns über Funk mitgeteilt, dass er das Signal der Ärztin verloren hatte. Normalerweise war jeder Mensch zu jeder Zeit auf dem Schiff zu orten, aber bei der Ärztin schien es, als wenn sie dem Schiff entschwinden würde. Jedenfalls wurde das Signal schwächer und schwächer, bis es ganz verschwand.
>Hol mir mal jemand ein Eisen!< befahl der Kommandant.
Neben der Krankenstation befand sich eine Gerätekammer mit allerlei Ersatzteilen. Ich entschwand sofort in dem Raum und fand auch prompt ein Metallteil mit einem abgeflachten Schaft am Ende. Ich hatte keine Ahnung, wofür es normalerweise taugte, war aber auch egal, weil es seine Aufgabe voll und ganz erfüllte, denn Erik Jordan konnte damit die beiden Türen auseinander drücken und wir schlüpften durch den schmalen Spalt hindurch in das Reich unserer vermeintlichen Ärztin. Die lag auf einem Notfallbett und begann, sich zu entmaterialisieren, das heißt, ihre körperlichen Strukturen begannen zu zerfallen. Alles an ihr schien in Fluss zu sein und in einen anderen Aggregatzustand überzugehen.
>Was ist das?< voll Ekel und Abscheu wandte sich Orestes sofort wieder ab von dem Körper, der einst der Ärztin gehörte. Dann erbrach sich der junge Mann über einem der Spültische und ließ sogleich Wasser nachlaufen. Lira stand bei ihm und streichelte fürsorglich seinen Rücken.
>Bolo – kommen sie sofort in die Krankenstation!< orderte der Kapitän unseren Chefingenieur herbei >Laura, bitte übernehme du die Brücke und nimm Oberfähnrich André mit!<.
>Ich habe so etwas schon mal gesehen< Erik Jordan schaute mich an, als wolle er sagen „Sie bestimmt doch auch, oder?“.
>Ich bedaure!< ich zuckte mit den Schultern und signalisierte damit, dass ich keine Ahnung hatte.
Der Kommandant schob seine linke Hand unter den Kopf der Ärztin oder was immer das auch war, was da lag, hob ihn an und senkte seinen Kopf, um das leise Stammeln der Person zu verstehen:
>Sie sagt...< übersetzte der Kommandant für uns Anwesende >Verbrechen...an...der...Zeit...zurück...alle...Nullpunkt...<.
Dann kam auch schon Bolo Conceptor hinzu und schob völlig ungeniert unseren Kapitän beiseite, der absolut verdutzt tatsächlich Platz machte für den kleinen dicken Mann.
>Amanda, Amanda...hörst du mich?< Bolo brüllte ihr förmlich in die Ohren, oder was davon noch übrig war.
Inzwischen überzog so etwas wie ein schleimiger Film ihren ganzen Körper und die natürliche Farbe der Haut begann sich in fluktuierende Farbmuster aufzulösen. Die gesamte DNA und der zellulare Aufbau dessen, was die Frau einmal ausgemacht hatte, schien sich ins Jenseitige zu verabschieden.
>Das wird ein Klon gewesen sein oder eine völlig fremde Lebensform< meinte Lira, die nachdem sie sich um Orestes gekümmert hatte, an dem Körper der Ärztin einen Abstrich vornahm.
>Das muss sofort untersucht werden!< setzte Lira hinzu, die einige Semester Medizin studiert hatte, was sie mir bis dahin noch gar nicht erzählt hatte.
>Würden sie das übernehmen, Oberfähnrich Lira?!< Erik Jordan war klar, dass er nach dem Verlust der Ärztin ein massives Problem hatte, er musste unter allen Umständen eine funktionierende Besatzung zur Verfügung haben, da war jedes Mitglied mit medizinischen Kenntnissen von überaus großer Bedeutung. Er konnte auf meine Freundin bauen, das wusste ich.
>Ja, natürlich. Ich beginne sofort mit der Analyse der Proben< kam Lira der Bitte des Kapitäns nach.
Das sind die Anorganischen, sie haben unsere Gesellschaft längst infiltriert, fuhr es Erik Jordan durch den Kopf, der immer noch ziemlich ratlos inmitten der Krankenstation stand und sich nervös durch das blonde kurze Haar fuhr. Auf Arkadia war es ein offenes Geheimnis, dass der inoffizielle Gesteins- und Erzabbau im Coma-Virgo Supergalaxienhaufen auf heftige Gegenreaktionen einer bis dato unbekannten Spezies gestoßen war. Die drei Monolithen, die aufgetaucht waren und Arkadiern wie auch Anderranern inzwischen das Fürchten gelehrt hatte, waren nur das äußere Anzeichen einer Bedrohung, die ihr Potenzial noch längst nicht voll entwickelt hatte. Vor ihrer Abreise noch hatte sich ein Komitee mit dieser Situation befasst und beabsichtigte, mit den Anderranern eine konstruktive Vorgehensweise zu entwickeln, um der brisanten Lage künftig nicht völlig schutz- und hilflos ausgeliefert zu sein.
>Orestes, kannst du mir bei der Analyse helfen?< bat Lira ihn um seine Mithilfe. Offensichtlich hatte auch der Student der Astronomie, Kenntnisse in Chemie und Medizin, sonst hätte sie ihn bestimmt nicht gebeten, auch einen Blick durch das Okular des Mikroskops zu werfen.
>Das sieht mir ganz nach Plasma aus und...Silizium und der Rest ist...keine Ahnung, was das ist< Orestes bemühte sich redlich an der Analyse.
>Ja, ich stufe die Probe auch so ein<.
Erik Jordan war an den Labortisch herangetreten. Er hatte das Ergebnis der Analyse erwartet und bestätigte es.
>Sie haben Recht mit ihrer Analyse – gute Arbeit, Oberfähnrich Lira!< lobte der Kommandant meine Freundin. Ich zog voller Stolz auf Lira einen imaginären Hut.
>Sollten wir vielleicht noch etwas erfahren sollen, worüber sie bisher nicht gesprochen haben, Kapitän?!< Lira hakte forsch nach, was ich um so erstaunlicher fand, hätte sie nach der Belobigung doch erst einmal tief durchatmen und eine verdiente Pause einlegen können.
>Eigentlich nichts, was sie ohnehin schon wissen< antwortete der Kapitän prompt >außer...dass wir es mit Amanda Mueller nicht mit einem Menschen zu tun hatten, sondern mit einer fremden Lebensform<.
Bolo Conceptor hielt währenddessen immer noch die Reste einer Hand, die einst einer ziemlich verschrobenen und unnahbaren vermeintlich menschlichen Existenz gehört hatte. Erik war zu ihm herübergeschlichen und trennte den Kontakt, indem er Bolos Hand behutsam fortzog von dem Pseudo-Leichnam.
>Ich weiß, dass sie sich nahestanden, Bolo, aber sie müssen verstehen, das war kein Mensch, es war eher eine Maschine, wenn auch intelligente Maschine, zugegebener Maßen< versuchte der Kapitän den Bordingenieur zu beruhigen. So viel Empathie hätte ich dem Kapitän gar nicht zugetraut, ging es mir durch den Kopf. Dann konnten wir alle beobachten, wie die Körperhülle von Amanda Mueller sich endgültig auflöste, scheinbar.
>Sieh mal!< Orestes deutete auf die stumpf grauen Partikel, die als Restsubstanz überall verstreut auf der Krankenliege zu erkennen waren.
Bolo trat zur Seite, als sich Lira daran machte, auch hiervon eine Probe auf einen Spatel und dann in ein Röhrchen zu geben, welches sie sorgsam verschloss.
>Ich schlage vor, die restlichen Substanzen dem Weltraum zu übergeben und diesen Platz gründlichst zu desinfizieren< Lira schien auf dem Gipfel ihrer Karriere. So selbstbewusst und voller Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten hatte ich sie bei all unseren Abenteuern noch nicht erlebt.
>Meinen ausdrücklichen Respekt!< ich konnte nun nicht mehr anders, als ihr einen Kuss zu geben, auch wenn die Disziplin dies an Bord eines Raumschiffs eigentlich nicht zuließ.
Intimitäten zwischen Besatzungsmitgliedern während der Arbeitszeiten waren mehr als verpönt, sie waren eigentlich verboten, aber Erik Jordan sah darüber hinweg – und damit hatte ich auch gerechnet. Lira lächelte das erste Mal wieder nach dem Kuss. So mochte ich sie am liebsten: Ein wenig scheu mit einer leichten Röte auf den hellen Wangen; die schwarzen kurzen Haare, die das schmale aparte Gesicht der jungen Frau so außerordentlich schön erstrahlen ließ. Ich liebte diese kluge und liebenswerte Person über alles und wollte sie niemals verlieren!

Das Schiff flog mit Autopilot durch die letzte Galaxie am Rande des Multiversums, als wir zu einem kurzfristig anberaumten Meeting in der Messe alle zusammentrafen. Die besorgniserregende Entwicklung während unserer Suche nach Robinson, alias Stavros, machte das Treffen erforderlich.
>Danke, dass sie alle pünktlich erschienen sind!< eine sehr ungewöhnliche Respektbezeugung, wie ich fand, denn ein Kommandant hatte es eigentlich nicht nötig, sich für das pflichtgemäße Erscheinen seiner Besatzungsmitglieder zu bedanken. Ich wusste, warum er so milde agierte, es hatte natürlich mit der Situation um die Bedrohungslage aus dem Coma-Virgo Supergalaxienhaufen zu tun: Die gesamte Zivilisation von Arkadia und Anderran stand auf dem Spiel – vielleicht sogar mehr, vielleicht würden wir uns schon recht bald alle verabschieden aus diesem Raumzeitgefüge. Ich mochte nicht darüber nachdenken und konzentrierte mich auf das Meeting. Lira saß neben mir und wir hielten unsere Hände – unter dem Tisch.
>Bolo Conceptor< begann Erik Jordan sein Statement >hat in der Kajüte unseres Spions, denn als solchen müssen wir ihn wohl heute bezeichnen, diverse Eintragungen entdeckt, die Bolo inzwischen entschlüsselt hat<. Der Kapitän nickte dem Bordingenieur zu, selber zu sprechen, was er auch tat:
>Zuerst möchte ich mich in aller Form entschuldigen für mein Fehlverhalten bezüglich der Beziehung, die ich zu Amanda Mueller hatte – der vermeintlichen Amanda Mueller< Bolo erschauderte deutlich, denn ein Zucken ging durch seinen Körper. Er fing sich dann aber wieder und fuhr fort:
>Der Spion hatte Kontakt zu seinem Volk und hat Daten übersendet von unserer Mission. Daher wurden wir auch vor dem Schwarzen Loch von einem der Schiffe der Fremden bedrängt. Die wussten genau wo wir waren und konnten uns so abfangen. Dass sie uns nicht weiter verfolgt haben, ist mir ein Rätsel. Vielleicht haben sie Pläne, die uns zu einem späteren Zeitpunkt noch gegenwärtig werden. Wir sollten mit aller Vorsicht agieren und ich empfehle weitreichende Scanns, um keine Überraschungen zu erleben<.
>Das werden wir tun< versprach Erik Jordan und seine Frau fügte hinzu:
>Grämen sie sich nicht, Bolo, auch so begabte und nüchterne Mathematiker wie sie, haben Gefühle - wir akzeptieren das!<.
Jetzt war ich wirklich von den Socken! Mama mia, dachte ich, da gehen die Pferde durch mit den Arkadiern, aber vielleicht war ich aber auch mehr Preuße, als mir wirklich lieb war. Ich hatte da so eine Ahnung. Ich hielt immer noch Liras Hand unter dem Tisch und massierte zärtlich ihre schlanken Finger. Sie lächelte wieder dieses Lächeln.
>Oberfähnrich Lira< meine Freundin erschrak und zog sofort ihre Hand zurück. Beide Hände ruhten fortan bei den Treffen immer deutlich erkennbar auf der Tischplatte.
>Würden sie bitte nach dem Meeting von uns allen Blutproben nehmen, um ein für allemal zu klären, dass keine schlechten Kopien oder anorganische Invasoren sich auf diesem Schiff befinden?!< fuhr der Kommandant fort und seine Frau fügte die Frage hinzu:
>Und was hat die Analyse der Restpartikel ergeben?<.
Lira hatte wieder diese herrlich leichte Rotfärbung in ihrem Gesicht, begann aber ohne Umschweife mit der Beantwortung der an sie gestellten Frage bzw. Bitte:
>Ich begebe mich nach dem Treffen sofort auf die Krankenstation und beginne mit den Vorbereitungen. Ich würde mich freuen, wenn zur Unterstützung Oberfähnrich Orestes zugegen sein könnte<.
Erik Jordan nickte zustimmend: >Ja, natürlich, sie bekommen jede Hilfe, die sie brauchen!<.
>Zum Ergebnis der Analyse der restlichen Partikel kann ich sagen, dass diese zu 97% aus Silizium bestehen. Die übrigen Bestandteile setzen sich zusammen aus Spuren von Eisen, Kupfer, Mangan und einem Stoff, der mir völlig unbekannt ist. Ich habe allerdings eine Vermutung<.
>Äußern sie die, Oberfähnrich Lira, ich bitte sogar darum, keine Scheu!< sprach der Kapitän mit unüberhörbarem Nachdruck. Er konnte es kaum erwarten, seine eigene Vermutung bestätigt zu sehen.
>Es ist höchstwahrscheinlich der gleiche Stoff, der für die Funktionalität der Multiverser verantwortlich ist< sprach Lira vollkommen geradeaus und nüchtern.
>Vielleicht sollten wir es Multiversium nennen und unserem Periodensystem der Elemente hinzufügen?!< antwortete Laura Jordan.
>Das scheint mir wahrlich angemessen< fügte Erik Jordan hinzu >Wobei man sich über den Begriff noch vortrefflich streiten möge< ergänzte der Kommandant und ordnete an, die untersuchte Substanz sicher in einem Safe zu verschießen.
Dann erst brachte der Kommandant die Bombe zum Platzen:
>Das Multiversium, wenn wir es so nennen mögen, wird wohl der Grund allen Übels sein. Mittels dieses Stoffs und in einen plasmatischen Zustand begeben, können die Anorganischen scheinbar menschliche Gestalt annehmen. Auf Arkadia haben wir schon einige Fälle gehabt, die dem der Doktorin ähnlich waren<.
>Also haben die Anorganischen die Originale quasi kopiert!?< meinte Lira.
>So sieht es aus. In den meisten Fällen tauchten die Original Personen auch wieder auf und ihnen war nichts passiert. Offensichtlich wollte man niemanden töten, sondern lediglich unbeobachtet in unsere Gesellschaft eindringen<.
>Abgesehen von der politischen Dimension hat es aber eine wesentlich schwerwiegendere fürchte ich< meldete ich mich zu Wort.
>Wie meinen sie das?< wollte Laura Jordan wissen.
>Wie sich die Sache für mich darstellt, ist das Multiversium Teil einer fremden Lebensform, wenn nicht sogar die Lebensform schlechthin< antwortete ich. Lira war ganz blass geworden und sprach langsam und sehr bedacht:
>Das hieße in der Konsequenz: Wir haben eine Lebensform als Teil einer Technologie benutzt – nein, missbraucht!<
>Das was wir als Mineral in den Multiversern verbaut haben war in Wirklichkeit eine Lebensform?< Orestes konnte das nicht wirklich glauben und die beiden Jordans meinten, dass die Sache schon auf Arkadia sehr kontrovers diskutiert worden sei. Es gäbe bis heute keine abschließende und eindeutige wissenschaftliche und seriöse Antwort auf die Frage nach einem „intelligenten Mineral“ oder einer „plasmatischen Intelligenz“.
>Vielleicht haben wir bei jedem Zeitsprung mittels der Multiverser Leben zerstört, ohne davon zu wissen< mutmaßte Lira und war noch blasser geworden.
>Solange die Sache nicht abschließend geklärt werden kann, überlassen wir dieses Thema den Philosophen und Ethikern unserer beiden Heimatwelten. Wir haben einen klaren Auftrag und ich beabsichtige, den auch bis zum Schluss auszuführen< der Kommandant hatte Tacheles geredet und beendete schließlich das Meeting.
Da die Stelle einer Ärztin nun vakant geworden war, übernahm Lira den Job, ich übernahm die Umweltkontrollen und den Einsatz der Wartungsroboter und André konnte sich nun völlig eigenständig auf den Arbeitsbereich konzentrieren, der die Beobachtung des Alls und das Abtasten mit den Scannern betraf. André war bei der Vergabe des Postens übrigens Lira vorgezogen worden, weil er für den „Geschmack“ der Arkadier eine herausragende musikalische Begabung besaß. Und weil das All für diese Menschen in erster Linie Mathematik war und Musik auch nichts anderes als das Produkt der Summe aus diversen Zahlenkolonnen, schien er der Geeignetere für die Observierung des Alls zu sein. So differenziert können Entscheidungen ausfallen, wenn die Prioritäten subjektiv und deren Parameter völlig unterschiedlich bewertet werden. Auf der Erde wäre sicherlich eine äußerst begabte Astronomin bevorzugt worden, vor einem musikalischen Rebellen, der mein Freund André in meinen Augen nun mal war!
>Ich möchte nun, da alle Fragen geklärt sind, sie sich auf ihre Posten begeben. Wir werden gleich das Swing-by-Manöver einleiten. Danach begeben wir uns auf direkten Kurs nach Planet X. Danke!<.
Erik Jordan kniff die Lippen zusammen, nahm eine leicht übertrieben förmliche Körperhaltung ein und verließ mit seiner Frau den Raum in Richtung Brücke. Wir folgten allesamt artig; Lira und Orestes hingegen schlugen die entgegengesetzte Richtung ein zu ihrer neuen Arbeitsstätte, der Krankenstation. Wenn auch Orestes vielleicht nur vorübergehend dort eine neue berufliche Heimat finden würde, für meinen Freund André hingegen wäre der neue alte Job auf jeden Fall eine echte Herausforderung; ich war gespannt, ob er sie alleine meistern würde. Im Grunde aber - versuchte ich mich zu beruhigen - hatten wir es ja fast geschafft: „Nur noch einmal Schwung holen und dann sind wir auch schon bei dir, Robinson, Letzter Sapiens!“


Stavros hatte soeben in das noch pochende Herz einer Riesenschlange gebissen und es dann mit seinen Zähnen aus dem sich windenden Leib des prähistorischen Getiers herausgerissen. An seinen Mundwinkeln entlang und durch die Zotteln seines dunklen Bartes rann das dunkle rote Blut des schleimigen Reptils herab. Nachdem er sich an dem frischen Fleisch gelabt hatte, genehmigte er sich aus einem silbernen Becher einen großen gierigen Schluck schweren Rotweins von der Insel Samos. Danach warf er den halbleeren Becher über seine Schulter und machte sich über die skelettierten Reste der Schlange her und verzehrte auch sie, bis sich ein Fleischbrocken in seinem Hals quer legte und er keine Luft mehr bekam und drohte an dem letzten Happen zu ersticken. Die Hände um seinen Hals und nach Luft ringend erwachte der kretische Fischer aus seinem Alptraum.
>Oh Gott, oh Gott! Verflucht seid ihr da oben!<. Stavros sprach immer öfter mit sich selbst, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Wie er meinte, würde das die Sinne beieinanderhalten. So würde er nicht immerzu sich der Einsamkeit bewusst, die in ihm drin war und ihn ebenso umgab.
Was er niemals wissen konnte: Er war in einer Zeit gefangen und in einem Raum, der das Ende markierte, das Ende der rasanten Ausdehnung von Zeit und Raum. Nur noch eine Handvoll gefräßige Schwarzer Löcher und die Roten Zwerge mit ihrer immensen Lebensdauer würden noch vagabundierend durch das All ziehen. Vielleicht würde auch noch der eine oder andere heimatlose Planet dahintreiben, ohne eine eigene wärmende Sonne, in ewige Dunkelhaut getaucht und von Eis bedeckt erstarrt in der Kälte des Weltraums gefangen. Aber dies sollte ihn nicht wirklich interessieren, denn seine Aufmerksamkeit galt dem Multiverser. Er hatte Kontakt aufgenommen zu fernen Menschen - verschwommen zwar - aber eindeutig als menschliche Gesichter zu erkennen auf dem kleinen Bildschirm dieses ominösen Gerätes. Man würde ihn holen kommen, glaubte er, vernommen zu haben, von einer weiblichen Stimme, einer Frau mit einem sonderbar lila Haarstreifen auf dem ansonsten kahl rasierten Schädel.
>Sie können kommen, aber das Gerät kriegen sie nicht!< Stavros drückte den Multiverser fest an seine Brust. Er saß auf den Resten seines Zeltes, das zum Teil im Wasser trieb, an einem Ufer des Binnenmeeres von Planet X. Nur knapp war er vor den letzten gewaltigen Fluten mit dem Leben davon gekommen. Nun beobachtete ihn aus einer Deckung heraus eine Panzerechse, die geduldig auf ihr kommendes Mahl wartete.
Das Krokodil ähnliche Wesen lag verborgen hinter einem Baumstamm, der im Wasser vor sich hin dümpelte und dabei schmatzende Geräusche von sich gab, wobei man nicht genau sagen konnte, war es nun das Wasser, welches im Zusammenspiel mit dem Holz das Geräusch verursachte oder kam es aus der hungrigen Kehle des Urweltreptils.
Stavros hatte das Ungeheuer bemerkt und begab sich langsam, aber bestimmt, hinfort vom Strand und zog dabei an den Resten seines Zeltes, wobei er sorgsam darauf achtete, den Multiverser nicht zu verlieren. Er hielt das Gerät nach wie vor fest gepresst mit einer Hand an seinem Körper. So entfernte er sich mehr und mehr aus der Gefahrenzone. Als der Kreter im diffusen Dämmerlicht des Planeten einen Küstensaum erreicht hatte, der bewachsen war von niederem dornigen Gestrüpp, setzte er sich erneut und überprüfte seine Habseligkeiten. Zwischen den Falten des nassen Zeltes entdeckte er den Rucksack, den er sorgsam zum Trocknen in die Sonne legte, einer Sonne, die nur 10% der Intensität einer Erdensonne besaß, deren Flares – Strahlenausbrüche - aber gewaltigen Schaden anrichten konnten am Genom und allem, was die Evolution hervorbrachte. Den Inhalt des Rucksacks stapelte er aufeinander: Drei Konservendosen mit Bohnen gefüllt. Die Pistole legte er daneben, nachdem er die Patronen entnommen hatte und gesondert auf eine halbwegs trockene Unterlage aus Geäst legte. Blattähnlichen Bewuchs hatte dieser Planet nicht hervorgebracht, weil die Photosyntheserate zu niedrigschwellig war.



Leartas erinnerte der Raum an eine gigantische Fabrikhalle, wo nach Arbeitsschluss die letzten Lichter erloschen und wieder Ruhe eingekehrt war. Es war fast stockdunkel, abgesehen von einer schwachen Lichtquelle, die irgendwo weit entfernt ein wenig erahnen ließ, wie überaus groß das Raumschiff der fremden Spezies sein musste. Erstaunlich allerdings, dass nichts im entferntesten darauf hindeutete, dass es sich tatsächlich um ein Raumschiff handelte: Nirgends Anzeichen einer Besatzung; die vier Emissäre von Arkadia sowie Leartas schienen die einzigen Lebewesen an Bord zu sein. Der Philosoph konnte auch keine Bauelemente erkennen, die für die Funktionsfähigkeit eines Raumschiffs relevant gewesen wären. Scheinbar fehlten Aggregate aller Art, Steuerelemente, elektronische Vorrichtungen, Kontrollinstrumente. Die „Halle“ war allerdings nicht leer. Das Innere wurde ausgefüllt von weiteren Monolithen, die wiederum auch gigantische Ausmaße hatten, in der Länge maßen sie mindestens zehn Kilometer, schätzte Leartas, der völlig gelassen wirkte und nachdenklich durch seinen hellen Bart strich. Im Schein des entfernten Lichtes war der Bewuchs in seinem Gesicht deutlich zu erkennen, wobei der Rest seines Körpers beinahe von der Dunkelheit verschluckt wurde. Leartas war der Erste, der sprach und versuchte zu beruhigen:
>Keine Angst! Die Fremden scheinen neugierig zu sein, sonst hätten sie uns nicht an Bord geholt. Auch wir sind Forscher, also gibt es durchaus Gemeinsamkeiten, die uns verbinden<.
>Was hat er gesagt?< fragte Bara Latif, eine Ökonomin, die sich für die Agrarindustrie der Anderraner interessierte. Die neben ihr stehende Person antwortete:
>Leartas hat Recht! Die Fremden wollen Kontakt herstellen und sind nicht hier, um uns zu vernichten< antwortete der Psychologe und Mathematiker Hirat Ludobag. Zugegen waren außerdem eine Vertraute von Laura Jordan, Dira Just und der gesellige Sozialwissenschaftler Rufus Kilcnorb, der beabsichtigte, nach Anderran überzusiedeln, wenn die Mission erfüllt war.
Als das Shuttle sich noch auf Kurs nach Arkadia befunden hatte, begann gerade die Dämmerung einzusetzen und man konnte deutlich den Mond von Anderran erkennen, wie er im Abendlicht erstrahlte und dabei einem kostbaren Edelstein glich, der zart blau und hell grün schimmerte. Als sich dann die Triebwerke ohne ersichtlichen Grund abgeschaltet hatten und das Transportschiff wie von Geisterhand in den Monolithen hineingezogen wurde, begann es mehr und mehr dunkel zu werden um die Besatzung. Bevor sie das Shuttle im Innern des fremden Raumschiffs dann verlassen hatten, waren die letzten farblichen Wahrnehmungen die Kontrolltafeln des Shuttles und ein paar bunte Applikationen auf ihren Kleidungen. Fortan konnte eine Orientierung nur noch im Rahmen eines Hell-Dunkel Kontrastes stattfinden. Und der einzige Bezugspunkt, der dies ermöglichte, war die geheimnisvolle Lichtquelle, die irgendwo in diesem schier endlosen Raum sich befinden musste. Folgerichtig meinte Hirat:
>Da müssen wir hin!< und deutete auf das „Licht am Ende des Tunnels“.
Leartas wollte seinem Kollegen von Arkadia gerade widersprechen, als er sich eines besseren entschied. Hirat Ludobag und Leartas waren die beiden Top-Unterhändler bzw. Mediatoren, die die beiden Seiten aufgeboten hatten. In persönlichen Gesprächen konnten beide Männer viele Gemeinsamkeiten feststellen, die sowohl persönlicher, als auch politischer und beruflicher Natur waren. Beide waren sie sehr abgeklärte Persönlichkeiten mit einem reifen Charakter, der die ungestüme und bisweilen irrationale Seite jugendlicher Risikobereitschaft hinter sich gelassen hatte.
Hirat setzte sich ohne Gegenrede an die Spitze der kleinen Kolonne menschlicher Gestalten, die über den metallenen Boden einer kalten und völlig uninspirierten Räumlichkeit schritten. Irgendjemand von ihnen musste genagelte Sohlen unter seinen Schuhen haben, denn der helle Klang von Metall auf Metall bei jedem einzelnen Schritt war deutlich zu vernehmen und verstärkte den Eindruck, gefangen zu sein in einem gigantischen Container oder Sarkophag.
>Jemand klaustrophobisch veranlagt hier?< wollte Rufus Kilcnorb wissen, der es normalerweise durchaus verstand, Ironie und Sachverstand unter einen Hut zu bringen, aber heute für seine Bemerkung keinen Beifall ernten konnte.
>Entsetzlich, dieses Hufgetrappel, wer ist das?< wollte Bara Latif wissen. Die Ökonomin hatte mit Lesalee begonnen, über eine praktische Zusammenarbeit bei der Medikamenten Entwicklung zu verhandeln.
>Das bin ich< Die überaus schlanke Dira Just begann damit, einen ihrer Schuhe auszuziehen >Ah, ist das kalt!< zog ihn sogleich aber wieder über ihren Fuß.
Leartas schritt hinter Hirat her, darauf achtend, ihm nicht in die Hacken zu treten. Im Gänsemarsch ging es weiter vorwärts im Bauch des 453 Kilometer langen Schiffes.



>Hast du nicht inzwischen genug Medikamente genommen?< Bel machte sich ernsthaft Sorgen um Gondvira, die inzwischen den Inhalt ihres Pillendöschens reichlich dezimiert hatte, aber unbeeindruckt von den Worten der Geomorphologin weiter durch das Teleskop den Monolithen beobachtete.
Seit dem Verschwinden des Shuttles im „Wal des Jonas“ hatte es keine merklichen Veränderungen mehr gegeben, weder an dem Objekt selber, noch in seiner Nähe. Man stand in einem direkten Kontakt zu der arkadischen Administration, die sie darüber unterrichtet hatte, dass der dortige Monolith unter ständiger Kontrolle stehe, aber auch keine neuen Vorkommnisse zu verzeichnen seien.
„Da diese Schlacht nicht militärisch zu führen und zu gewinnen ist, muss sie philosophisch geschlagen werden“ hatte sich Schoonas zu Wort gemeldet. Manch ein Anderraner hätte den alten Mann am liebsten aus dem Verkehr gezogen, nachdem öffentlich wurde, dass der sich als minoischer König ausgegeben hatte auf dem Planeten Erde. Nach einigen intensiven Beratungen in diversen Plena, verzichtete man aber darauf. Der Rat und die Ansicht des Philosophen zu politischen Fragen wurde nach wie vor gesucht und auch sehr geschätzt. So verwunderte es nicht, dass Schoonas inzwischen auch in Katenam weilte. Wenn das so weiter ging, dann würde demnächst Katenam den inoffiziellen Nimbus einer Hauptstadt erhalten und Auroville ihn verlieren, dachte Gondvira, wenn immer mehr und öfter wichtige Funktionsträger in ihrem Observatorium auftauchten. Einerseits erfüllte sie dies mit einem gewissen Stolz, andererseits spürte sie ein deutliches Unbehagen, wenn zu viele Menschen von außerhalb um sie „herumwuselten“. Außerdem fühlte sie sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit immer stärker beeinträchtigt, wenn die vielen politischen und philosophischen Mandatsträger den Betrieb auf der Station störten. Immerhin hatte auch sie einen Auftrag zu erfüllen, nämlich den der Ausbildung höchst motivierter Astronomie Studenten. Dennoch schätzte sie den Philosophen Schoonas ebenso wie Leartas als kompetenten Sachverwalter des Anarchismus, auch wenn dieser zu heftigen Eskapaden neigte und durchaus kontrovers „gehandelt“ wurde. Das betraf vor allem Schoonas` einstigen Einsatz für die Abschaffung des Rotationsprinzips beim Ethikrat. Für viele Anderraner eine Art Todsünde und Verrat am theoretischen Anarchismus sowie der gelebten Anarchie! Da verzieh man ihm eher noch seine Extratouren auf fernen Planeten.
>Auch wenn ich nicht immer mit Leartas einer Meinung bin, in einem muss ich ihm Recht geben: Wir müssen die Ankunft der Fremden als Chance begreifen, auch wenn das schwer fällt< der Philosoph hatte soeben den Raum betreten, begrüßte die Geomorphologin mit einem Händedruck, stellte seinen Stock in die Ecke und setzte sich auf einen Hocker, der an der Wand platziert stand.
>Schoonas!< die Astronomin wandte sich nun endlich ab von ihrem Arbeitsgerät, nachdem im Orbit ohnehin keine Veränderungen zu verzeichnen waren.
Sie stieg vom Podest des Teleskops die Stufen herab, erreichte den Philosophen und schüttelte ihm die Hand.
>Etwas zu trinken?<
>Nein, Danke!<.
>Ich komme gerade von einem Gespräch, welches ich mit der überaus liebenswürdigen Lesalee und ihrem Freund geführt habe<
>Und, was gibt es Neues?<
>In ihrer großzügigen Art sind sie nicht nachtragend<
>Wie meinst du das?<
>Es ging um mein Abenteuer bei den Terranern. Vor allem Ortas konnte mich sehr wohl verstehen<
>Na, das wundert mich nicht – da soll es so eine geheimnisvolle Papyrusrolle geben, was hat es damit auf sich?<
>Deswegen bin ich hier, hier in Katenam, hier im Observatorium<
Gondvira schluckte, befürchtete sie doch, dass es nun einen nicht enden wollenden Monolog geben würde über das philosophische Wissen einiger Erdlinge und dem Stand der Philosophie und Politik auf Anderran.
>Keine Angst, ich erspare die einen Vortrag über die Historie der terranischen Philosophie< Schoonas zog den Papyrus aus seiner Jackentasche >Es geht nicht darum, was hier hier drin steht, sondern, dass es überhaupt dort geschrieben steht. Hier wird ein Wissen proklamiert, welches die Menschen ihrer Zeit in keinem Fall hätten besitzen können, das ist zu detailreich und zukunftsorientiert<.
>Ich ahne zu wissen, was du meinst. Es ist, wie mit den Sonnen, die verschwunden sind und ebenso den Planeten, die sie umkreisten< antwortete Gondvira ernüchtert.
>Ja< fuhr der Philosoph fort >Die Zeitlinien sind so massiv manipuliert worden, ich fürchte, die Reise, die unsere Freunde von Arkadia und der Erde unternommen haben, der Schlusspunkt einer Reihe von fatalen Entscheidungen ist, der die Zustände nicht verbessern, sondern...< Schoonas strich nachdenklich über sein Kinn >...eher verschlechtern wird<.
>Aber wir mussten irgend etwas unternehmen<
>Manchmal ist es besser, nichts zu tun<
>Und das sagt ein Philosoph<
>Warum denn nicht?!<
>Ja, warum eigentlich nicht<.



Die kleine Gruppe wanderte immer noch dem Licht entgegen, welches in der Ferne zu signalisieren schien „Kommt nur näher, kommt nur!“. Wie magisch angezogen schritt der Trupp voran, ohne zu bemerken, dass ihr Unternehmen völlig sinnlos war. Jedes Mal, wenn sie glaubten, näher herangekommen zu sein an die Quelle, zog diese sich – einem Trugbild gleich - zurück. Leartas hatte als Erster bemerkt, dass diese Vorgehensweise keinen Zweck erfüllte. Doch dann erreichte seine Ohren ein Geräusch, welches sich anhörte wie die Wellen tosenden Wassers, dass sich in Brandungsnähe befand. Es schien näher zu kommen, aber zu sehen war in der Dunkelheit nichts. Das Geräusch, welches sie vernahmen, war die Omnipräsenz der Anorganischen, der fremden Spezies aus den weit entfernten Tiefen des Alls.
Dann erreichte Leartas die Flut der Gedanken, die keine Wasserflut war, sondern reine Gedanken und Informationen. Die fremde Spezies begann mit dem Philosophen telepathisch zu kommunizieren und machte ihm klar, dass sie nichts zu befürchten hatten, auch wenn sie unbedachterweise ihre Ahnen verbrannt hätten in den Zeittunneln ihre Multiverser.
Als das scheinbar heranbrandende Wasser sie erreicht hatte, fiel einer nach dem anderen zu Boden und war fortan in traumloser Ohnmacht gefangen, nur Leartas stand da wie angewurzelt und empfing die Signale und Botschaften einer fremden Macht, die sich nicht beschwerte über die lächerliche Grabungskampagne einer arkadischen Minengesellschaft, sondern über die missbräuchliche Entwicklung einer Technologie, die das Multiversum zu zerstören drohte. Leartas antwortete, er teile diese Ansicht, verstand aber nicht, was es mit den getöteten Ahnen auf sich hatte. Die Anorganischen klärten ihn darüber auf, dass es sich bei dem angeblich „toten“ Mineral, welches in der Technologie der Multiverser Verwendung fand, in Wahrheit um die „Essenz“ dessen handelte, was die Zivilisation derer ausmachte, die die Arkadier als „Anorganische“ bezeichnete. Das Mineral war also kein totes Gestein gewesen, sondern äußerst lebendig! Anderraner und Arkadier waren Massenmörder gewesen, schoss es Leartas durch den Kopf und ihm wurde gewahr, wie sich alles in ihm sträubte und es schien alle seine pazifistischen Ideale und Ideen vom hohen Ethos des Anarchismus in Frage zu stellen. Er begann, sich selber in Frage zu stellen, weil er sich in einer hohen Mitverantwortung sah für alles, was auf Anderran geschah, im Guten, wie im Bösen.
Einer der arkadischen Emissäre hatte gelernt, sein Innerstes abzuschirmen, eine spezielle Form der Autosuggestion oder Meditation machte dies möglich, wenn sie über viele Jahre immer wieder kontinuierlich geübt und praktiziert wurde. Es war die „vernagelte“ Dira Just. die über diese Gabe verfügte. Während sie für den Sender stumm blieb, konnte sie klar und deutlich einzelne Botschaften vernehmen, die die Anorganischen aussandten. Sie sprachen mit Leartas und versicherten ihr friedliches Vorgehen. Sie war misstrauisch, konnte ihre Emotion, die damit einherging aber nicht mehr kontrollieren und abschirmen und so vernahm die Spezies ihren Wachzustand und interpretierte in der Folge ihre Gedanken und Emotionen, die an das Zentrum der fremden Intelligenz gerieten, als feindlichen Akt. Die ethischen Unterprogramme wurden in der Folge einfach übergangen und das Superhirn aus dem Coma-Virgo Supergalaxienhaufen fuhr die internen Waffensysteme hoch. Draußen an dem gewaltigen Flugkörper schoben sich Kanonen ähnliche Rohre aus dem finsteren Rumpf. Dann gaben sie Salven grellen Lichtes auf den Planeten Anderran ab, die durch das Wasser des Ozeans brachen und den Meeresboden aufrissen. Daraufhin lösten sich gewaltige Gesteinsmengen aus dem Untergrund als Folge einer ungeheuren Explosion. Ein Mega-Tsunami rollte über die Küsten der anderranischen Heimatwelt hinweg und tötete ungezählte Menschen, während es vom Himmel einen globalen Meteoritenschauer gab, der weitere Opfer forderte.
Leartas hatte sofort bemerkt, was die Ursache für die Unterbrechung des Dialogs zwischen ihm und den Anorganischen war, drehte herum und zog die völlig verdutzte Dira Just vom Boden hoch und brüllte ihr ins Gesicht, wobei er sie fest bei den Schultern packte:
>Sind sie völlig wahnsinnig?!<
>Ich weiß nicht, was sie meinen!<
Bevor der Superrechner der Anorganischen bemerkte, dass es sich um ein „Missverständnis“ gehandelt hatte, war es bereits zu spät gewesen und eine Welle der Verwüstungen überrollte die Welt von Anderran.
>Halten sie sich gefälligst da raus – sie haben wirklich keine Ahnung!< Sofort begann Leartas wieder in den Dialog mit der fremden Spezies zu treten und entschuldigte sich für die Unterbrechung. Auch die anorganische Intelligenz, die eine Art symbiotische Gemeinschaft eingegangen war mit den Rechnern des Schiffes bedauerte und stellte sofort den Waffengang ein.



Die Sonne war klar und deutlich auf dem Bildschirm zu erkennen. André hatte einen Filter darüber gelegt, sonst hätte uns deren Helligkeit auf der Brücke der „Antares“ geblendet. Bisher machte mein Freund seinen Job sehr gut. Die Reflexe waren in Ordnung, er arbeitete vorausschauend und effizient und beherrschte inzwischen die Instrumente außerordentlich gut. Hoffentlich lag das nicht nur an den Medikamenten, die er nahm. Wehe, wenn ihm dann der Stoff ausging!
>Alle Parameter für das Swing-by-Manöver im grünen Bereich< Bolo hatte die Gravitation der Sonne berechnet und insbesondere die Aktivität eines dunklen Flecks, an dem die eruptive Gewalt eines Sonnensturms wütete. Durch seine Flares würden wir hindurch müssen, sie würden uns zusätzlichen Schub geben für den letzten Schritt in Richtung Planet X.
>Dann walten sie ihres Amtes, Ingenieur Conceptor!<.
Erik Jordans Hände ruhten auf den Lehnen seines schwarzen Kommandosessels und sein Blick ging in Richtung Sonne, als er Bolo den Befehl zu unserem letzten Zeitsprung gab. Ein paar Tausend Jahre nur würden dies sein, eher eine Feinjustierung im Getriebe des Multiversums, dachte ich. Aber da lag ich falsch, wie sich noch herausstellen sollte. Da lagen wir alle falsch.
>Erik< die Subkommandantin blickte herüber zu ihrem Ehemann, der sofort seine linke Hand der ihren entgegenstreckte. Beide hielten sich kurz die Hände, übernahmen dann aber wieder die volle Kontrolle über ihre Gefühle und führten das Schiff.
>Volle Energie, Bolo!< forderte der Kapitän, alles aus dem Antrieb herauszuholen.
Obwohl die „Antares“ über eine eigene Gravitation verfügte und uns so am Boden hielt und Stabilisatoren dafür sorgten, dass dies auch so blieb, wenn es zu Fluktuationen kam, konnte man dennoch deutlich spüren, wie wir Fahrt aufnahmen. Zwar waren wir weit entfernt von einer Geschwindigkeit, die das Licht zurücklegte, aber ein thermochemisch beschleunigtes Schiff hätten wir locker im „Windschatten“ eines jeden dunklen Mondes „stehen“ lassen.
>Es presst mich in den Sitz – das war doch nicht so, als wir in das Schwarze Loch geflogen sind< André schaute fragend zu mir herüber, ich zuckte nur mit den Schultern.
>Keine Ahnung<.
Das Solargestirn vor uns wurde immer größer. Wer glaubt, in einem Raumschiff würde eine ständig kontrolliert klimatisierte Temperatur vorherrschen, der irrt! In einer Sonne konnte es mehrere Millionen Grad heiß werden; kam man dem Gestirn zu nahe, wurde man verbrutzelt, da halfen auch keine sonst wie auch immer gearteten technischen Raffinessen. Allerdings mussten wir weit genug in das Gravitationsfeld des Sterns, um den nötigen Schwung zu holen. Die Distanz würde dabei eine Reichweite einnehmen, wie sie gerade eben noch tragbar war für die Sicherheit und Funktionalität der Systeme, wie auch der Besatzung an Bord. Mit starrem Blick verfolgte ich im Rahmen der Umweltkontrollen, dass die Anzeige für „Grad Celsius“ die 30 Marke erreicht hatte. Der arme Orestes, dachte ich, aber immerhin war der in guten Händen auf der Krankenstation. Ich hatte mir inzwischen den obersten Knopf am Revers der Uniformjacke geöffnet, was ich schon längst hätte tun sollen. Wir alle schwitzten, als säßen wir in einem Horror Fahrstuhl auf dem Weg in des Teufels Höllenschlund. Ich bekam das Gefühl, als wäre ich am Gestühl festgeklebt, hinzu kam, dass die Gravitation uns extrem heftigst in die Sitze presste. Zeit meines Lebens hatte ich diverse Sauna Einrichtungen gemieden, weil mir die künstlich erzeugte Hitze nicht wirklich gut tat. Ich konnte nicht fassen, wie man da freiwillig hineingehen konnte. Und jetzt saß ich auf diesem Feuerstuhl des Grauens und wir hatten noch nicht einmal das eigentliche Swing-by-Manöver durchgeführt. 40 Grad Celsius und die verdammte Anzeige kletterte weiter. Unbarmherzig und ohne Rücksicht peitschte dieser durchgeknallte Kommandant eines völlig degenerierten Mondes am Arsch des Universums diese dämliche Nussschale nach vorne, um sie in der Sonne verglühen zu lassen!
Die Anziehungskraft der Sonne auf den winzigen und zerbrechlichen Flugkörper, in dem wir verletzlichen Individuen uns befanden, stieg kontinuierlich an. Card 7, 8, 9, 10. Die Stufen der Geschwindigkeit besaßen einen Maximalwert von 12, der nahezu der Lichtgeschwindigkeit entsprach, danach würden wir unser eigenes Wurmloch erzeugen und hindurch fliegen, um auf der anderen Seite unserem Ziel ganz nahe zu sein. Erneut gab es diese Vibrationen, die die Stabilisatoren nicht ganz ausgleichen konnten. Erik Jordan verkrallte sich wieder in die Armlehnen seines Chefsessels. Seine Frau war kreidebleich und durchnässt, als wäre sie der Duschszene aus Alfred Hitchcocks Klassiker „Psycho“ entsprungen. Obschon dies beileibe nicht das erste Swing-by-Manöver war, was die beiden Kommandeure absolvierten, schienen sie dennoch ziemlich angespannt, nervös, aber auch ungemein aufmerksam zu sein.
>Hey, ich kann so nicht arbeiten!< rief uns Lira aus der Krankenstation über den Bordlautsprecher zu. Im Hintergrund konnte man hören, wie ein Glasgefäß auf den Boden gefallen und zerborsten war.
>Setzen sie sich hin und halten sie sich fest, Oberfähnrich Lira!< antwortete der Kapitän mit beherrscht kraftvoller Stimme. Pflichtbewusst, wie meine Freundin war, bereitete sie bestimmt alles vor für die Blutentnahmen und wollte womöglich auch noch detailliertere Analysen der Substanz vornehmen, die von der falschen Ärztin übrig geblieben war.
Die Sonne war ein Gestirn mittlerer Klasse, in etwa so groß, wie die irdische Sonne. Sie nahm jetzt beinahe den gesamten Bereich unseres Bildschirms ein, als unser Schiff eine leichte Kreisbahn beschrieb. Die gewaltige Scheibe des Sterns entschwand nun sehr langsam, aber merklich, über die linke Begrenzung des Hauptmonitors. Bei Card 12 war es, als hätte man einen Knall, wie bei einem Überschallflug gehört, aber es entstammte wohl eher meiner Einbildung und stand wohl im Zusammenhang mit der visuellen Wahrnehmung, die mit dem Sprung durch das Wurmloch verbunden war. Gerade als ich dachte „Das ist ja gar kein richtiges Wurmloch“ schienen wir durch eine Minigalaxie zu schweben, die prall gefüllt war mit diesen kleinen funkelnden Sternen, die wie Edelsteine am Firmament hingen und wohl ewig leuchten würden, wenn nicht alles eine Begrenzung hätte. Ein Ende hatte auch die Reise durch das Wurmloch, die nicht vergleichbar war mit den Ereignissen im massiven Schwarzen Loch, welches wir zuvor durchquert hatten. Es wurde merklich kälter im Schiff und die Gravitation begann auf Normalwerte zurückzukehren.



Infolge des versehentlichen Beschusses der Fremden kam es auf Anderran zu massiven Erdbeben, wovon auch das Observatorium auf Katenam nicht verschont blieb. Als eine Stoßwelle die Anlage des Teleskops erreichte, hielt sich Gondvira im Türrahmen fest, der zu einem Flur führte, der wiederum draußen vor dem Observatorium endete. Schoonas hatte sich zuvor schon verabschiedet und war hinübergegangen in das Studentenwohnheim. Die ängstliche Bel war als Einzige bei ihr gewesen, hatte aber vor Gondvira das Gebäude schnellen Schrittes verlassen können.
„Ich muss mit den Pillen vorsichtig sein“ dachte Gondvira, die zu verwachsen schien mit der sie umgebenden Türzarge. Die Medikamente hatten sie müde gemacht und führten nun dazu, dass sie nicht mehr in der Lage war, schnell und effizient auf Ausnahmesituationen zu reagieren. Deutlich zu vernehmen war, wie das gesamte Gebäude in Schwingung geriet. Weil aber die Gegend ohnehin als erdbebengefährdet galt, war die gesamte Konstruktion des Gebäudes entsprechend sicher – aber nur bis zu einem gewissen Grad. In der Kuppel hatten sich einige der Ziegel bedenklich gelöst, hielten dem Beben aber noch Stand. Einer der Computer-Monitore, auf dem kurz zuvor noch ein Bild des Monolithen zu erkennen war, begann zu flackern, dann brach die Stromzufuhr ab und der Bildschirm wurde schwarz.
Draußen vor dem Observatorium hatte sich ein Graben gebildet, durchschnitt das sorgsam gepflegte Blumen- und Gemüsebeet des Hausmeisters Valdur; nach und nach fielen Brokkoli, Radieschen und diverse Sonnenblumen in einen dunklen Spalt und tiefen Abgrund.
>Hilfe!< rief einer der Studenten, der fern der Anlage einen Weg entlang lief, der zum Meer führte. Einige Menschen, die sich draußen aufhielten, standen stumm und wie in einer Schockstarre verharrt auf einer Stelle. Wiederum andere spreizten Arme und Beine, um einen sicheren Stand zu behalten während des Bebens. Dann rief Valdur denen zu, die sich in Richtung Meer davon gemacht hatten:
>Halt! Kommt zurück!< der Hausmeister wusste, dass es ein grober Fehler war, bei einem Beben sich in der Nähe des Ozeans aufzuhalten. Hier oben bei dem Teleskop war die sicherste Stelle, um von wahrscheinlichen Flutwellen nicht erfasst zu werden. Diesen Ort zu verlassen, war eine fatale Entscheidung, dir nur das Resultat einer Panikreaktion sein konnte. Gondvira hatte beobachtet, wie nach und nach alle elektrischen Geräte ihren Dienst quittierten. Auch das Teleskop signalisierte durch den Ausfall seiner Kontrollleuchten, dass es nun nicht mehr funktionierte. Dies bedeutete, sie waren nun vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt und konnten extern keine Hilfe anfordern. Ganz langsam kehrten die Lebensgeister wieder zurück und die Astronomin begann, sich aus dem Rahmen der Tür zu lösen und schritt allmählich in den Flur hinaus und erreichte schließlich den Vorplatz des Observatoriums, vorbei an dem Spalt, der Valdurs Garten größtenteils verschluckt hatte. In der Nähe des Wohnheims konnte Gondvira beobachten, wie der gehbehinderte Schoonas auf sie zukam; ihm war also nichts passiert, dachte Gondvira, erleichtert.
>Diese Idioten! Die rennen doch tatsächlich in Richtung Meer – hat die niemand darüber aufgeklärt, dass das lebensgefährlich ist?!< sprach Valdur wütend in Richtung Gondvira. Die antwortete gar nicht auf die rustikale Äußerung des langhaarigen Kalfaktors, der sich selbst als eine Art Tausendsassa sah und meinte, er wäre unersetzbar, weil ohne ihn nichts wirklich funktionieren würde. Darum reiste er auch ständig zwischen Auroville und Katenam hin und her, denn dort bekleidete er eine zweite Stelle als Hausmeister in der mittlerweile wieder „auferstandenen“ Bibliothek der Stadt.
Valdur hatte sich entschlossen, das E-Mobil zu besteigen und den panischen Studenten hinterher zu fahren, um sie von ihrem weiteren Tun abzubringen und wieder heimzukehren ins Observatorium. Immerhin war der Mann kein Maulheld, sonder einer der zur Tat schritt, dachte Gondvira, als sie sah, wie Valdur den Studenten nachjagte.
>Habt ihr kein Notstromaggregat?< Schoonas war verblüffend schnell unterwegs gewesen, der Stock schien eine magische Komponente zu besitzen, die ihn ohne Unterlass nach vorne trieb.
>Doch, natürlich – wenn Valdur zurück ist, kann er es aktivieren< die Astronomin deutete auf das sich rasant entfernende elektrische Fahrzeug mit dem Hausmeister darin, der ständig mit dem linken Arm in der Luft herumwedelte und den Flüchtenden im Kommandoton etwas zurief; dann hatte er den ersten erreicht, stieg aus dem Fahrzeug und zerrte die Person relativ unsanft in das Automobil.
>Verantwortungsbewusst ist er ja< meinte Schoonas und ließ ein „aber“ vermuten, welches er nicht mehr aussprach.
>Ja, das ist er!< Gondvira beließ es dabei.
Die Stoßwelle war abgeebbt und der Boden unter ihren Füßen beruhigte sich spürbar. Soweit Gondvira das beurteilen konnte, gab es keine größeren sichtbaren Schäden, weder am Observatorium, noch am Wohnheim. Die Leute schienen sich allmählich zu beruhigen und erwachten aus ihren eingefrorenen Körperhaltungen. Niemand schien sich ernsthaft verletzt zu haben.
>Hast du irgendetwas sehen können durch dein Teleskop?<
>Nachdem du weg warst, habe ich nicht mehr hindurch geschaut. Aber mir fällt ein: Wir müssten Fotos haben von dem Objekt, denn ich habe die Kamera stets auf den Monolithen gerichtet<
>Das ist gut, das ist sehr gut!<
>Ja, wenn wir wieder Strom haben, sehen wir nach!<.



Leartas war ganz nah an den Anorganischen dran. Dass der sogenannte Zwischenfall tausende Menschenleben gefordert hatte, registrierte er, diese Information hielten die Fremden nicht zurück. Das waren nicht die ersten Toten und würden vielleicht auch nicht die letzten sein, die aber alle in der Konsequenz standen in einer Reihe von Ereignissen und dem Resultat des Missbrauchs einer Technologie, die nicht beherrschbar gewesen war. Leartas wusste das und teilte wiederum auch seine Einschätzung den Anorganischen mit. Die zitternde Dira Just saß zusammengekauert auf dem kalten Boden und weinte; sie fühlte sich nicht wirklich schuldig aufgrund ihres Misstrauens gegenüber den Fremden, sondern war eher beeindruckt wegen der Ansprache des Leartas. So zusammengestaucht hatte sie noch niemand zuvor. Die Ereignisse hatten sich einfach überschlagen und sie völlig übermannt. Niemand da, der sie tröstete; die anderen Emissäre schienen in einen Tiefschlaf gefallen zu sein. Sie schaute nach ihnen, drehte den Kopf von Bara Latif zur Seite, sah in ihr Gesicht: Sie atmete, war aber völlig weggetreten. Hätte sie doch nur nicht mit diesen unsinnigen Suggestionen angefangen, dachte sie und war voller Selbstmitleid. Eigentlich sollte sie für Laura Jordan die politische Lage als Emissärin erkunden und beurteilen, sie fühlte, dass sie auf der ganzen Linie gescheitert war und wäre am liebsten gestorben, da unten in den Fluten des Tsunamis auf dem Planeten Anderran.
Leartas konnte auch ihren Zustand erfahren und erfühlen, aber sich nicht weiter um sie kümmern, solange er Kontakt mit den Fremden hielt. Die hatten ihm klargemacht, dass es kein Zurück mehr geben würde, die Entscheidung sei gefallen, den Kosmos in seinen Zustand zurückzuversetzen, in dem er sich befunden hatte, bevor die Zeitreisen begonnen hatten. Der Philosoph tat seine Bedenken kund, konnte aber keine Änderung bei der Entscheidung herbeiführen. Die Würfel für ein „Reset“ schienen gefallen zu sein, wenn nicht noch etwas Unvorhergesehenes dazwischen kam. Vielleicht würde ja die Mission der „Antares“ Besatzung erfolgreich verlaufen, dachte Leartas, nur einen ganz kurzen Moment. Der Philosoph wusste sofort um seine törichte und naive Hoffnung, die damit einherging. Die geschichtliche Entwicklung war viel zu weit fortgeschritten, als dass es jemals zu einer substanziellen Änderung im Raumzeitgefüge kommen könne. Diesmal waren es die Anorganischen, die seine Ansicht teilten. Dies tröstete Leartas nicht wirklich und begann, sich langsam aus der telepathischen Kommunikation zu lösen, bzw. die Fremden gaben seinen Geist wieder frei.
„Es ist nicht so, dass die Menschen einfach vergessen werden: Es wird nie geschehen, was geschehen ist!“ das war es, was die fremde Lebensform als eine der Folgen bezeichnet hatte, die ein sogenannter Reset des Alls mit sich bringen würde. „...es wird nie geschehen!“ ging es Leartas immer wieder durch den Kopf. Wie sollte er den Anderranern vermitteln, was da auf sie zukam, bzw. nicht auf sie zu kam, weil ja die Gegenwart – so wie sie existierte – niemals eintreten würde. Das Beste wird sein, diese Essenz der telepathischen Auseinandersetzung zu verschweigen, sie würde für Unruhen sorgen, vielleicht für Krieg. Die Arkadier würden zu den Waffen greifen und untergehen, weil sie einen Krieg gegen die Fremden niemals gewinnen konnten, das war es, was Leartas dachte, nachdem die Telepathie definitiv abgebrochen war und einer der übrigen Emissäre - Rufus Kilcnorb – erwachte, den Kopf hob und zum Reden ansetzte:
>Ist wer hier? Wo bin ich? Ich habe doch noch ein Getränk bestellt, warum ist es so dunkel hier...<.



Aus dem Logbuch von Kommandant Erik Jordan:
Bordzeit 14.15.45. Wir haben wieder das Signal des Multiversers erhalten und kennen damit nun den präzisen Aufenthaltsort von Robinson, den wir beabsichtigen, wieder auf seinen Planeten und in seine Zeit zurückbringen. Ich teile die Ansicht von Laura, dass ein Erfolg unserer Mission allenfalls darin bestehen kann, lebendig und in einem Stück wieder nach Hause zu kommen. Ich werde mich hüten, diese Ansicht vor der Mannschaft offen heraus zu äußern, denn dies würde die Moral untergraben. Fortan wäre man in erster Linie damit beschäftigt, die Konsequenzen eines Scheiterns zu diskutieren – und damit wäre ernsthaft die Rückkehr nach Arkadia gefährdet. Ich beabsichtige, der Priorität einer sicheren und gesunden Heimreise die erste Stelle einzuräumen. Niemand von uns ist ein Spezialist für Raumzeit Theorie – nicht einmal Bolo - und kann wirklich einschätzen, was passiert, wenn das Raumzeitgefüge weiter Schaden nimmt. Eine konsequente Rückführung in einen Zustand, bevor die Schäden begonnen haben, scheint aus meiner Sicht unmöglich. Keine mir bekannte Zivilisation verfügt über das mathematisch, physikalisch, technische Know-how, um die Unternehmung einer solchen Reparatur durchzuführen. Ende der Eintragung.
Der Kapitän der „Antares“ bekam das Gefühl, dies wäre seine letzte Notiz im Logbuch als kommandierender Offizier gewesen. Seine Frau stand hinter ihm und hatte jede Zeile mitgelesen:
>Recht so, Erik!< folgte ihre Zustimmung. Eine Hand ruhte auf seiner Schulter.
Das Ehepaar hatte keine Geheimnisse voreinander, sie teilten nicht nur das Bett und das Kommando auf dem Schiff, sondern auch ihre Gedanken. Für einen arkadischen Mann war dieses Charakteristikum eher ungewöhnlich. Nicht, dass man auf dem arkadischen Mond hinter dem Mond lebte und der Emanzipation von Mann und Frau nicht ideell und auch praktisch folgte, aber, in allem alles zu teilen und keine auch nur geringsten Geheimnisse voreinander zu haben, das ging dann doch vielen Menschen zu weit. Bei ihren Brüdern und Schwestern von Anderran, die dem Individualismus oberste Priorität einräumten, wäre dies noch unwahrscheinlicher gewesen, als auf Arkadia. Bei seinem Vater und seiner Mutter war es ähnlich gewesen, offenbar hatte sich die Haltung, dass man in der Paarbeziehung alles teilte, sich über Generationen hinweg entwickelt – und auch bewährt. Zu zweit waren sie einfach effektiver, brillanter, ausdauernder, und: Es machte einfach mehr Spaß, als alleine oder gegeneinander zu operieren.

Ich hatte gerade mein Zimmer verlassen und den Flur betreten, als die Tür der Jordans sich öffnete:
>Kapitän, Kommandantin!< grüßte ich pflichtgemäß.
>Leutnant Paul!<.
Ich würde mich nie gewöhnen an diesen Rang. Und überhaupt war mir jegliche ausgeprägte Hierarchie zuwider. Die damit einhergehenden Machtgelüste einiger Protagonisten hatten mir in der Vergangenheit immer wieder das Leben unnötig schwer gemacht. Darum mochte ich auch die anderranische Welt und deren Anarchismus, mit dem ich mehr als nur sympathisierte. Dass ich mit einer Frau aus dieser Gesellschaft eine Beziehung hatte, unterstützte meine intensive Verbindung mit der Welt der Anderraner. Lira, dachte ich – genau - ich muss noch zu ihr rüber! Mir blieb noch etwas Zeit bis zum Dienstbeginn und ich suchte sie in der Krankenstation auf. Als ich den Raum betrat – wie konnte es anders sein – räumte sie die Phiolen, in denen das Blut der Besatzungsmitglieder aufbewahrt wurde, in ein Regal und hatte gerade das letzte Fläschchen fein säuberlich etikettiert. Orestes saß an einem Computer und arbeitete an den Daten der Patienten – so viele waren wir nicht an Bord und die Miniroboter brauchten allenfalls ein paar Tropfen Öl zwischendurch, um ihr Funktionieren zu gewährleisten.
Ich trat von hinten an Lira heran und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie war so vertieft gewesen in ihre Arbeit, dass sie „vergaß“ zu lächeln. Bevor ich auch nur fragen konnte, gab sie schon die beruhigende Antwort:
>Niemand infiziert!< Ich könne den anderen Mitgliedern der Besatzung mitteilen, dass wir weder Klone wären, noch anorganische Lebensformen.
>Paul?<
>Ja, was ist?<
>Wie ist das eigentlich auf der Erde – wie steht ihr zu Leben fern von eurem Planeten?<
Vor dem Hintergrund der fremden Lebensform, die wir als Amanda Mueller an Bord genommen hatten, war ihre Neugierde nur konsequent. Und schließlich hatte ich sie ja auch eingeladen, mit mir zu kommen auf die Erde. Ich hatte diese Frage irgendwann befürchtet – und zugleich erhofft. Aus freien Stücken schien ich bisher aber nicht bereit gewesen zu sein oder es mangelte einfach an Zeit, obschon wir ja theoretisch die Zeit des Multiversums besaßen. Was für ein psychologisches Paradox! Ich entschloss mich, ihr von den frühen Unternehmungen der Erde zu erzählen, als man den Mond begann zu erforschen und auch Gestein von dort zur Erde brachte.
>Wow – so weit seid ihr schon in der Raumfahrt!< antwortete sie begeistert.
Ich musste im Folgenden leider ihre Euphorie etwas dämpfen, denn die moralischen Hintergründe und auch Abgründe, die in der Intention der irdischen Erkundung fremder Himmelkörper verborgen lag, war alles andere als ehrenwert. Schließlich war der sogenannte Wettlauf zum Mond das Produkt zweier militärisch hochgerüsteter imperialistischer Machtblöcke gewesen, die sich nichts geschenkt hatten und die über Leichen gingen, um ihre militärisch politischen Ziele zu erreichen. Ich erzählte ihr davon, dass nach der Erkundung des irdischen Mondes eine Flaute in der Weltraumforschung eingetreten war und man keine wirklich hochgesteckten Ziele mehr verfolgt hatte, zumindest nicht in der bemannten Raumfahrt.
>Allerdings, und das ist das Ambivalente< fuhr ich fort >ist man heute an einem Punkt angelangt, wo wir unser Wissen über das Universum enorm erweitert haben aufgrund einer sehr effizienten internationalen Zusammenarbeit<.
Ich berichtete von der Kehrseite des wissenschaftlichen Fortschritts, dass immer mehr profitorientierte Unternehmen Einfluss gewönnen und manche Projekte nur noch darauf abzielten, Gewinne zu erwirtschaften. Der ursprünglich sehr ausgeprägte Forschergeist und die Neugierde würden da deutlich zurücktreten, auch vor Moral und Ethik.
>Also werden demnächst nur noch Bergbauunternehmen im All unterwegs sein< folgerte Lira.
>Ich fürchte, so wird es sein und die werden das Gleiche tun, wie auf der Erde, verwüstete Landschaften hinterlassen und womöglich Lebensformen auf fremden Himmelskörpern töten, bevor man sie überhaupt entdeckt hat!<.
Eine Parallele zum Vorgehen der Arkadier war nicht zu übersehen und vielleicht auch nicht zufällig, wie ich fand. Mich hatte es schon immer befremdet, wenn sich irdische atombetriebene Flugobjekte in die Atmosphären anderer Monde und Planeten stürzten, mit dem Auftrag, Leben zu suchen oder auch nur Spuren von extraterrestrischen Formen des Lebens. Das war für mich zutiefst ignorant und zerstörerisch und konnte wissenschaftlich betrachtet nicht zielführend sein. Letztlich glaubte ich nicht mehr an die vorgeblichen Visionen, die verkündet und die Missionen, die gestartet wurden zu fernen Welten, um Leben außerhalb der Erde zu entdecken. Maßlose Profitgier und das völlige Ausklammern ökologischer Aspekte bei Planung und Durchführung interplanetarischer Projekte führten letztlich zu immer mehr Problemen, wie man an der ungeheuren Menge an Weltraumschrott ablesen konnte, der sich mittlerweile im Orbit unseres Planeten befand.
>Wenn das so weiter geht, können wir bald keine Raketen mehr ins All schießen, weil kein Durchkommen mehr ist durch den Müllgürtel der Erde<.
>Das ist ja furchtbar!< konstatierte Lira.
>Das ist es, in der Tat!<.
Doch immerhin handelte es sich dabei um unser Haus. Aber wer oder was gab uns das Recht, unsere Heimat zu verlassen, auf anderen Planeten zu landen und dort unseren Schrott, unseren Müll und radioaktive Elemente zu entlassen, die völlig unkontrolliert in die Sphären der fremden Himmelskörper gelangten?! Das war der Gipfel dessen, was man tun konnte, um seine Ignoranz und Missbilligung sowie den niederschwelligen Respekt zu demonstrieren, den man dem Leben grundsätzlich einräumte! Ich konnte inzwischen nur hoffen, dass die Menschen von der Erde niemals in der Lage sein würden, tatsächlich ferne Welten zu erkunden und sie dauerhaft zu besiedeln. Und das empfand ich gleichzeitig als sehr bedauerlich, weil es meinen Glauben und meine Hoffnungen zerstörte, die ich im Zusammenhang mit der Astronomie immer gehegt hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, um so desillusionierter wurde ich.
>Was ist los?< Lira strich mit ihren weiß behandschuhten Händen durch mein Haar, was mich herausriss aus dem Griff der Würgeschlange Depression.



>Halbe Schubkraft steht bereit< vermeldete Subkommandantin Jordan, die neben mir saß. Ich hatte das Privileg, einen der Raumgleiter zu steuern, der nun auf dem Weg nach Planet X war. Wieso hatte man eigentlich keinen anständigen Namen gefunden für einen Planeten am Rande des Kosmos?! Ich empfand das als sehr phantasielos, ja, fast schon ignorant; immerhin würde sich auf dem Planeten vielleicht das Schicksal des Homo Sapiens entscheiden.
>Alle Systeme auf stand by< antwortete ich.
Lira saß im Heck des Gleiters und zu ihren Füßen stand ein Erste Hilfe Koffer. Vielleicht würde Robinson Medikamente benötigen oder man musste eine Verletzung behandeln. Auch uns konnte natürlich auf der fremden Welt etwas zustoßen. Gut, dass wir mit Lira eine Person an Bord hatten, die sich auch auf medizinische Dinge verstand. Überdies hatte sie ja schon bei den Minoern gezeigt, was in ihr steckte, als sie mich nach der Attacke eines Soldaten verbunden hatte.
>Freigabe für Start!< meldete sich Bolo von der Brücke der „Antares“.
Endlich konnte es los gehen. Ich gab Schub auf die Düsen und man konnte deutlich vernehmen, wie die Triebwerke arbeiteten. Weil das Schiff noch im Hangar der „Antares“ stand und der Raum unter Atmosphäre, gab es natürlich auch die üblichen Geräusche, die durch die Luft übertragen wurden und deutlich akustisch zu vernehmen waren. Da draußen im All würde dieser Lärm verstummen und wir würden nur noch ein leises Summen der Gerätschaften vernehmen, die für die Atemluft zuständig waren sowie den Betrieb der Computer. Dann öffnete sich allmählich die Luke der „Antares“ und wir verließen den Bauch des Schiffes. Vor uns deutlich zu erkennen war der Rote Zwerg von Planet X, in dessen Schatten sich der erdähnliche Planet bewegte, den unser Freund von der Erde sich ausgesucht hatte. Die Subkommandantin justierte den Scanner, der eine Verbindung zu Robinson herstellen konnte. Bolo hatte zuvor von der Brücke aus einen kurzen Kontakt gehabt zu dem kretischen Fischer, der in Wahrheit Stavros hieß. Wir wollten ihn auch genauso nennen, bei seinem richtigen Namen. Weil wir nicht wussten, wie es um seinen Gesundheitszustand bestellt war, schien es wichtig zu sein, mit Vorsicht dem Mann zu begegnen. Im Grunde hatten wir nicht die geringste Ahnung, was da unten auf uns wartete und wir wollten auch nicht länger als nötig auf dem Planeten verweilen.
Zugegeben: Ich wäre lieber mit André und Lira geflogen und auch Orestes. Diese Laura Jordan an meiner Seite empfand ich als eine Art Bewacher und ich fühlte mich nicht sonderlich wohl neben ihr. Zudem schaute sie mir ständig auf die Finger, ähnlich wie einem Büroangestellten, der das erste Mal, sich in ein neues Computer Programm einloggt. Bei meinem zuvor absolvierten Flugtraining hatte Erik Jordan dort gesessen, wo Lira sich heute befand und ich konnte freier agieren. Heute war das anders und ich war froh, wenn die Unternehmung beendet sein würde.
Nun war auch der Planet deutlich zu erkennen neben seiner kleinen Sonne, die nicht genügend Wärme entwickelte, um ein Klima zu schaffen, wie auf unserem Heimatplaneten. Lira hatte sich an den Computer gesetzt, der sich im Heck des Schiffes befand; sie konnte dort die Daten abrufen, die Auskunft gaben über die Umweltbedingungen auf dem Planeten und in der Nähe unseres Landeplatzes.
>Das Wetter ist stabil. Keine nennenswerten Windbewegungen und die Temperatur liegt bei 23 Grad Celsius, die Luft ist atembar und sehr rein<.
>Danke, Lira!<. Die Subkommandantin schaute missmutig zu mir herüber.
>Danke, Oberfähnrich Lira!< korrigierte ich mich. Das genau waren die Momente, die ich hasste. Nach dem Abtransport von Robinson würde ich lediglich Dienst nach Plan machen und mich sehr zurückhalten mit einem ehrgeizigen Auftreten.
Der Gleiter begann leicht zu vibrieren, offensichtlich hatten wir die obersten Atmosphärenschichten erreicht.
>Ich gleiche die Stabilisatoren an< meldete ich in Richtung „Fahrlehrer“.
>Gut, tun sie das!<.
Das Shuttle geriet in ruhigeres „Fahrwasser“ und wir konnten nun durch unser Frontfenster deutlich die Strukturen einer dunklen Gebirgskette erkennen und das Blau eines kleinen Ozeans. Irgendwo dazwischen musste Stavros sich befinden. Wir durchbrachen eine Wolkendecke und das Shuttle geriet erneut in Turbulenzen, die ich nicht mehr ausgleichen konnte mit den Stabilisatoren. Nun war einzig fliegerisches Können angezeigt, wie ich fand. Laura Jordan ließ mich gewähren. Ich beschloss, nicht allzu steil in den Sinkflug zu gehen. Und so flog ich eine lange, sehr lange Schleife, die uns weit abbrachte vom Ort, an dem Stavros sich befand. Ich spielte mit dem Flieger. Wann würde ich wohl noch einmal diese Möglichkeit haben?!
>Da – dort ist unser Landeplatz!<.
Laura deutete auf den roten Punkt, der den Aufenthaltsort von Stavros markierte und deutlich in der Scheibe unseres Shuttles zu erkennen war. Die Scheibe des Jets war zugleich ein Monitor, was überaus hilfreich war bei den Landemanövern. Ich ließ mich nicht irritieren von der Subkommandantin und flog eine weitere Schleife, wobei ich beobachten konnte, dass Lira sich die Hand vor dem Mund hielt – sie lachte. Das Shuttle sackte ziemlich durch, als ich eine scharfe Kurve nahm, um nun doch direkten Kurs auf den alten Griechen zu nehmen.
>Ah!< machte die Subkommandantin.
Ich musste mich ein wenig zurückhalten, sonst würde ich degradiert werden, dachte ich. Den Rest der Strecke begann ich, in einen langsamen und sehr disziplinierten Landeanflug überzugehen. Wir waren auf der Tagseite des Planeten, hier würde es nie dunkel werden. Zumindest hatte Robinson schon mal die richtige Seite gewählt. Hätten wir ihn auf der Nachtseite suchen müssen, wäre das erheblich schwieriger geworden. Zwischen den monotonen Brauntönen der Oberfläche mischte sich hier und dort ein wenig Grün, Hellgrün und Violett. Das deutete Vegetation an. Ich konnte am Rand des Meeres erkennen, dass sich dort unser Ziel befand.
>Bereit zum Landen!<
>Landen sie!<.
>Stavros, können sie mich hören?< Laura Jordan wiederholte einige Male ihren Versuch, den Griechen zu erreichen. Erfolglos. Unter uns schob sich der Saum einer Küste am Rande des Alls unter unser Shuttle. Keine Vibrationen, absolut ruhige Landung, noch dreihundert Meter bis zu den Zielkoordinaten.
>Da, da ist er!< Lira war nach vorne gekommen und deutete auf einen Lagerplatz nahe des Strandes.

Als wir an der Küste gelandet und den Raumgleiter verlassen hatten, flogen uns die Kugeln um die Ohren. Offensichtlich hielt uns Stavros für feindlich gesinnte Zeitgenossen oder er war einfach nur wahnsinnig geworden.
>Hören sie auf – sie verdammter Idiot!< brüllte die Subkommandantin in den Kommunikator. Sie hatte die Frequenz des Multiversers auf ihrem Kommunikator legen können. Trotzdem antwortete Stavros erst sehr spät:
>Haut ab! Ich will euch hier nicht haben!< konnte man eine krächzende Stimme vernehmen. Dann schoss er erneut auf uns, wir warfen uns auf den Boden, und verbargen uns hinter einer kleinen Düne. Da hinten war er, deutlich zu erkennen war ein Haufen Müll oder was auch immer der Mann da aufgetürmt hatte. Dann schoss er wieder.
>Hören sie endlich auf, sie verdammter Loser!< Das schien heute nicht der Tag der Laura Jordan zu sein. Bei dem Zwischenfall mit der vermeintlichen Ärztin war sie wesentlich gelassener. Was war nur mit ihr los?
>Bist du sicher, dass mit ihrem Blut alles in Ordnung war bei der Analyse?< fragte ich Lira, die neben mir im Sand kauerte.
>Ziemlich sicher<
>Ziemlich?<
>Na ja, so ein paar kleine Abweichungen in der DNA machen noch keine Anorganischen oder Klone< meinte sie.
>Was für Abweichungen?< ich konnte keine Antwort mehr erhalten, denn Laura Jordan hatte sich entschlossen, die Deckung zu verlassen und geradewegs auf den durchgeknallten Griechen zuzugehen - mit erhobenen Armen rief sie dem schießwütigen Robinson zu:
>Nicht schießen! Wir sind Freunde!<. Und dann schoss er doch und die Frau klappte wie ein Messer zusammen. Offensichtlich hatte sie ein Projektil in den Bauch getroffen.
>Halt – du willst doch da nicht rüber?!< ich packte Lira am Arm, die ebenfalls die Düne überklettern wollte.
>Jemand muss ihr helfen...< meinte sie, als ginge es darum, einer alten Dame die Überquerung einer Straße zu ermöglichen, also etwas völlig selbstverständliches und auch nicht zwingend lebensgefährliches.
>Ja, schon gut!<.
Ich robbte auf allen Vieren langsam und überaus vorsichtig durch den Sand und hatte gerade die Krone der Düne erreicht, als ich deutlich erkennen konnte, wie der Körper der Frau, die da vorne zwischen einigen Ästen und Geröll lag, sich zu verändern begann. Eine Art von Metamorphose der beschleunigten Art, schoss es mir durch den Kopf! Es war das gleiche Schauspiel, welches wir bei der Ärztin beobachtet hatten. Die körperlichen Strukturen lösten sich allmählich auf und begannen ihre wahre Natur zu offenbaren.
>Tut mir leid – das wollte ich nicht!< rief der Mann zu uns herüber, der zuvor die Frau mit seiner Waffe niedergestreckt hatte.
Er reckte die Arme überaus angestrengt in das zwielichtige purpurfarbene Gewölk des Himmels von Planet X, verließ seine Deckung am oberen Saum der Küste und kam langsam auf uns zu – seine Waffe hatte er zuvor mit der klaren Geste der Kapitulation in den Sand geschleudert. Da ist er wieder, der Müll und der Dreck unserer sogenannten Zivilisation, den wir nun schon an den Rand des Multiversums verbracht haben, dachte ich, während mich nun Lira wiederum am Arm packte:
>Sieh nur!<
Meine Freundin deutete auf die Reste der vermeintlichen Subkommandantin, die sich immer weiter auflöste. Als wir aufgestanden waren und uns der Grieche immer näher kam, konnten wir sogar den Schleim erkennen, den wir auch schon bei Amanda Mueller beobachten konnten. Das war wohl das Plasma, welches aus einer Reaktion mit dem „Multiversium“ entstanden war.
>Das wollte ich nicht! Tut mir wirklich leid!<.
Mit gesenktem Haupt trat der Mann vor unsere Augen. Er war völlig zerlumpt und brauchte dringend ein Bad und eine ordentliche Haarpflege. Ansonsten schien er unversehrt und benötigte wohl auch keine medizinische erste Hilfe; abgesehen von seiner Schießwut, schien er in Ordnung zu sein.
>Hier ist Leutnant Paul, „Antares“ bitte kommen!<
Spontan hatte ich mich entschlossen, unser Raumschiff zu kontaktieren, welches sich nach wie vor im Orbit des Planeten befand.
>Hier spricht Bordmechaniker Bolo Conceptor, was können wir für euch tun?<.
Ich erklärte ihm die Lage, wobei ich froh war, dass er sich gemeldet hatte und nicht der Kapitän. So oblag es ihm, dem Mann mitzuteilen, dass seine Frau nicht seine Frau gewesen war, sondern eine Kopie. Wie konnte es sein, dass es niemandem aufgefallen war, dass etwas nicht stimmte mit den Persönlichkeiten, die sich nun in den Äther der Vergänglichkeit verabschiedeten?! Ich begriff das nicht. Lira würde wohl ihre Analysen erneut vornehmen müssen, damit wir sicher sein konnten, mit wem wir es zu tun hatten.
>Ich bin nun mal keine ausgebildete Medizinerin< entschuldigte sich Lira für ihr vermeintliches Versagen.
>Niemand macht dir einen Vorwurf!< tröstete ich sie >Die sind einfach zu perfekt gebaut für unsere Messinstrumente.
>Was ist nun?< blaffte ich den Griechen an und hatte eine mächtig miese Laune.
Lira hatte aus ihrem Medizinkoffer ein Set geholt und machte erneut einen Abstrich, um ihn später an Bord der „Antares“ genauestens zu untersuchen. Dann schaltete sich auch noch Erik Jordan ein, der in den Kommunikator brüllte:
>Was ist los? Was habt ihr mit meiner Frau gemacht?<
Der Mann hatte völlig die Contenance verloren. Offenbar hatte Bolo ihn dann von seinem Kommunikator gelöst und André schien sich anschließend um den Kapitän zu kümmern. Ich konnte noch aus dem Hintergrund „Mörder“ vernehmen „Ihr Mörder!“.
Mir schwante Übles! Da waren wir 37 Milliarden Jahre in der Zukunft gelandet, die Frau des Kapitäns war ein Duplikat gewesen, ebenso wie die Ärztin, der Kommandant verlor die Kontrolle über seine Nerven, Lira zweifelte an ihrer Kompetenz, mein Freund war mit Drogen rückfällig und im Übrigen glaubte niemand an den Erfolg unserer Mission – nur zugeben wollte es keiner!
>Nichts sagen – halt bloß dein dämliches Maul!< bekam nun Stavros meinen ganzen Frust ab. Der blieb still und wie angewurzelt an einer Stelle stehen, hielt immer noch die Arme ausgestreckt und seine leeren Augen sahen in eine Welt, die er nicht mehr verstand. Der Mann war längst dem Wahnsinn verfallen, wie ich fand.
Und dann kam mir ein Verdacht: Was wäre, wenn auch der Kommandant eine Kopie war? Mir war aufgefallen, dass beide Toten vor ihrem Ableben, sich überaus sonderbar verhalten hatten. Während unserer Reise durch das Schwarze Loch schien die Ärztin den Verstand zu verlieren und Laura Jordan hatte sich ebenfalls sehr merkwürdig benommen an Bord des Shuttles. Wie sie immerzu meine Flugkünste überwachte, entsprach eigentlich nicht ihrem sonstigen Verhalten, da war sie zurückhaltender gewesen und traute dem Personal der „Antares“ deutlich mehr zu. Es könnte sogar noch schlimmer kommen, alle an Bord des Schiffes waren Kopien! In Wahrheit hatten die Anorganischen die gesamte Gesellschaft von Arkadia und auch Anderran unterwandert, um so ihre imperialistischen Ziele besser erreichen zu können. Ich ruderte gedanklich ganz schnell wieder zurück, denn ich bekam das Gefühl, dass dies die irrationalen Gedanken einer beginnenden Paranoia waren. „Stopp!“ sagte ich zu mir selber und beobachtete dennoch ein wenig misstrauisch, wie sich Lira bewegte und wie sie was sagte. Vielleicht sollte ich selber einmal einen Blick durch das Elektronenmikroskop werfen, um mich von den Ergebnissen zu überzeugen. Das würde ich machen, beschloss ich!
Außer ein Paar Handfesseln hatten wir keinerlei Gerätschaften zu unserem Schutz dabei. Zum Glück hatte sich der Grieche ergeben, sonst hätten wir ein ernsthaftes Problem bekommen, ihn aus seiner Deckung zu locken und festzunehmen. Ich band seine Handgelenke aneinander und das sehr fest, überaus fest, sodass der Mann aufstöhnte:
>Das tut weh, verdammt!<
>Das soll es auch!< meinte ich, entschloss mich dann aber doch, die Fesseln etwas zu lockern.
Lira hatte ihre Utensilien inzwischen wieder im Koffer verpackt und wir waren abmarschbereit. Eine Beerdigung der Reste, die einst Laura Jordan ausgemacht hatten, hielten wir für überflüssig und bestiegen das Shuttle zum Abflug von diesem Planeten. Unter anderen Umständen wäre ich gerne verweilt und hätte weitere Untersuchungen vorgenommen. Aber unter diesen Umständen!?
>Halt!< meinte ich zu Lira und verließ das Shuttle erneut, begab mich zum Lagerplatz des Griechen, sammelte seine Habseligkeiten ein und nahm auch die Waffe mit, die er in den Sand geworfen hatte. Ich packte alles in den feuchten Rucksack, der neben Patronen, Konservendosen und einem abgewrackten Zelt gelegen hatte und nahm das Paket mit an Bord und legte es sorgsam in eine der Ecken im Heck des Schiffes. Unweit davon saß der Grieche Stavros Robinson, der letzte Sapiens, zusammengekauert und machte keinen Muckser.
>Ich muss dich loben, mein Lieber!< meinte Lira, die immer noch an ihrem Platz – diesmal im Fond des Schiffes – saß und letzte Vorbereitungen für den Start unternommen hatte.
>Tja: Du bist die empathischere Person von uns beiden, dafür hinterlasse ich keinen Müll auf fremden Planeten!<
Die Landeluke öffnete sich wie von Geisterhand und wir schwebten engelsgleich mit unserem wunderbaren Vogel in den Bauch der „Antares“. Den Rückflug hatte ich wahrlich genossen – ohne die Kontrollwut einer Subkommandantin, die nichts anderes gewesen war als eine plasmatische Lebensform aus den dunklen Tiefen des Kosmos. Wo waren wohl all die Originale geblieben? Waren sie überhaupt noch am leben? Ich konzentrierte mich auf die abschließende Landung, die mir sanft und sicher gelang. Das Shuttle hatte keinen Schaden genommen, nicht eine Schramme „zierte“ die wunderschöne Form dieses eleganten Fluggerätes.
Als wir das Shuttle verließen, konnte ich beobachten, dass der Kapitän äußerst gefasst schien. Er stand mit André, Bolo und Orestes im Hangar. Man hatte unsere Ankunft wohl sehnlichst erwartet. Die „Antares“ lief offensichtlich im automatischen Modus, denn wir waren schließlich komplett und vollständig versammelt und standen nun gemeinsam vor dem schlanken und strahlend weißen Bug des Raumgleiters.
>Mein Beileid – Kapitän!< mir war die Sache mit seiner Frau äußerst unangenehm und darum beließ ich es bei einer floskelhaften Äußerung.
>Sie können nichts dafür, es ist nicht ihre Schuld!< antwortete Erik Jordan. Ich wollte gerade tief durchatmen und war sehr zufrieden mit dieser Entwicklung. Doch dann riss sich der Kapitän von meinem Freund los, der ihn bis dahin sanft am Arm gehalten hatte und stürmte auf mich zu, schlang seine Hände um meinen Hals und begann mich zu würgen:
>Du Mörder, du Mörder!< er drückte immer fester zu.
Sogleich kamen die anderen Männer herbeigelaufen und versuchten, den durchgedrehten Kapitän zur Räson zu bringen. André und Orestes schafften es, die Hände des Mannes, die sich wie Schraubzwingen um meinen Hals gelegt hatten, zu lösen. Ich bekam allmählich wieder Luft und begann zu husten. Nahe unseres Pulks stand der gefesselte Grieche und grinste frech in seinen dunklen verfilzten Bart. Bolo stand bei ihm, kontrollierte seine Fesseln und blieb bei ihm stehen, um ihn zu bewachen. Ich war froh, dass er das tat; nur nicht noch ein Amok laufender Vollidiot hier an Bord, dachte ich.
>Fesselt den Kerl!“ röchelte ich >Macht den Typen dingfest!<.
Ich nahm eine gebückte Haltung ein und versuchte, wieder ordentlich Luft zu bekommen. Lira stand bei mir und hatte ihre Hände auf meinem Rücken:
>Geht es wieder?<
>Ja, geht schon; dieser verdammte Kerl!<
Wahrscheinlich war meine Vermutung richtig und auch der Kapitän war eine Kopie. Wie um meine letzten Gedanken zu bestätigen, begann Erik Jordan seine Struktur zu verändern. Die Männer konnten ihn nicht mehr halten, er schmolz förmlich dahin. Die Hülle seines Körpers rann den Männern einfach durch die Hände, und auf dem Boden blieb nichts zurück, als die uns mittlerweile bekannten Silizium Partikel, die grau schwarz schimmerten auf dem weißen Lack des Bodens. Eines unterschied sich von den bisherigen Situationen: Diesmal verlief der Aggregatwechsel wesentlich schneller.
>Das liegt an dem Schwarzen Loch< meinte Orestes, der an mich herangetreten war und meine Gedanken erahnt hatte >Ich habe erneut die Blutproben untersucht und verglichen mit dem Plasma der Abstriche. Die energetische Strahlung des Schwarzen Lochs hatte die Struktur der fremden Lebensform nachhaltig geschädigt<.
Ich konnte inzwischen wieder aufrecht stehen, ging schließlich auf Orestes zu, packte sein Gesicht und gab ihm einen Kuss auf die Stirn:
>Danke Orestes, Danke Orestes!<
Der Anderraner war total verdutzt, sagte aber nichts, während André sich zu Wort meldete:
>Was machen wir mit dem?< und deutete auf den verlausten Robinson.
>Der kommt in die Brigg!< antwortete Bolo, packte den letzten Sapiens beim Arm und führte ihn hinüber in die Arrestzelle der „Antares“. Wir mussten uns später unbedingt um den Mann kümmern. Im Grunde war er ja nicht verantwortlich für die ganzen Vorkommnisse, für all das, was geschehen war. Ich bekam langsam ein schlechtes Gewissen, weil ich den Kerl so mies behandelt hatte. Ich wollte mich später einmal mit ihm in Ruhe beschäftigen.

>Das ist ja völlig schizophren!< meinte ich.
Wir saßen beim Meeting versammelt und waren nur noch zu Fünft, wirklich überschaubar, wie ich fand.
>Die Logbucheinträge der beiden Jordans verraten überhaupt keine Auffälligkeiten, geschweige denn, ein Indiz für Spionage oder dergleichen< hatte Bolo zuvor geäußert.
Bei der Ärztin war das noch etwas anderes gewesen, die hatte sogar, als wir noch in Reichweite waren von Arkadia, mit den Fremden kommuniziert und sie informiert über unseren Flugplan.
>Ich verstehe das auch nicht< gestand sich Lira ein. Wir schüttelten alle die Köpfe, wir hatten einfach keine Erklärung hierfür.
>Vielleicht gab es so etwas wie einen Rückkopplungseffekt innerhalb ihres Organismus`< stellte Bolo eine logische Vermutung an und erklärte, dass es die Rückkopplung auf vielen Gebieten in der Wissenschaft gebe, auch auf der biologisch-chemischen Ebene. Bei der Vererbung kannte man das auch, wenn nach Generationen wieder, und scheinbar völlig unverständlich, körperlich ausgebildete Merkmale zutage traten, die man seit langer Zeit nicht mehr beobachtet hatte.
>Ich würde aber sagen: Wir stellen das Thema erstmal hintenan, wir haben wichtigeres zu tun< meinte Bolo.
Da der Chefingenieur nun der einzig überlebende Arkadier war, war er folgerichtig auch der Ranghöchste und besaß die Befehlsgewalt über das Schiff.
>Nach den Vorschriften der Flotten Akademie übernehme ich mit sofortiger Wirkung das Amt des Kapitäns und ernenne sie zu meinem Stellvertreter, Leutnant Paul!< ich war wie vom Blitz getroffen, aber auch gerührt. Vielleicht würde ich ja doch noch Kapitän auf unserem Rückflug, schoss es mir durch den Kopf.
>Danke, Kapitän, ich weiß das zu schätzen!< antwortete ich.
Der Platz des Kapitäns würde dennoch leer bleiben, weil Bolo Conceptor beabsichtigte, weiterhin die bisherige Station an der mathematisch-technischen Konsole zu behalten.
Das schien mir nur allzu einleuchtend. Ich würde nach wie vor die Umweltkontrollen bedienen und die Roboter, diese kleinen weißen Dinger, die überall herumwuselten und die man nicht wirklich zu Gesicht bekam, weil sie nahezu verschmolzen mit dem Dekor des Schiffes. Ich war schon einmal über so ein Teil gestolpert. André scannte weiterhin das All und Lira und Orestes gingen noch einmal intensiv die Untersuchungsergebnisse durch, die bisher vorlagen, und verglichen sie mit den aktuellen. Ich beschloss, sobald ich Zeit hatte, die zwei zu besuchen, um mir selbst die Analysen anzusehen. Ich fand es bedauerlich, ich konnte diesen Bolo wirklich gut leiden, aber es half alles nichts: Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch er eine fremde Lebensform war. Vielleicht war ich aber auch einfach nur zu misstrauisch, denn das kannte ich durchaus von mir, Misstrauen, welches half und vor Schäden bewahrte, aber auch zu Blockaden führte und Fehldeutungen. Ich musste da immerzu auf der Hut sein und eine gesunde Balance finden, zwischen seriösem Vertrauen und lebensnotwendiger Vorsicht.
>Kommst du mit?< fragte mich Lira, als die Besprechung beendet war.
Das Schiff flog mit Autopilot und Bolo hatte uns allen frei gegeben. Wir sollten uns erholen für die Rückreise. Lira und Orestes wollten das Studio besuchen, in dem man Teil holografischer Programme werden konnte. Ich besaß da so ein Gefühl der Ambivalenz, war aber auch immer wieder neugierig. Und die siegte auch wieder an diesem Tag.
>Ja, ich komme mit!<.
André schloss sich uns an, nur Bolo hatte entschieden, seine Kajüte aufzusuchen und sich auf`s Ohr zu hauen, wie er meinte.
>Bolo im Bett, Robinson im Knast, das wird nett!<
André hatte wieder begonnen, sich im Reimen zu üben. Die Ergebnisse seiner Bemühungen hatte ich immer eher als bescheiden angesehen. Da machte er am Klavier eine bessere Figur.
>Was habt ihr denn für ein Programm ausgewählt?< wollte ich wissen.
>Blueskneipe in New Orleans!< brach es aus André heraus.
>Klar, wie sollte es anders sein!<.
Bolo hatte uns beobachtet, als wir vier zusammenstanden und uns für das Holografiestudio entschieden hatten. Was dachte er?
>Komm, lass uns gehen!<
Lira hakte sich bei mir unter und wir gingen durch den langen Korridor, dann links und nochmal rechts und dann waren wir da. Die Tür öffnete sich und wir waren mittendrin im Trubel einer Kneipe im Mississippidelta, verraucht im blauen Dunst, schweißtreibenden Rhythmen des Jazz und Blues, Calypso und Rock´n´Roll. Eine Live Band spielte Dixie. Wir gingen schnurstracks auf einen kleinen runden Tisch zu, der etwas abseits stand von einer gefüllten Tanzfläche. Wir waren die einzigen hellhäutigen Personen im Raum, aber wir wurden nicht im Geringsten gemustert oder beobachtet. Das waren ja schließlich nur Holografien, musste ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen. Diese aber mussten programmiert werden. Wer macht sich eine solche Arbeit? André erzählte, dass es auf Arkadia eine regelrechte Industrie geben würde für holografische Programme jeder Art. Die Holografie war das, was das Kino für uns Erdenbürger war, aber dies hier war eindeutig spannender!

Glücklicherweise waren die alkoholischen Getränke genauso wenig echt gewesen, wie das ganze Übrige drum herum im Studio. Ich hätte sonst einen unglaublichen Kater gehabt am nächsten Morgen, bei den vielen exotischen Flüssigkeiten, die ich zu mir genommen hatte.
>Paul!< Lira bollerte gegen meine Tür.
Ich sprang sofort aus dem Bett und machte auf.
>Du musst mitkommen!< sie schien völlig aufgelöst. Auf dem Flur und neben ihr standen etwas ratlos Orestes und André.
>Bolo hätte längst auf der Brücke sein müssen< meinte André.
Wir schritten im eiligen Tempo hinüber zu seiner Kajüte. Orestes sprach in den Kommunikator:
>Kapitän – öffnen sie!<.
>Das hatten wir doch alles schon einmal< grummelte ich vor mich hin.
>Ja, der wird genauso hinüber sein, wie die anderen< meinte André lakonisch.
>Wenn wir das hier hinter uns haben, müssen wir sofort auf die Krankenstation...< entgegnete ich André.
>Am besten ganz frisches Blut abzapfen - von jedem< antwortete er und ich fügte hinzu >Wir werden alle nacheinander durch das Okular schauen, um uns davon zu überzeugen, dass es keine plasmatischen Indizien gibt<.
Dass mein Freund und ich nicht die geringste Ahnung hatten von medizinischen Untersuchungen dieser Art, das hielten wir zurück. Wir hofften einfach, dass uns die Auffälligkeiten, sollte es sie denn geben, uns sofort ins Auge springen. Vielleicht würde ja ein rotes Blutkörperchen auftauchen mit einem Schild: Hallo, ich bin`s, der freundliche Alien von nebenan!
Es kam erneut das Eisen zum Einsatz, welches seine Dienste schon bei Frau Mueller erfüllt hatte. Diese Tür war leider etwas hartnäckiger oder wir hatten einfach nicht die nötige Power. Jeder von uns mühte sich schwitzend nacheinander an der Tür ab, bis sich die zwei Teile endlich auseinander bewegten und ein ausreichender Spalt sich geöffnet hatte. Wie wir nicht anders erwartet hatten, gab es da nichts mehr, was an den Ingenieur, Mathematiker und Kurzzeit Kapitän Bolo Conceptor von Arkadia erinnerte. Damit waren nur noch zwei Anderraner und wir zwei von der Erde an Bord eines arkadischen Raumschiffes. Wenn wir es je schaffen sollten bis zum Mond der Raumfahrer, würde man uns bestimmt lynchen, wenn wir ohne eine Spur der arkadischen Besatzung im Hafen einlaufen. Vielleicht schätzte ich die Lage aber auch zu pessimistisch ein. Ich wusste es nicht. Es begann und endete die übliche Prozedur: Abstrich machen von den Überresten der Lebensform, Aufsammeln der Silizium Partikel inklusive einer Probe davon, Entsorgung aller Materialien, die in Kontakt standen zum „Leichnam“, Desinfektion durch einen Roboter. Anschließend zogen wir alle in die Krankenstation um und überließen währenddessen dem Autopilot die weitere Flugsteuerung. Sollte es zu Störungen kommen, würde uns ein lauter Alarmton aufmerksam machen und wir müssten sofort auf die Brücke.
>Ich kann keine Abweichungen erkennen< verkündete Lira, als sie die Probe des Abstrichs unter dem Mikroskop liegen hatte.
Wir standen um sie herum und verfolgten genauestens die Abläufe aller Vorgänge. Meine Freundin blickte auf, und dann in die Runde, sowie jedem einzelnen von uns in die Augen:
>Bitte, schaut selbst!< meinte sie und ich war mir sicher zu bemerken, wie ein deutliches Misstrauen, sich nicht nur bei ihr, sondern bei jedem von uns breit gemacht hatte.
>Du machst das schon gut< sagte ich, wobei ich sanft ihre Schulter berührte.
Ein gezwungenes Lächeln in ihrem Gesicht konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie zutiefst verletzt war. Vertrauen war bisher die Basis ihrer Persönlichkeit gewesen, und ein Teil ihres Selbstverständnisses, und Vertrauen war auch ein Eckpfeiler des anderranischen Anarchismus. Und nun befürchtete jeder von uns, der andere könnte eine Kopie sein, kreiert von einer Lebensform jenseits aller bisher erforschten Areale des Multiversums. Dennoch wussten wir alle um die Notwendigkeit der Analysen und dass sie offen einsichtig waren und jeder sich ein Bild machen konnte; auch dies wäre durchaus Teil des anarchistischen Selbstverständnisses. Lira verstand das gut und ihre Gesichtszüge entspannten sich allmählich.
>Du hast Recht!< meinte sie und überließ mir den Blick durch das Okular.
Eigentlich hätte es sich um ganz gewöhnliche Gewebepartikel handeln können, die da auf dem kleinen Scheibchen lagen, aber Lira erklärte, warum sie es nicht sein konnten. Es gab definitiv keine wie auch immer geartete lebendige Zellstruktur. Auch bei externer Anregung des Materials durch elektrische Ströme tat sich nichts. Und der Aufbau der Struktur unterschied sich deutlich von organischen Substanzen und glich eher denen anorganischer. Die Analyse brachte keine Neuigkeiten. Die Partikel, die übrig geblieben waren, bestanden aus Silizium.
>Ich denke, es liegt daran, dass Bolo und Laura einer stärkeren oder anderen Belastung durch das Schwarze Loch ausgesetzt waren, warum sie schneller entmaterialisierten< konstatierte Orestes, der ja auch die These aufgestellt hatte, dass die Ursache der Zersetzung in unserer Reise durch das Schwarze Loch zu suchen war.
>Sozusagen: Kollateralschäden bei Zeitreisen< stellte mein Freund fest.
Ich grinste ein leicht bitteres Grinsen, unterstützte aber seine Meinung.
>Vielleicht ist das ganze Schiff betroffen< fügte Orestes hinzu, der das erste Mal wieder Schweißperlen auf der Stirn hatte.
>So weit würde ich nicht gehen< schaltete sich Lira ein >Aber dass jeder von uns in irgendeiner Weise einen Schaden davon getragen hat, ist sehr wahrscheinlich. Also werde ich jetzt von jedem Blut abnehmen und auch Urinkontrollen durchführen. Ihr habt jetzt alle gesehen, wie sich die plasmatische Probe darstellt. Sollten später im Blut oder Urin ähnliche Strukturen zu finden sein, ist davon auszugehen...<
>Dass sie oder er eine Kopie ist!< ergänzte Orestes.
>Richtig!< rundete Lira die Sache ab und legte sofort das Bild der plasmatischen Probe auf den großen Monitor, der an der Wand sich befand und viel besser die Details erkennen ließ. Vor allem die farblichen Muster, die zu erkennen waren, erinnerten mich an impressionistische Malerei.
>Könnte ein Bild von Monet sein!< André schaute mich an und wartete auf Zustimmung.
>Eher Manet. Der hatte einen längeren Pinselstrich<.
>Ja, gut<. André schien nicht im Geringsten erschüttert zu sein.
Ich schrieb das den Valium zu, die er nahm, und sein Konsum war mir inzwischen auch egal. Vielleicht war es unter diesen Umständen sogar besser, dass er sediert war. Zumindest schien ich mich auf ihn verlassen zu können und das hatte eine hohe Priorität.
>Ihr könnt euch auch von den Robotern Blut abnehmen lassen< meinte Lira.
Ein allgemeines „Nein!“ war die Antwort und einer nach dem anderen ließ einen Teil seines Lebenssaftes in die bereitgestellten Röhrchen fließen. Zumindest auf den ersten Blick schien alles in Ordnung. In meiner Fantasie hatte ich schon grünes Blut aus meiner eigenen Vene quellen sehen.
Tack, Tack, Tack machte es. Und mir wurde das erste Mal die Uhr an der Wand gewahr. Ein Klassiker: Analog, Quarzlaufwerk, rund und weiß mit schwarzem Ziffernblatt. Bei dem Händler auf Arkadia, wo ich die Kette für Lira hatte anfertigen lassen, gab es so ähnliche Antiquitäten. Vielleicht hatte Amanda Mueller sie im dortigen Geschäft erstanden und der Raum in dem wir uns befanden, das war ja mal ihre Station. Tack, Tack, Tack.
Nachdem Orestes zuletzt Lira Blut abgenommen hatte, waren alle Proben beisammen. Nun ging es an die Analyse. Ich konnte von meinem Hocker aus beobachten, wie André sich seinen Arm besah, als erwarte er, jeden Moment seine Struktur zu verlieren. Ausgerechnet mein Freund, der bisher so ruhig und gelassen schien, begann ganz offen eine zunehmende Nervosität zu zeigen. Das Ticken der Uhr ging mir auf die Nerven: Tack, Tack, Tack. Also eigentlich war es ein Tacken und kein Ticken. Für mich hörte sich das ganz klar an nach einem Tacken und nicht einem Ticken. Als Orestes seine medizinische Aufgabe erledigt hatte, war er an einen zweiten Monitor herüber gegangen, schaltete ihn ein und wir konnten alle gemeinsam sehen, wie unser Schiff durch den Raum flog, das war die gleiche Ansicht, wie von der Brücke aus. Ich hätte es zu dem Zeitpunkt nicht fertig gebracht, eine Verbindung zur Brücke herzustellen. Aber Lira und Orestes waren auch über alle Maßen technisch begnadet, wie ich fand. Da konnten André und ich nur den Hut vor ziehen. Unsere Qualitäten lagen auf anderen Gebieten. Tack, Tack, Tack. Lira begann mit der ersten Probe: Es war meine.
>Auf den ersten Blick kann ich keine Auffälligkeiten erkennen. Orestes, kommst du?<
Orestes trat sofort an Lira heran, nahm die Probe und ging zur weiteren Untersuchung in ein kleines Labor neben der Station. Dort wurde das Blutbild erstellt mit den entsprechenden Werten für Hämoglobin, Hämatokrit und all die vielen anderen Parameter. Auch wenn nichts festgestellt würde, wir keine Klone wären, dann hätten wir zumindest alle ein aktuelles Blutbild und wären dahingehend gründlich durchgecheckt, versuchte ich mich zu beruhigen. Tack, Tack, Tack. Diese verdammte Uhr! Amanda Mueller, die die Uhr mit auf die Station gebracht hatte, war eine Lebensform gewesen, zwar nicht die, die sie sein sollte, hatte aber deren Wissen und Empfindungen, sie hatte ganz offensichtlich deren Engramme, sie war Amanda Mueller und war es doch nicht. Genauso verhielt es sich mit den beiden Jordans. Wir hatten deren Logbucheinträge gelesen, die sehr privat verfasst waren und ich weiß, wie voyeuristisch ich mir vorkam, als ich wahrnehmen konnte, wie sehr sich die beiden liebten. Wir kramten in ihren geheimsten Aufzeichnungen und privaten Gefühlen. Obwohl die eigentlich für meinen Geschmack nicht in ein Logbuch gehörten. Egal, auf jeden Fall waren sie existent, sie besaßen das Bewusstsein von Laura und Erik Jordan. Für den sympathischen Bolo galt das Gleiche: Er tat alles für die Forschung und das Schiff und war doch kein kalter Logiker, sondern hatte sehr viel Mitgefühl. Das sprach alles gegen Plagiate, Klone und künstliche oder plasmatische Lebensformen. Ich wollte später den Vorschlag machen, für alle Vier ein nachträgliches „Begräbnis“ zu zelebrieren. Orestes könnte eine anarchistische Rede halten über das Sein und den Abschied und wir würden Fotos der Verstorbenen in kleine hölzerne Barken stecken und sie vom Hangar des Schiffes aus in den Weltraum entlassen. Die Gedanken daran rührten mich zutiefst. Tack, Tack, Tack. Ich stand auf, ging zu der Uhr an die Wand, nahm sie herunter und wollte sie gerade auf dem Boden zerschmettern!
>Entwarnung, Paul!< kam das erlösende Ergebnis. Orestes war sehr zufrieden und fast so erleichtert wie ich.
>Gute Arbeit, Orestes, Danke!<.
>Du bist clean – Herzlichen Glückwunsch!< meinte André.
Ich konnte die Ergebnisse der Analyse schwarz auf weiß auf einem Blatt Papier nachlesen. Das passte schon: Mein Cholesterinwert war wieder zu hoch, aber ansonsten war alles okay. Das war mein Blut, das war ich. Da brauchte ich nicht mehr durch das Okular zu schauen oder mir komplizierte Expertisen vortragen lassen. Ich beließ es dabei. Und auch die anderen beabsichtigten nicht mehr, die Untersuchungen zu hinterfragen. Wir wollten die Sache jetzt so schnell wie möglich hinter uns bringen und dann ab nach Hause! Dennoch schlich sich André ins Labor und schaute zwischendurch Orestes bei der Arbeit über die Schulter und registrierte die einzelnen Schritte der Untersuchung. Geduldig erklärte Orestes, was er da machte. Tack, Tack, Tack. Ich hatte den verdammten Wecker wieder an die Wand gehängt und dann war auch klar, dass niemand von uns anorganische plasmatische Anteile besaß, zumindest nicht im Blut nachweisbar. Später würden wir noch die Urinkontrollen machen. Aber bis zu diesem Zeitpunkt konnten wir durchaus beruhigt sein. Strahlenschäden lagen offensichtlich auch nicht vor, die hätten sich im Blutbild geoffenbart.
>Wäre das erledigt!< meinte ich.
Lira war total fertig mit den Nerven, erschöpft und müde. André gab ihr eine Valium und dann legte sie sich ins Bett. Ich sagte nichts mehr dazu und begab mich mit der restlichen Besatzung auf die Brücke. Wir wollten nun zusehen, wie wir den Kurs hielten, der uns nach Hause führte. Und dann mussten wir ein Swing-by-Manöver durchführen und durch ein Schwarzes Loch und das alles ohne einen Kapitän und ohne das Rechengenie Bolo Conceptor. Keiner von uns wusste, wie das gelingen sollte. Gänzlich per Automatik würde dies wohl kaum möglich sein, meinte Orestes, der mir den letzten Funken Optimismus raubte, jemals nach Hause zu kommen. Und dann: Wir hatten Robinson in seiner Zelle vergessen! Orestes schaltete sofort eine Kamera ein, die in der Brigg installiert war und ständig die Gefangenen unter Beobachtung halten konnte. Robinson lag auf seiner Pritsche und schien zu schlafen. Ja, er schlief, man konnte deutlich erkennen, wie sich sein Brustkorb hob und wieder senkte. Der Mann lag völlig entspannt auf dem Rücken, hatte die Hände gefaltet und man konnte ein leises Schnarchen vernehmen, welches durch das mit Barthaar zugewachsene Gesicht an unsere Ohren drang.
>Ich gehe später mal zu ihm hin< sagte ich.
>Ja, mach das und bring ihm was zu essen und trinken mit!< meinte André.
>Sicher. Valium braucht der gute Mann ja nicht, bei dem Nachholbedarf an Schlaf – 37 Milliarden Jahre in die Zukunft gereist macht müde< den Verweis auf die Pillen hätte ich mir sparen können. André ließ sich aber nicht anmerken, dass er sauer war. Ich wusste aber, dass der Sarkasmus ihn getroffen hatte.
Orestes hatte den Hauptmonitor in den Vollbildmodus geschaltet und wir hatten einen realistischen Blick auf die Weiten vor uns. Lira würde später ihr astronomisches Wissen aufbieten müssen, um unsere Position genau zu bestimmen und den weiteren Flug zu berechnen, der uns zu der Sonne führte, wo wir unser Swing-by-Manöver durchführen mussten. André hatte inzwischen die Scanner ausgerichtet und ich kontrollierte den Autopiloten, die Umweltbedingungen in unserem Schiff sowie Standorte und Arbeiten unserer robotischen „Kameraden“.
>Alles unter Kontrolle< meinte ich nun selbstzufrieden >läuft doch!<.


Leartas meldete sich via arkadischen Satellit und beabsichtigte, eine Rede an die Völker von Arkadia und Anderran zu halten. In der Bibliothek von Auroville hatte man die Bestuhlung entfernt, um mehr Platz zu schaffen für die zahlreichen Besucher, die in der Aula gebannt auf den großen Bildschirm an der Wand starrten. Die Straßen waren völlig leergefegt. Aus diesem Grund fielen besonders die zahlreichen kleinen Vogelkadaver auf, die auf dem nassen Asphalt lagen. Vor einigen Stunden begannen aus unerklärlichen Gründen die gefiederten Geschöpfe des Himmels verrückt zu spielen. Völlig orientierungslos flogen sie gegen Fensterscheiben, knallten gegen Windkraftwerke oder vollzogen tödliche Kamikazeflüge.
>Das liegt am Magnetfeld von Anderran< glaubte Ortas und Lesalee pflichtete ihm bei.
>Wahrscheinlich eine Folge der Zeitparadoxien< fügte Torolei hinzu.
Die beiden Frauen hatten schon vor einiger Zeit ihre Differenzen beigelegt. Sie vertraten einst zwei gegensätzliche Standpunkte, was den Gebrauch der Technologie anbelangte, die die Zeitreisen ermöglichte. Die dramatischen Ereignisse rund um den Bürgerkrieg, den Anderran erfasst hatte, das Multiversum, welches sich zu verändern begann und dann das Erscheinen einer zivilisierten Welt vor ihrer Haustür, die sich bis dato als toter Felsklumpen getarnt hatte – niemand konnte diese Dinge ignorieren und allen war klar, dass der Gebrauch der Multiverser und das Einmischen in die Zeitabläufe fatal gewesen war. Und nun hatten auch noch Aliens an ihre Tür geklopft! Diese Spezies war so fortschrittlich und andersartig, dem konnten Anderraner und auch ihre Verwandten vom arkadischen Mond nicht wirklich etwas entgegen setzen. Die drei Leute hätten Schoonas Bemerkung im Observatorium durchaus zugestimmt: Manchmal ist es besser nichts zu tun.
Die Intensität des Regens hatte zugenommen. Ortas, Lesalee und Torolei beeilten sich, um das trockene Terrain der Bibliothek zu erreichen. Noch ein Schritt über die Schwelle des Eingangs und sie standen inmitten einer unüberschaubaren Menge von Menschen, von der ein beklemmend ruhiger Pegel der Lautstärke ausging. Unter anderen Umständen hätte man vermutet, eine Matrix der Spiritualität hätte sich über eine zeremonielle Veranstaltung ausgebreitet. Aber wenn die geistig moralische Instanz des Philosophen Leartas zu ihnen allen sprechen würde, dann ging es um handfeste politische Dinge und nicht um Ekstase, um Frieden und Wahrhaftigkeit und nicht um religiöse Inbrunst und Geißelung.
Gondvira ahnte, was auf sie zukommen würde und glaubte nicht, dass Leartas wirklich erhellende Dinge ausplaudern würde. Sie stand, wie gewohnt unter dem Kuppeldach des Observatoriums, das inzwischen wieder voll funktionsfähig war nach dem Beben. Schoonas war zugegen, die Geomorphologin Bel und der ambitionierte Informatiker Taras, der wie Valdur die Haare sehr lang trug und einer irdischen Hippie-Tradition folgte. „Wie lächerlich!“ dachte Schoonas, enthielt sich aber jeden Kommentars. Auch die Frisur von Gondvira und überhaupt das Nacheifern terranischer Gepflogenheiten fand nicht seine Zustimmung, obschon er selber als König von Knossos aufgetreten war und damit die ganze Sache auf die Spitze getrieben hatte. Ein Widerspruch, um den er ganz klar wusste, der ihn aber kalt ließ.
>Sind die anderen gut versorgt?< wollte Gondvira von Taras wissen.
Die Astronomin hatte prophylaktisch eine von Lesalees letzten Pillen eingenommen.
>Ich komme gerade von drüben< der Informatiker zeigte auf das Nachbargebäude >Der Bildschirm ist online. Alle können verfolgen, was uns Leartas zu sagen hat<.
>Gut!<.
Im Gegensatz zur Bücherei von Auroville ging es im Observatorium eher gemütlich zu. Gondvira hatte Tee gemacht - einen besonders starken Beruhigungstee für sie selber - belebenden aromatischen Tee für Taras, Bel und Schoonas. Valdur war nach seinen Rettungsaktionen, bei denen er einige der Studenten zurückhalten konnte, in ihr Verderben zu laufen, nach Auroville geflogen. Seine Mitarbeit als Hausmeister war dort unbedingt vonnöten, wie er selber verlauten ließ. Und schon saß er auch wieder im Solarflieger, der ihn nach Auroville brachte.
>Da, es hat schon längst angefangen< meinte Taras.
Die drei Anderraner verfolgten den Auftritt von Leartas lediglich an einem recht kleinen Bildschirm, der Teil des Computer Netzwerks auf der Station war. Sie hatten es sich an einem Tisch bequem gemacht und tranken ihren Tee. Taras erhöhte die Lautstärke an der Fernbedienung:
>...die, die wir als die Anorganischen bezeichnen, entschuldigen sich für die Verwüstungen, die der Beschuss auf Anderran angerichtet hat. Allerdings steht dieses Ereignis als ein Teil einer Kette von Betrug, Egoismus, Naivität, Hochmut und Gier – negative Eigenschaften, die von Anderran ausgehend ihren Weg nahmen über Arkadia bis weit über Virgo hinaus. Die politische und menschliche Schuld, die wir alle auf uns geladen haben, ist evident und nicht zu leugnen. Dennoch haben mir die Fremden zugesichert, dass sie keine Rachegelüste verspüren und nicht beabsichtigen, unseren Zivilisationen Schaden zuzufügen<
>Na, das hört sich doch nicht schlecht an< meinte Taras.
>Psst!< gemahnte Schoonas zur Ruhe, immerhin sprach sein Kollege und Widersacher.
„Was beabsichtigen die Fremden zu tun?“ konnte man einen der Anwesenden auf Arkadia hören, wie er die Rede des Leartas unterbrochen hatte. Der Philosoph strich durch seinen Bart und unterbrach ganz kurz, um fortzufahren:
>Ich wiederhole: Die Spezies ist nicht hier erschienen, um Krieg zu führen. Im Gegenteil, sie beabsichtigt, die Schäden, die am Multiversum entstanden sind zu reparieren. Wie sie sich alle denken können, verfügt die Spezies über Mittel und Ressourcen, die unsere Vorstellung von Zivilisation bei weitem übertreffen<
„Wie soll das konkret aussehen – diese Reparatur?“
Der Mann, der da ständig unterbrach, schien ein Reporter zu sein. Man konnte Blitzlichter erkennen und weiteres Stimmengewirr. Leartas bemühte sich um Ruhe, wollte nicht beschwichtigen, aber auch nicht die volle Wahrheit äußern; es glich einem Spagat zwischen souveräner Ehrlichkeit und politischer Opportunität. Nach den Ausschreitungen im Rahmen des Bürgerkriegs und den letzten Toten aufgrund des Zwischenfalls mit dem Beschuss Anderrans aus dem All, wollte Leartas unter allen Umständen weitere Eskalationen vermeiden und setzte seine Rede fort:
>In der Vergangenheit wurden törichterweise Dinge entwendet, die nicht unsere waren, es wurden illegal Erze abgebaut auf fremden Planeten, auf die wir keinen Anspruch hatten, es wurden Territorien verletzt und Grenzen überschritten. Die Spezies plant im Rahmen der Wiederherstellung der alten Ordnung den ersten Kontakt zwischen dem Volk von Arkadia und den Anorganischen aus der Geschichte zu eliminieren<.
>Da legst dich nieder! Hab ich`s doch gewusst. Da hat er die Katze aus dem Sack gelassen!<
Schoonas schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, sodass die Teetassen emporhüpften und ein wenig der wohlschmeckenden Flüssigkeit in kleinen Rinnsalen an den Kanten des Tisches entlang und auf den Boden herabtropften. Die introvertierte Bel war so erschreckt, dass sie sich an ihr Herz fasste.
>Entschuldigung!<
Schoonas nickte der Geomorphologin zu und bat ehrlich um Verzeihung für den emotionalen Ausbruch. Eigentlich waren solch überbordende Gefühle nicht die Art des Philosophen, aber die Konsequenz dieser Äußerung war natürlich erschütternd und faszinierend zugleich, wie es Schoonas empfand. Auch Gondvira war klar – man musste kein Philosoph sein, um zu verstehen – dass, wenn die Technologie der Multiverser nie nach Anderran und Arkadia gelangen würde, dann gäbe es einen neuen, völlig anderen Zeitstrang. Diese Realität, dieses Sein, der Tisch, der Stuhl, ihr geliebtes Fernrohr und all die anderen Dinge würden nie wirklich sein, nicht so sein, wie sie jetzt sind. Die Meisten nannten das: Einen Reset setzen; in Anlehnung: Einen Computer wieder zurücksetzen in seinen ursprünglichen Start Modus. Sie wollte aber keine andere Realität, auch wenn sie in dieser nicht besonders glücklich schien – in letzter Zeit. Wie das klang: In letzter Zeit!
Noch zwei Tabletten befanden sich in dem kleinen ovalen bunten Döschen, die Astronomin nahm beide und spülte sie mit dem Rest des Tees herunter. Das Ende von Leartas Rede ging im allgemeinen Tohuwabohu beinahe unter. Bel trank eine Tasse von dem Beruhigungstee und Schoonas zitierte Leartas, der einst die Lehren von der Abstammung der Anderraner von Terra entwickelt hatte. Die Übertragung der Rede ging trotz des gestiegenen Geräuschpegels weiter und Schoonas konnte bruchstückhaft verstehen, dass die These des Leartas von den Anorganischen widerlegt worden war. Anderraner hatten sich unabhängig von den Erdenmenschen entwickelt, es hatte niemals Kontakte gegeben zwischen den beiden Rassen. Die Genugtuung ob des Sieges über den philosophischen Kontrahenten Leartas stand Schoonas ins Gesicht geschrieben. Er lächelte zufrieden, stand von seinem Platz auf und verabschiedete sich mit den Worten:
>Ich gehe mal nach oben auf den Balkon<.
>Ja, mach das< antwortete Gondvira >Vielleicht kommen wir gleich nach<.
Schoonas nahm den Gehstock zur Hilfe, schritt die stählernen Stufen hoch zur Balustrade des Observatoriums, um von dort aus den Blick hinaus auf das Meer von Anderran zu genießen. Über dem Rot der untergehenden Sonne befand sich das rabenschwarze kilometerlange Raumschiff der Fremden und zeigte damit immer noch Präsenz im Orbit. In einer seiner Jackentaschen entdeckte Schoonas die Zigarre, die er sich aufgehoben hatte für den Fall des ideologischen Sieges über seinen Kollegen.
>Ich schätze dich sehr, mein lieber Freund, aber ich war eben doch der Bessere von uns beiden – und ich habe ordentlich was erlebt. Dafür gibt`s was Leckeres!<.
Schoonas zündete sich die Zigarre an, während er die Weite genoss, die sich ihm darbot. Dicke blaue Dunstschwaden umwaberten den Kopf des Philosophen, während er überaus zufrieden mit seinem Leben abschloss – zumindest dem Sein in dieser Zeit.


Wenn es zuvor still gewesen war in der Aula der Bibliothek, dann war es jetzt totenstill – und dann brach der Sturm los. Einige Personen rannten auf den Ausgang der Aula zu und warfen dabei Männer, Frauen, Kinder zu Boden, die von den Nachrückenden niedergetrampelt wurden.
>Da hinauf!<
Ortas deutete auf den Treppenaufgang, der sie zur Empore führte und von der man einen Rundumblick haben konnte auf die Aula.
>Wieso ruft niemand zur Ordnung auf - wo ist dieser Valdur?< Torolei verstand die Welt nicht mehr und schüttelte den Kopf. Die drei kamen ungehindert zur Treppe, niemand sonst, der dort hin wollte.
>Was wollen die da draußen?< auch Lesalee war verblüfft über soviel Unverstand.
Natürlich hatten die abgefeuerten Salven der Fremden und die Verwüstungen, die damit einhergegangen waren ein Klima der Angst geschaffen, aber Leartas hatte ziemlich glaubhaft versichert, dass diese Spezies keine weiteren Angriffe unternehmen würde.
>Die Rationalität ist der Untertan der Törichten!< meinte Ortas.
>Wo hast du das denn her?< fragte die Freundin überrascht.
>Weiß ich nicht – ist mir gerade so eingefallen<.



Ich hatte gerade Halbzeit. Das hieß, die Hälfte der Marathonstrecke am Rhein war absolviert. Ich trainierte hart und wollte nicht nur mitlaufen, sondern mich während des Laufs in die Spitze vorarbeiten. Auch wenn es nicht sonderlich motiviert klingt: Nach 20 Kilometern setzte ich mich erst einmal auf eine der Parkbänke und genoss den Blick auf den Strom, der wohl nie aufhören würde durch diese wunderschöne Landschaft zwischen Siebengebirge und Voreifel dahin zu fließen, um weiter im Nordwesten über das Delta in der Nordsee zu münden. Ich liebte den Fluss, ich genoss das Leben in der einstigen Hauptstadt Bonn in vollen Zügen. Mein Job bei einem politischen Verein, der zu afrikanischen Themen eine Zeitschrift herausbrachte und wo ich als Redakteur arbeitete, erfüllte mich voll und ganz und machte mich finanziell unabhängig. In den Pausen und während meiner Freizeit schrieb ich - eine kleine Anzahl diverser Kurzgeschichten hatte ich im Internet veröffentlicht. Geld verdient hatte ich bisher keines damit, aber mich trieb ja niemand zu einem Erfolg.
So nahm alles seinen Lauf, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich diesen seltsamen Traum hatte von einer anderen Welt, auf der ich wandelte, einer Frau, die mir immer wieder erschien und meinem Freund André, den ich nachher unbedingt anrufen musste. Denn auch er war Teil dieses Traumes. Ich hatte schon mit meinem Therapeuten über den Traum gesprochen, der in Varianten immer wieder in meinem Kopf war. Es schien, als wolle mir mein Unterbewusstsein etwas mitteilen.
>Paul< hatte mein Therapeut gemeint – wir duzten uns - >Paul, Träume sind Teil verdrängter Erlebnisse oder sie spiegeln Sehnsüchte und sie sind Teil eines Recyclings, wenn zu viel Informationen an den Träumenden geraten sind<. Wie Recht er hatte und weiter meinte er:
>Du solltest Urlaub machen – fahr mal weg, lass die Seele baumeln!<. Auch da hatte er Recht, wie fast immer. Aber eben nur fast.



>André?<
>Ja<
Ich saß im Wohnzimmer meiner kleinen Wohnung in der Bonner Altstadt und hatte endlich meinen Freund am Apparat, der immer noch in Aachen wohnte und den ich bisher vergeblich versucht hatte zu überreden, auch nach Bonn zu ziehen. Hier war es so viel angenehmer, als im Dreiländereck, wo mir einfach zu wenig Oberflächenwasser vorhanden war. Die paar Tümpel und Fischweiher, die ich von dort kannte, das war mir einfach zu wenig.
>Ja<
>Ja, nochmal<
Die Verbindung war wiedermal grottenschlecht.
>Wegen des Traums rufe ich an, ich habe dir doch davon geschrieben<
>Ach ja, stimmt! Ja, das ist ein dickes Ding...<
>Was meinst du?<
>Ich habe ähnliche Träume<
>Verblüffend – wir müssen uns sehen<
>Ja, finde ich auch<







Auf dem erdähnlichen Planeten Anderran in der drei Millionen Lichtjahre entfernten Pegasus Zwerggalaxie bastelte der überaus ehrgeizige Ingenieur Malekko am Zeitreiseprojekt des anarchistischen Instituts von Kongress in der Hauptstadt Auroville. Noch ein Stoff fehlte, der es ermöglichte, entsprechende Wurmlöcher zu öffnen, um Zeitreisen zu vollziehen. Sie standen so kurz davor, das Projekt zu vollenden, aber ohne das entsprechende Element würde es nie gelingen!
>Immer mit der Ruhe, Malekko!< versuchte Zolan, einer der Mitarbeiter am Projekt, den Eifer des Ingenieurs zu bremsen.
Derweil standen Leartas, einer der großen Philosophen Anderrans, und die liebreizende Studentin Lira auf dem Balkon des Observatoriums von Katenam und schauten beide auf den leuchtenden Mond, der ihnen immerzu die gleiche langweilige Seite mit einer handvoll dunkler Flecken offerierte.
>Er wird schon noch kommen< meinte er zu Lira, die bekümmert war wegen eines Liebesverhältnisses, das wieder einmal in die Brüche gegangen war.



ENDE

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5357 Beiträge veröffentlicht!