Vielleicht war es das Blüs-chen...
von muppetti

 

… das sie anhatte, aber genau konnte man das nicht ausmachen. Es war zumindest ein hauchdünnes Stückchen Stoff, das einen Teil ihrer zartweißen, europäischen Haut bedeckte. Gerade so wenig (oder auch viel), um einen makellosen Hals und das Dekolleté zu offenbaren. Sie dürfen atmen. Manchmal rutschte ihr Blüs-chen ein bisschen nach links, manchmal nach rechts, aber das betrachtete sie als angenehme Nebensache für sie umgebende Augen. Augen - andere, sie ansehende Augen - waren wichtig. Nicht nur Augen. Auch Hände. Sie berührende Hände. Warme, trockene, weiche, ihre Haut streichelnde Hände. Ja, wichtig. Sehr wichtig. Aber selten. Viel zu selten. Viel zu wenig. Viel zu unausgiebig, wenn sich ein Paar Hände doch irgendwo traf.

Momentan war es ihr ziemlich egal, wessen Hände über sie strichen, wenn sie nur die aufgestellten Kriterien erfüllten. Und wenn sie darüber hinaus noch Szenarien ihrer Phantasie halbwegs annähernd auslebten, dann achtete sie darauf, an wem dieses Paar Hände angewachsen war. Das war eigentlich auch egal. Wenn dieses Wesen einige der Kriterien erfüllt, die da explizit wären: sehend, fühlend, lebend, aufnehmend, denkend, selbstreflektierend, ab und zu humorvoll, einsichtig, aussichtig, kreierend, inspirierend… hmm, viele andere, viele, viele andere Kriterien. Vielleicht war es deshalb so schwierig, das Wesen zu den sie berührenden Händen ausfindig zu machen. Meist lag es schon an ihnen (den Händen), das sie sich das Wesen nicht genau ansah. Wozu auch, wenn nichtmal Hände zu etwas taugen?

Doch eines Tages war es andersherum. Sie achtete zuerst auf ein Wesen, das neu in ihr Leben trat. Etwas eigensinnig dieses Menschlein, etwas widerspenstig und borstig, aber neben den nicht auf der Liste der Kriterien stehenden Eigenschaften, erfüllte es alle anderen ganz meisterlich.

Also zuerst das Wesen und dann die Hände? Wie sollte das so rum gehen? Hatte sie doch all die Jahre ihr festes Konzept aufgestellt, wie das zu ihr passende Wesen zu suchen sei. Hände und wenn gut, dann ansehen, und wenn nicht gut, dann eben nicht weiter ansehen.

Das war eine Herausforderung für ihr sonst gut funktionierendes Vorstellungsvemögen. Und wenn nun diese Hände, zu diesem widerspenstigen Etwas, warm und trocken wären? Was dann? Und wenn sie es nicht wären - also kalt und nass, im schlimmsten Fall - gilt dann der Umkehrschluss? Aber was war jetzt der Umkehrschluss, wenn es schon umgekehrt war?

Sie war verwirrt. Das war sie oft, aber nicht wegen sowas. Eher ging sie auf in ihren Denkspielen, ihren Phantasien darüber, wie ihr Körper, die Behausung ihrer wertvollen Seele (!), anzufassen war! Nicht zu sanft, nicht zu fest, nicht zu dezentral, nicht zu lokal, nicht so, nicht dies, nicht das. Oder nicht dann und wann. Hin und her. Nur sie wusste wie und sie wusste, es war der Hals. Ihr Köder. Ihr bestes Stück. Die hauchdünne Haut am Hals sollte über die Lippen praktisch die Instruktionen über die weitere Behandlung an die Hände übermitteln. Feine Adern sprechen für feine Fingerspitzenberührungen. Ein kleiner Halsmuskel - klein, aber fein und doch ein Muskel - spricht für einen halb sanften, halb ungestümen, gehauchten und gefühlten Biss. Ein Biss dieser Art symbolisiert gewisse Leidenschaft und muss vollführt werden, um zu wissen, wie es weitergeht. Vor dem Biss kleine Küsse, nach dem Biss eine Berührung ihrer Taille. Beide Hände, ja. Das Genick, dort, wo das Kopfhaar aufhört oder ansetzt, dort wo es schrie… ein Hauch und beide Hände an der Taille und dann eine winzige Berührung des Ohres (links) mit der halbfeuchten Zungenspitze (nicht mehr als 1,3 cm aus dem Mund herausragend). Sie würde den Kopf nach hinten lehnen, und immer noch der Hals… und eventuell eine Berührung Richtung Bauch. Nicht zu tief, nicht zu hoch, natürlich. Halbplatonisch schützend und dennoch eforschend… nun, eben so.

Sie wusste nicht, was tun. Dieses Wesen gefiel ihr und sie wollte sehen, ob es eben auch andersherum ginge. Erst das Wesen, dann die Hände. Jeden Tag löste sich ihre alte Denkweise von ihrem Einstellungstest und jeden Tag rückten ihre Körperatome diesem Wesen ein Stückchen näher. Sie hatte das Gefühl, es die ganze Zeit zu beschießen, aber nichts tat sich. Sie fühlte eine Spannung, konnte aber nicht ausmachen, ob es ihre Einbildung war kombiniert mit ihrem Lechzen oder eine - nicht daran zu denken! - Art Gegenseitigkeit. Augen, ja. Aber Augen sind nicht alles und Augen sind auch manchmal einfach neugierig.

Es vergingen Wochen, sie hatte das Gefühl, nur noch als Atomwolke durch die Gegend zu wandeln. Sie verzehrte sich nach Anwesenheit und ihr Mut, eine Unternehmnung zu starten verhielt sich entgegengesetzt proportional zu ihrer Neugier. Also ihre Feigheit proportional zu ihrem Drang, es wissen zu wollen. Kurz bevor sie das Gefühl hatte, ein kleinster Wind konnte ihre neue Daseinsform als wandelnden Atomdunst wegwehen, entschloss sie sich, dem Einhalt zu gebieten.

Sie trat vor das Wesen, nahm ihre trockenen warmen Hände und berührte es im Gesicht. Mit beiden Händen, über beide Gebiete zwischen Schläfe und Wange streichend. Und sie nahm sein Kopf und führte ihn an den Hals. Und es geschah unglaublicherweise etwas, das sie nur in ihrer Phantasie trug, von dem sie nie annahm, es würde wirklich existieren. Das Wesen küsste mit kleinsten Küssen ihren Hals und sah die Adern und sah den Halsmuskel, biss halb sanft, halb ungestüm hinein, nahm seine beiden Hände und legte sie an ihre Taille. So war’s. Und sie verlor sich darin, fast denkend, ihre ständigen Übungen hätten sie zum Phantasiegroßmeister gemacht. Aber nein, es war… echt. Es war intensiv. Ihr Körper nahm alles auf, jeden Hauch, und schickte es ihr zum Verarbeiten. Nicht umgekehrt! Nicht wie vorher, dass ihre Zentrale allen mitteilte, sie mögen doch etwas… nun, lebendiger sein.

Sie war erstaunt und glücklich. Vielleicht war es ja auch nur ein Moment, vielleicht nur 1 Minute - dieses Erlebnis. Aber sie verstand und sie beschloss, dass es sich lohnte, einige Dinge im Leben genau umgekehrt zu tun. Um sich 20 Jahre später nicht immer noch zu fragen, ob es hätte warm und trocken oder eher kalt und nass sein können.

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