Liebe auf Vietnamesisch
von purersternenstaub

 

Langsam, Schritt für Schritt, gingen sie den Weg, den sie schon so oft gegangen waren. Drei Menschen, drei Generationen. Die alte Frau halbwegs vorneweg, auch wenn es für die beiden anderen bedeutete, ihre Jugend mit Gewalt bremsen zu müssen. Raus wollte sie, die Lebenskraft, in großen, ausschweifenden Schritten, immer laut, immer vorwärts, schneller, irgendwo da vorne war ja schon das Ziel! Stattdessen im Schwung unterdrückte Schritte, damit die Großmutter nie das Gefühl haben musste, ihre Langsamkeit bremse die Jungen aus. So gingen sie, Schritt für Schritt, und die beiden Jungen waren erstaunt über die Aufmerksamkeit, die einen mit der erzwungenen Langsamkeit überkam. Damit hatten sie nicht gerechnet. Tannennadeln am Boden, hier und da. Gehäuft und gebündelt vom Regen der letzten Nacht.
"Ist es schon so spät im Jahr?" fragte die Großmutter.
"Die Nadeln fallen doch das ganze Jahr über mal herunter." antwortete ihr Sohn. "Und wenn es dann mal richtig regnet, dann kommt eben das raus. Sieht aus wie Wollmäuse, nicht?" Er lachte zu seiner Nichte hinüber. Sie lachte schnell zurück, im Geiste verzweifelnd damit beschäftigt, sich zu erinnern, wo genau ihr Großvater lag.
Seit Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Alles hatte sich verändert. Da waren plötzlich Wege, die damals nicht waren; näherten sie sich einer Wegkreuzung, achtete sie ganz konzentriert auf die kleinsten Regungen in der Bewegung der anderen beiden. Sie musste unentdeckt bleiben; ihre Großmutter durfte nicht merken, dass sie vollkommen verloren war zwischen all den Gräbern und Wegen. Dass sie ihren Großvater nicht mehr fand. Das wollte sie ihr nicht antun.
"Mama, du gehst ja schon wieder so."
Sie schaute hinüber zu ihrer Großmutter, die mit ihren nun mehr als achtzig Jahren noch genau so ging, wie sie es immer in Erinnerung gehabt hatte: die Hände hinter ihrem Rücken verschränkt, dabei den Schlüssel haltend, der ab und zu klimperte. So war ihre Großmutter immer gelaufen. Und so lief auch sie selbst oft. Das war ihr vorher nie aufgefallen. Die Großmutter lachte leise, so wie sie es immer tat.
"Ja, du lachst" sagte ihr Onkel, "aber wenn du jetzt stolperst, dann fällst du direkt aufs Gesicht und kannst es nicht verhindern. Das ist meiner Kollegin letztens auch passiert, sie ist gelaufen wie du. Und sie hatte auch noch eine Brille an und ist genau drauf gefallen, aufs Gesicht. Du kannst dir vorstellen, wie sie jetzt aussieht. Das ist nicht lustig."
"Mh." Mehr sagte sie nicht dazu, lief noch ein paar Schritte mit verschränkten Händen, bis sie sie dann doch widerwillig nach vorn nahm. Manchmal konnte der Onkel ein richtiger Spielverderber sein. Aber das gehörte wohl zur Fürsorge um die alte Mutter dazu. Sie durfte nicht stürzen, koste es, was es wolle. Und sei es ihr innerstes Wesen. Auch sie wollte nicht, dass die Großmutter fällt. Aber manchmal konnte man es schon übertreiben mit der Fürsorge, nicht? Sie beschloss, diesen Preis nicht zahlen zu wollen, würde es einmal mit ihr so weit sein.
"Das sind aber schöne Hackeln." Die alte Frau blickte ihre Enkelin an, die Hände nun fast wieder hinter ihrem Rücken verschränkt, während sie eine der Hackeln mit dem Fuß berührte. Stillstand. "Damals sind wir immer frühmorgens mit der Uroma raus und haben Hackeln gesammelt, damit wir uns ein Feuer anzünden konnten. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir die transportiert haben, ob wir vielleicht einen kleinen Wagen zum Ziehen benutzt haben. Das ist schon so lange her." Fremde Welt. Gekochte Kartoffelschalen, die so gut schmeckten. Bombenalarme. Todesangst.
Eine Ewigkeit war vergangen, als sie an die letzte Biegung kamen. Sie waren da. Da lag er, ihr Großvater, direkt am Waldrand. Letzens sei ein Baum während eines Sturmes direkt auf die Gräberreihe gestürzt, erzählte die Großmutter, während der Onkel geschäftig die Erde säuberte, von Unkraut befreite und Kanne um Kanne Wasser darüber goss. Das Grab sah noch so aus wie damals, als sie das letzte Mal da gewesen war. Wie lange mochte das her sein, zehn Jahre? Fünfzehn? Jene Pflanze sei zwar Unkraut, aber sie lasse es auf dem Grab, weil es ganz hübsch aussehe, sagte die Großmutter und lachte wieder leise, während ihr Sohn ein als nicht so schön befundenes Unkraut heraus rupfte.
"Mir reicht ein bisschen Efeu, wenn mal was mit mir sein sollte. So wie auf dem hier", sagte die Großmutter und deutete auf das überwucherte Grab direkt daneben. Eine einzige Efeudecke. Ob es wohl erlaubt sei, das langsam herüber wuchernde Efeu zu stutzen? Sie sei schon ein paar Male fast gefallen deswegen.
"Ja natürlich, Mama." Der Onkel war entgeistert. "Du kriegst Efeu." Er schüttelte den Kopf in Richtung seiner Nichte. "Also damit es klar ist - ich will kein Efeu, sollte mal was mit mir sein." Das Wort Grab blieb unausgesprochen.
Die Enkelin, die nun Mitte Dreißig war - fragte man sie nach dem genauen Alter, musste sie immer etwas nachdenken; sie konnte es sich einfach nicht merken - stand da und schaute dem Sohn und der Witwe ihres Großvaters bei ihrem routinierten Treiben zu. Sie konnte nur eines tun. Sie griff sich eine Kanne, ging zum Grabstein ihres Großvaters und spülte die Flecken ab, die der Regen der vergangenen Nacht hinterlassen hatte. Und wie damals, als sie noch regelmäßig an das Grab gekommen war, konnte sie nur eines denken.
"Lam dai hom dot."
Sie sprach es nur ganz leise aus, nur für ihn. Sie glaubte nicht an so etwas wie ein Jenseits. Der Tod war das Ende von allem; was man im Leben nicht zustande brachte war für immer verloren. Jedoch waren es die einzigen Worte, die ihr Großvater jemals an sie gerichtet hatte. Die einzigen Worte des einzigen Gesprächs, das ihr Großvater jemals mit ihr geführt hatte – sie waren die Erinnerung an das einzige Mal, dass der Großvater sie ansah. Damals, am Küchentisch. Sie musste zehn oder elf Jahre alt gewesen sein und erinnerte sich daran, als sei es gestern geschehen. Denn wenn der Großvater mit einem spricht, das vergisst man nicht so einfach. Nicht in ihrer Welt. Und das waren geheimnisvolle Worte, aus einer geheimnisvollen Welt noch dazu. Sie waren Teil der fantastischsten Geschichte, die sie sie ihr seitdem erzählten. Indochina. Kampf. Soldaten. Gesänge. Und der Großvater war dabei gewesen! Und all das nur, weil er von seinem strengen Vater, ihrem Urgroßvater, beim Rauchen einer Zigarette erwischt - und bestraft! - worden war. Und aus Rache weglief, zur Fremdenlegion. Ins Abenteuer. Junge Männer greifen ja oft zu drastischen Mitteln - aber das! Fantastisch. Das hatte sie immer beeindruckt, und das tat es auch noch an diesem Tag der geschäftigen Grabpflege. Das würde sich nie ändern. Wie eigenartig.
Der Großvater hatte weder sie noch ihre Schwester je gemocht, da war sie sich sicher. Ob es daran lag, dass sie das Ergebnis der Hochzeit seiner Tochter mit einem Gastarbeiter waren, würde sie nie erfahren. Es hatte aber immer alles darauf hin gedeutet. Böse Blicke und knallende Türen, war die Großmutter mal nicht da. Keine Aufmerksamkeit, nichts, nur Stille, Zigaretten und der ihnen zugewandte Rücken. Im Geiste verließ er das Zimmer, wenn die Enkel hereinkamen. Und es sollten seine einzigen Enkel bleiben. Welche Enttäuschung. Am liebsten hätte sie ihn manchmal angestupst und gerufen: "Aber Opa, sieh doch, meine Augen! Ein Silberblick wie deine! Blau wie deine!" - getraut hatte sie sich jedoch nie. Stattdessen rauchgeschwängerte Parallelexistenz.
Bis zu jenem Tag am Küchentisch, als er plötzlich, nur einige Minuten, in ihr Leben trat, und er sie endlich ansah. Unvermittelt. So drängend. In diesen Minuten, als er sprach und ein altes Foto unter der Geschirrmatte, auf der seine Teetasse stand, hervorzog, es ihr zeigte, und sie gar nicht wusste, wie ihr geschieht, und es darauf nicht viel mehr zu sehen gab als dichten Wald, aber eine Art Wald, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte, ein paar LKWs, die junge, grinsende Männer transportierten, und ein Gedanke in ihr explodierte: Das ist Dschungel! - in diesen Minuten sah sie ihren Großvater das erste und einzige Mal. Ich bin da, sagte er. Mit einer Geschichte. Danach drehte er sich um, verschwand wieder in seiner Stille - und starb.
Wie eine Sternschnuppe.
Lam dai hom dot. Was diese vier vietnamesischen Worte bedeuteten, hatte sie nie erfahren können. Sie hatte es versucht - jedoch ohne Erfolg. Irgendwann hatte sie es aufgegeben; dabei hatte sie die erste und naheliegendste Möglichkeit - einen Vietnamesen zu fragen - immer vermieden. Die Gefahr, dass diese Worte etwas Schreckliches bedeuteten, war ihr mit den Jahren zu bewusst geworden. Und das durfte nicht sein. Sie würde sich diesen einzigen ersehnten Liebesbeweis - seine Sternschnuppe - nicht selbst vom Himmel reißen.
„So“ sagte der Onkel und streckte sich. In seinem Alter merkte man wohl langsam, dass man nicht mehr der Jüngste war. „Ich glaube, das reicht für heute.“
„Mh.“ Die Großmutter schüttelte die letzten Tropfen aus der Kanne. Kritische Blicke über die aufbereitete, vom Unkraut gebrochene, Blumendecke. Eine letzte Flammenkontrolle; die Kerze brannte noch. Es war gut. Kannen zurück. Aber bitte ordentlich, da ist noch Erde dran. Wir Deutschen.
„Lasst uns noch kurz da rüber gehen.“ sagte der Onkel und schaute zu einer weitläufigen Grasfläche gleich neben den Gräbern, die nur hier und da einen jungen Baum trug. Verabschiedung.
„Tschüss, Papa.“
„Mh. Mach’s gut.“
Sie sagte nichts.
Langsam näherten sie sich der Grasfläche. Keine Gräber weit und breit. Stattdessen in marmorne Stelen eingelassene, mit Namen versehene, Glasplatten. Sie war irritiert. Hier sollten Gräber sein? Sie konnte keine sehen.
„Das ist ein Friedwald.“ sagte der Onkel, der ihre Blicke sah. „Die Urnen liegen unter den jungen Bäumen. Du kannst an den Nummern sehen, wer wo liegt.“
Doch das hörte sie schon nicht mehr. Ein Friedwald! Sie konnte nur noch denken. Hier wird einmal ein Wald entstehen! überwältigte es sie. Ein Wald! Ein dichtes Spiel aus Erinnerungen, Baumkronen und Sonnenlicht. Vogelgezwitscher. Grablosigkeit. Ruhe. Sie schaute hinüber zu ihrem Großvater. Und lächelte. Nun wusste sie, was zu tun war.

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