Schneekind Teil IV
von Sabine Herzke (melody)

 

1851/2009
Am späten Nachmittag konnten sie endlich mit Booten hinausfahren und den Schaden in Augenschein nehmen.

1851
Das Wasser strömte ungehindert durch den alten Bruch, den es da gegeben hatte, solange sie denken konnten.
Tjark Meents war gleich mitgefahren – sie hatten ihn aus Langenwege abgeholt; er würde ihnen zeigen, wo er das Kind genau gesehen hatte, denn immerhin war er der indirekte Urheber des Übels.
An der Biegung zum Knick deutete er auf eine Stelle.
„Hier war es. Ich bin ganz sicher.“
Sie beschatteten die Augen gegen die Sonne, die sich im Wasser brach und schauten hinaus.
„Fahr hin“, sagte Markus.
Enno legte sich in die Riemen. Sie schwiegen auf der Fahrt und gerieten in wilde Bewegung, als das Boot an der bezeichneten Stelle zu trudeln anfing.
„Haltet doch das Boot fest! Wer ist denn hier so ungestüm?“ schimpfte Markus und hielt sich krampfhaft fest, als es ihn aus dem Boot zu kippen drohte.
Doch, da! Lag da nicht etwas?
Lief da einer?
„Unsinn!“ brüllte der alte Scheper vom Cettler Hof. „In dem Wasser kann keiner laufen! Ihr seht schon Gespenster!“
Markus drehte sich um und wollte gerade zu einer geharnischten Antwort ansetzen, als er es sah.
„Doch“, sagte er mit leise, „einen gibt es, der das kann.“
Er holte Luft, es war, als sei sein Brustkorb eingeschnürt. Auch die anderen konnten ihre Blicke jetzt nicht mehr von der Gestalt abwenden, die wie von innen heraus leuchtete.
Der da lief, war das Kind, und es schien sie zu sich zu winken. Wie ein Magnet übte es eine unwiderstehliche Anzie-hungskraft aus.
Markus schloss mit aller Kraft die Augen und drehte blind bei.
„Weg hier!“ brüllte er. „Seht nicht hin, sonst sterbt ihr!“
Er schlug auf seine Freunde ein, und das half endlich.
Erschöpft, aber vollzählig und unversehrt kehrten sie eine Viertelstunde später zu-rück.
Catarina rannte ihnen entgegen.
„Wo ist Vater? Wo ist sein Boot?“ fragte sie händeringend.
„Wir haben sie nicht gesehen“, sagte Markus.
Catarina blieb am Hafen zurück. Sie hielt weiter Ausschau. Wo blieb das Boot?

Erst als die Sonne aufging, hatten sie Gewissheit. Catarina war irgendwann nachts doch nach Hause zurückgekehrt und am Küchentisch eingeschlafen. Sie schreckte hoch, als Markus ihr eine Hand auf die Schulter legte, bevor er sich zu ihr setzte.
„Catarina“, sagte er zögernd. „Wir haben Vater die ganze Nacht gesucht.“ Er holte tief Luft. „Er wird nicht zurückkom-men.“
„Nein!“ schrie sie auf. „Das darf nicht wahr sein, ihr habt nur nicht gut genug gesucht!“
Sie brach schluchzend über dem Tisch zusammen. Ihr Bruder strich ihr über den Rücken und gab ihr Halt, während sie weinte und versuchte zu verstehen, dass Vater wirklich nie mehr zurückkam.
Dann erzählte er langsam, mit Pausen, was geschehen war, und wie es im Dorfe aussah.
„Wir hätten auf dich – und auf Meents – hören sollen“, sagte er kaum hörbar. Er trauerte um seinen Vater, aber die Reue schmerzte noch mehr.

2009
Das Wasser strömte ungehindert durch den alten Bruch, den es da gegeben hatte, solange sie denken konnten.
Das Merkwürdige an der Sache war die ungeheure Kraft des Wassers. Die Moto-ren der Boote kamen immer weniger dagegen an, je näher sie an den Knick herankamen.
„Was habt ihr?“ schrie Torben, über das Heulen des Sturms, als er sah, dass das vorderste Boot plötzlich mit voller Kraft backbord pullte.
„Vorwärts“, befahl er den Männern in seinem Boot. „Nehmt die Ruder, wenn ihr nicht vorankommt!
‚Was sollte dieser Irrsinn?‘ fragte sich so manch einer, und sie wechselten untereinander Blicke. Sämtliche andere Boote drehten bei und fuhren weg. Weshalb wollte Andreas‘ Vater mit aller Gewalt ausgerechnet da jetzt hin?
Von einer Sekunde auf die andere wurde das Wasser aufgewühlt und schäumte heftig. Sie duckten sich, als das Boot heftig schaukelte und klammerten sich fest.
„Ich werde doch nicht einem verdammten Strudel nachgeben!“ brüllte Torben und zwang das Boot weiter in Richtung des Bruchs.
Sie waren nur noch wenige Meter ent-fernt, als das Wasser wieder glatt wurde und das Boot ruhig dalag.
„Na also“, sagte Torben, „hab ich es nicht gesagt?“
Er bekam keine Antwort.
„Hey!“
Dann sah er, dass die anderen wie ge-bannt auf eine Stelle links im Bruch starrten.
Er kniff die Augen zusammen. Hatte er zu viel getrunken? Offensichtlich…
„Da steht ja ein Kind!“
Oder auch nicht. Seine Männer sahen das Kind auch.
„Wie kommt das denn da hin?“
„Vielleicht ist das das Winterkind?“
„Was für‘n Ding? Was quatschst du da?“
„Na hör mal Torben, davon hast du noch nichts gehört?“ Der erste Mann sah sei-nen Freund verblüfft an. „Ist hier vor zweihundert Jahren erfroren oder so, und warnt jetzt vor Unwetter, lockt aber auch raus ins Wasser, auf brüchiges Eis und so weiter.“
„Hab mir noch nie viel aus so `nem Zeug gemacht“, sagte Torben. „Lass uns noch eben zum Bruch fahren und dann nach Hause.“
Sie lösten widerwillig ihre Blicke von der leuchtenden Gestalt und ruderten weiter.
Als sie den Bruch erreichten, gerieten sie in einen Sog.
„Wo kommt der her, verdammt noch mal!“ brüllte einer auf.
„Das schaffen wir!“ knurrte Torben. „Wer werden doch nicht vor ‘nem Strudel halt machen!“
Sie erreichten den Bruch nicht. Der Sog wurde noch stärker, und dann riss er das Boot um. Es war niemand da, der sie herausziehen konnte.
Und das Kind war verschwunden.

1851
Das Dorf war überflutet, sofern die Häuser und Höfe nicht auf Wurten standen. Das Vieh hatte verrückt gespielt, doch die Menschen waren merkwürdig lethargisch gewesen.
„Wir hatten Mühe, sie überhaupt aus den Häusern zu bekommen“, sagte Markus und schauderte noch bei der Erinnerung. „Ich bekam ein paar Mal Wasser ab, ich sag dir, es war eisig.“
„Eisig?“
„Viel zu kalt, ich dachte, ich erfriere“, bestätigte er. „An dieser Flut stimmt irgend-was nicht.“
„Warst du auch draußen beim Bruch?“
Er schüttelte sich. „Ja, ich war draußen.“
Sie sah ihn nur aus dunklen, riesengroßen Augen an. „Hast du gesehen, wie es passierte?“
Markus schüttelte den Kopf. „Ich hab’s nicht gesehen, aber ich glaube, sie sind in den Strudel geraten, dem wir entkommen sind. Wir gerieten kurz vor der Bruchstelle im Knick aus unerfindlichem Grunde ins Trudeln, und in dem Moment lief ein paar Meter vor uns das Kind entlang. Ich glaube, wenn wir alle in seinen Bann gezogen worden wären, hätte es uns aufs offene Meer hinausgetrieben.“

2009
Um vier Uhr nachmittags waren die Männer mit Booten hinausgefahren. Es war ein gutes Stück bis zum Knick, und deswegen wurden sie nicht vor zwei Stunden wieder zurückerwartet. In beiden Dörfern waren die Häuser, die nicht auf Wurten standen, völlig überflutet, bei den niedrig gelegenen war gerade nur noch das Dach zu sehen. Gegen Mittag hatte man zu uns die ersten Flüchtlinge gebracht, obwohl das gar nicht gern gesehen wurde, wie ich hörte.
„Da draußen geht’s um“, wurde gemunkelt, „gerade in solchen Nächten…“
Glücklicherweise gab es noch genug Leute, die sich von solcher Spökenkiekerei nicht anstecken ließen. Unter ihnen Caro mit Familie. Ihr Haus war eines der ersten gewesen, die es erwischt hatte. Danach tauchten zu meiner Überraschung Andreas und seine Mutter auf. Caro lächelte, aber ihr Lächeln erstarb, als sie sah, wie er-schöpft und traurig Andreas aussah.
„Wo ist denn dein Vater?“ fragte Caro.
Seine Mutter hob den Kopf. Die Trauer war in ihr Gesicht eingegraben.
„Er ist draußen geblieben“, sagte sie leise, „sie haben es im Knick nicht geschafft.“
Caro wollte sie umarmen und berührte sie dann nur an der Schulter.
„Das tut mir so leid!“
Ich stand daneben, mir war eiskalt. Wen würden wir noch alles verlieren?
Andreas schaute mich an. „Tut mir leid, was auf der Arbeit passiert ist.“
Ich zuckte erschrocken zusammen. „Wie kannst du jetzt daran denken?“ fragte ich ihn.
„Gerade jetzt. Schau mal in den Spiegel. Oder besser noch, frag Caro.“
Ich schaute zu Caro, und die schaffte es merkwürdig gut, meinem Blick standzuhal-ten.
„Ok“, seufzte ich. „Es ist wohl mal wieder soweit. Entschuldigt mich, aber ich kann jetzt vorläufig niemandem mehr in die Augen sehen. Fragt Andreas, der kennt die Wirkung.“
Er nickte und bekam eine Gänsehaut. „Glaubt ihr das lieber“, sagte er ernst. „Weißt du denn, woran das liegt?“
Ich versuchte zu grinsen. „Ihr werdet lachen. Es hängt mit dem Kind zusammen.“

Eine Woche lang hatten wir Gäste. Dann waren die meisten beschädigten Häuser soweit gesäubert und instandgesetzt, dass sie wieder zurückkehren konnten. Einen Abend, kurz nachdem alle wieder in ihre Wohnungen gezogen waren, saßen Marion und ich abends im Kaminzimmer zusammen, als die Wand einen Riss bekam und Catarina und ich unseren ersten Kontakt hatten.

Vom Spiegel her hörte ich etwas, das … nein. Es ist unbeschreiblich. Ein Geräusch, bei dem es mir kalt den Rücken herunterlief. Mühsam, ich wagte es kaum, wandte ich den Kopf und blickte hinein.
Der Spiegel zeigte zwar weiterhin unser Wohnzimmer, aber jetzt war es eingerichtet, wie ich es damals durchs Fenster gesehen hatte.
Als hätte dieser… Laut eine Mauer gesprengt, die die ganze Zeit zwischen gestern und heute stand. Und dieses Mal war es anders als zuvor. Als ich das letzte Mal von draußen hereinschaute, und als ich sie wie ein Geist berührte, das waren nur Vorstellungen gewesen. Jetzt hatte sich der Vorhang geöffnet, und ich stand auf der Bühne und musste sehen, wie ich zurechtkam.

1851
Catarina hörte seltsame Geräusche aus dem Wohnzimmer, das gleich gegenüber vom Schreibzimmer lag. Aber das war eigentlich unmöglich. Anna und Robert waren in Neudorf, Markus in Langenwege. Nur Carolina und Hans waren noch im Hause. Sie verließ leise den Raum und öffnete die Tür zum Wohnzimmer.
Ein fremdes Mädchen stand mit dem Rücken zur Tür und betrachtete in Ruhe das Wohnzimmer. Irgendwie kam es Catarina bekannt vor. Diese roten Haare, und die merkwürdige Kleidung… dann fiel es ihr ein. Das war das Mädchen aus ihrer Vision!

Ich fuhr herum. Da war jemand ins Zimmer gekommen. Im Haus war es so still ge-wesen, dass ich dachte, allein zu sein. Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme gehorchte mir nicht. Vor mir stand Catarina.
„Hallo“, sagte ich und lächelte ihr zögernd zu. Sie kam auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich bekam einen Schreck, als ich sah, wie intensiv sie mir in die Augen sah.
„Catarina?“
Sie keuchte, ließ mich abrupt los und wich zurück.
„Wer sind Sie?“
Ich blieb ruhig stehen, mein Herz klopfte, ich wusste selber nicht, was passiert war, aber ich hatte sie schon einmal gesehen, sie mich aber noch nie. Mir fiel ein, wie ich das Gefühl gehabt hatte, jemanden zu streifen, der nicht da gewesen war, und dass mir beim Einsortieren der Fotos jemand über die Schulter geschaut hatte.
„Ich glaube, du hast mich schon mal gesehen“, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. „Für mich ist das hier auch erschreckend. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin.“
Langsam löste sich ihre Anspannung, sie ging zu der Sitzgruppe am Kamin, setzte sich auf einen Sessel und deutete auf einen zweiten.
„Nehmen Sie Platz“, sagte sie leise. „Sagen Sie mir, wer sind Sie, wo kommen Sie her, und was ist hier überhaupt los?“
All die Fragen, auf die ich keine Antworten wusste.
„Ich heiße Alicia Gerber. Und… bitte glaub mir, ich erzähle dir keinen Unsinn, aber ich komme aus dem Jahr 2009. Deswegen trage ich andere Kleidung als du, deswegen komme ich dir so fremd vor.“
Catarina starrte mich geschockt an. „Was erzählen Sie da nur? Sie wollen aus der Zukunft sein? So etwas gibt es nicht. Ich dachte, Sie sind ein Geist wie Wilhelm. Aber das sind Sie auch nicht. Kennen Sie ihn? Was wollen Sie hier?“
Ich war beeindruckt. Catarina war richtig schnell auf diese Verbindung gekommen. Andererseits, soviel dürfte hier auch nicht passieren, und seltsame Geschehnisse hat-ten meistens einen Bezug zueinander.
„…äh, ja. Nein.“
Sie schaute mich spöttisch an. „Ja oder nein? Haben Sie die Sprache verloren?“
„Nein, natürlich nicht“, sagte ich im gleichen Tonfall. „Du gehst übrigens von einer Menge Voraussetzungen aus.“
„Wenn Sie durch die Zeiten wandern können, müssen Sie auch irgendwie mit Wilhelm zu tun haben“, beharrte Catarina.
Ich lehnte mich zurück. „Wenn du das glaubst…“ Und dann erzählte ich ihr, was ich wusste. Nur den Brief ließ ich weg, weil der mir selbst noch zu unklar war.
„Gibt es bei Ihnen im Moment auch solche Unwetter?“ Catarina entspannte sich weiter, sie begann mir zu glauben und schien sich Sorgen zu machen. „Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas gefällt mir an der ganzen Sache nicht. Da wird demnächst etwas passieren, bei euch oder bei uns.“
In dem Moment verschwamm mir alles vor den Augen, kurz nur, aber ich bekam bohrende Kopfschmerzen. Als ich wieder zu mir kam, beugte Catarina sich über mich und legte mir eine kühle Hand auf die Stirn.
„Alicia! Geht es Ihnen wieder besser?“
„Ja“, antwortete ich mühsam. „Mir scheint, der Zeitsprung macht sich bemerkbar. Und Catarina, du kannst Du zu mir sagen, bitte.“
Catarina lächelte mich an, und dann sah ich für einen Moment gar nichts mehr, glaubte für einen Augenblick Marion im Sessel gegenüber sitzen zu sehen, dann war mein Blick wieder klar.
„Ich glaube, ich bin gleich wieder weg“, sagte ich.
Catarina sah mich erschrocken an. „Geht es dir deswegen nicht gut? Kann ich dir dabei irgendwie helfen?“
Ich versuchte mich zu erinnern. „Ich saß im Sessel am Kamin, genau wie jetzt, und schaute in den Spiegel. Der hängt da in der Ecke bei uns.“
„Was für einen Spiegel meinst du? Komm mal mit, bitte.“
Catarina stand auf, strich ihren Rock glatt und ging zur Treppe. Ich wartete, bis mir nicht mehr schwindelig war und folgte ihr.
Der Spiegel hing im Schlafzimmer ihrer Eltern. Er glänzte noch mehr und sah neuer aus, aber es war derselbe.
„Wie lange habt ihr den schon?“ fragte ich, nachdem ich mich von meiner Überra-schung erholt hatte.
„Das ist ein Erbstück“, sagte sie.
„So alt sieht er noch gar nicht aus. Wobei… Ich habe ihn in meiner Zeit in einem Antiquariat gekauft und meiner Tante geschenkt. Sie war vollkommen überrascht davon.“
„Dann muss ihn irgendwer weggegeben haben“, sagte Catarina. „Und ich dachte, dass unsere Familie ihn in Ehren halten wird.“
Wir sahen uns an. Noch ein Rätsel.
„Und in der Zwischenzeit ist Wilhelm nicht mehr aufgetaucht“, fiel mir ein. „Ich habe alles durchgesucht, was es an Schriftlichem gibt. Er ist heutzutage unterwegs und in meiner Zeit.“
„Und der Spiegel verschwand irgendwann aus dem Haus, und deine Tante holte ihn wieder herein.“
Wir sahen uns an.
„Ich werde weitersuchen, Catarina. Ich muss wissen, wie das alles zusammen-hängt.“
Sie ergriff meine Hände. „Ich wünsche dir Glück dabei.“
Wir schauten beide in den Spiegel, zwei Mädchen, die völlig verschieden waren, und die durch eine Geschichte verbunden waren, und dann wurde ich fast taub von dem uralten Geräusch, das vom Spiegel kam.

Ich stand vor dem Spiegel im Wohnzimmer und Catarina hielt meine Hand und Ma-rion stand auf und sagte etwas…

„Alicia!“

2009
Die Zeiten schienen sich für einen Moment zu überlagern, ich war gleichzeitig hier und dort, gestern und heute, stand neben Catarina und sah Marion und beide riefen gleichzeitig meinen Namen.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Couch. Marion saß auf einem Sessel und schien sich große Sorgen zu machen.
„Wie geht es dir?“
Ich wollte antworten, aber ich konnte nicht. Ich hatte das Gefühl, gleich zu Staub zu zerfallen.
„Wasser!“ brachte ich mühsam heraus.
Wie schon einmal, diesmal aus einem anderen Grund. Marion stürzte in die Küche und kehrte mit einem Glas und einer Riesenflasche Wasser zurück.
Ich trank die ganze Flasche aus. Danach muss ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal zu Bewusstsein kam, waren die Vorhänge zugezogen, und die Uhr zeigte Elfe. Marion war nirgends zu sehen.
Ich schlich ins Bett und schlief weiter.

Nach dem Frühstück fragte Marion mich, was passiert war. Aber wie schon früher, wenn ich etwas Derartiges erzählte, schien sie auch dieses Mal nichts wirklich zu überraschen. Das Einzige, bei dem sie sich wunderte, war die Sache mit dem Spiegel.
„Der Spiegel ist also der Durchgang!“ Dann versank sie in Schweigen. Und ich saß mal wieder ohne Informationen da. Ich war nicht ein Stück klüger geworden. Ich dachte, sie hatte das gewusst.

1851
„Alicia!“ schrie Catarina auf. Ihre neue Freundin stürzte nach vorn, war kurz nicht mehr da. Catarina sah noch, wie eine fremde Frau, die Alicia sehr ähnlich sah, sie auffing und zu Boden gleiten ließ. Sie hob für einen Moment den Kopf und sah Catarina direkt an. Dann hatten sich die Zeiten wieder voneinander getrennt, und Catarina war allein.
Weil es schon ziemlich spät war, beschloss sie, ins Bett zu gehen. Auf dem Weg in ihr Zimmer hatte sie das Gefühl, dass jemand bei ihr war. Sie sah sich aufmerksam um, fand aber nichts. Sie war allein. Catarina betrat kopfschüttelnd ihr Zimmer und machte sich fertig zur Nacht. Die Begegnung mit Alicia schien sie doch mehr durch-einandergebracht zu haben, als sie zunächst gedacht hatte.

Sie konnte gar nichts gesehen haben. Was weder sie noch Alicia noch sonst wer ahnte: der Bruch, den Catarina eben vorhergesagt hatte, begann jetzt, 1851, in diesem Augenblick. Anfangs nur unmerklich, aber es sollte stärker werden.
Das Kind hatte Catarina unbemerkt begleitet und dann seinen Weg durch das Haus fortgesetzt.

Die Pferde wieherten schrill, als Robert und Anna nach Hause kamen. Sie versuch-ten in ihren Geschirren zu steigen und hätten um ein Haar kehrtgemacht.
„Jan, was ist da los?“ rief Robert.
„Ich weiß es nicht! Die führen sich auf, als wenn der Teufel hinter ihnen her ist!“
Anna stieg vom Wagen und schlug die Arme um sich. „Ist das eine Kälte! Vorhin war es doch noch soviel wärmer.“
Robert zuckte mit den Schultern. „Vielleicht bist du einfach müde. Lass uns schlafen gehen. Gute Nacht, Jan.“
„Nacht, Herr Reuther.“
Sie gingen ins Haus. Jan schirrte die Pferde ab und versorgte sie. Sie waren wieder ganz ruhig, als wäre nie etwas vorgefallen.

Anderntags ging Catarina nach Langenwege zum Einkaufen. Hier hatte sich nichts verändert, aber dann merkte sie, dass die Leute sich merkwürdig verhielten. Sie wur-de bedient, aber wie eine völlig Fremde, Bekannte gingen grußlos an ihr vorüber, sie wurde ein paarmal angestoßen auf dem Trottoir und die Menschen waren höflich zu ihr, aber niemand schien sie zu erkennen.
Als Catarina dann am Wirtshaus vorbeikam, hörte sie zufällig ein Gespräch zwi-schen zwei Männern mit, die absolut nüchtern wirkten, und das erschreckte sie mehr als alles andere, was Wunder!

„Marten, hast du schon gehört? Der Reuther-Hof ist bei der Flut zerstört worden!“
„Ja, das hab ich auch schon gehört!“
„Soll ja keine Überlebenden gegeben haben.“

Catarina stand wie erstarrt da. Das ist nicht wahr, dachte sie, ich bin Catarina Reuther, und ich lebe! Sie trat auf die Männer zu.
„Verzeihung, dass ich mich einmische. Wo haben Sie denn gehört, dass es den Hof nicht mehr gibt?“
„Aber das ist doch überall schon bekannt, hier und in Neudorf, junges Fräulein! An der Stelle kommen doch viele Leute jeden Tag vorbei. Glauben Sie mir, den Hof gibt es nicht mehr.“
Sein Begleiter fügte hinzu: „Einer aus Neudorf war auch beim Hof und hat sich umgesehen. Er ist nur noch eine Ruine. Trostlos!“
Catarina beherrschte sich nur noch mühsam. „Das kann nicht sein!“
„Sie sind nicht von hier?“
„Doch! Ich bin Catarina Reuther!“
Die beiden schauten sie mitleidig an. „Fräulein, das kann nicht sein. Dort hat niemand überlebt.“
„Aber der Hof steht! Er wurde von der Flut nicht berührt!“
„Wenn Sie wirklich denken, dass Sie Fräulein Reuther sind, dann gehen Sie doch nach Hause, dann werden Sie schon sehen!“ sagte der eine Mann höhnisch.
„Dorthin war ich gerade auf dem Weg“, sagte Catarina, die vor Wut kochte. Sie bewahrte mit Mühe Haltung.

Vor dem Kirschbaum blieb sie wie erstarrt stehen und rieb sich die Augen. Was sie da sah, war völlig unmöglich.
Auf dem zuvor gepflegten Plattenweg zum Haus lagen Schlamm und Flutreste. Der Garten war verwüstet. Zögernd näherte sie sich dem Haus, das genauso angegriffen war. Sie wappnete sich gegen den Anblick, der das Innere bieten musste…
Zerstörung? Wasserschäden??
Die Halle war völlig unversehrt. Sie ging zum Wohnzimmer und sah hinein. Ihre Mutter saß am Fenster und stickte. Als Catarina eintrat, blickte sie auf, und ein Aus-druck von Verwirrung huschte über ihr Gesicht.
„Was ist los, Catarina?“
„Es ist alles so unverändert!“
„Was sagst du da?“
„Es hat sich nichts verändert!“
Anna rätselte, was mit ihrer Tochter los war.
„Ich traf in Langenwege zwei Männer, die sich ganz ernsthaft darüber unterhielten, dass unser Hof von der Flut zerstört worden sein, und dass keiner überlebt habe. Ich sprach sie an und sagte, dass es uns allen gut gehe, aber als ich nach Hause kam… noch bis ich vor der Haustür stand, sah es tatsächlich so aus, als sei der Hof der letzten Flut zum Opfer gefallen!“
Anna wurde weiß. „Oh Gott“, flüsterte sie. Sie hatte von solchen Geschichten schon gehört. Was begann hier?
Sie sahen es alle, und doch wieder nicht. Und sie waren den Ereignissen gegenüber völlig hilflos.
Catarina dachte an Alicia, die auf der anderen Seite des Spiegels wartete. Ob sie auch nur eine Ahnung von dem hatte, was hier seinen Lauf nahm?
Für einen Augenblick wusste Catarina nur zwei Dinge sicher: Sie würde Alicia wiedersehen. Und ganz kurz wusste sie die Lösung des Dramas, aber diese entglitt ihr sofort wieder.

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