SIEBEN WEGE
von Bernd Geischer (rulaman11)

 

S I E B E N W E G E

In der Nacht des 26. April 1986, um ein Uhr vierundzwanzig, erwacht das Mädchen durch die Explosion des Kernreaktors Nr. 4 im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Auf nackten Füßen tappt es zum Fenster. Die Wohnung der Familie liegt im neunten Stock eines Hochhauses der Retortenstadt Pripyat, mit direktem Blick auf das Kraftwerk in ungefähr vier Kilometer Entfernung. Es ist kein gewöhnlicher Brand, den das Mädchen dort sieht. Eine Feuersäule ragt in den Nachthimmel und glüht in sämtlichen Farben des Regenbogens, wunderschön anzuschauen. Die Mutter des Mädchens ist auf Nachschicht in der Pforte von Reaktor Nummer eins. Der Vater ist ebenfalls aufgewacht. Er schickt das Mädchen bald darauf wieder ins Bett.

Gegen halb sieben kommt die Mutter heim und bringt Neuigkeiten. "Im Atomkraftwerk brennt es. Wir sollen ständig das Radio eingeschaltet lassen." Sie hat Jodtabletten mitgebracht und gibt dem Mädchen eine davon. Im Radio läuft Klassische Musik: Schostakowitschs 5. Sinfonie.

Um sieben Uhr fährt das Mädchen wie gewöhnlich mit dem Bus in die Grundschule. Es wird ein sonniger, heißer Tag, wie im Sommer. Über dem Kernkraftwerk steht eine drohende Rauchwolke. Sie wird für die nächsten zehn Tage dort zu sehen sein, bis die letzten Brandherde um die Turbinenhalle vollständig gelöscht sind. Der geschmolzene Reaktor selbst wird noch wochenlang weiter schwelen. Mit sich drehenden Winden wird derweil die Radionuklidmenge von 400 Hiroshima-Bomben über Europa verteilt. Noch ahnt niemand in Pripyat dieses Verhängnis. Noch lauten die Meldungen der Kraftwerksbetreiber, der Reaktorkern sei intakt, die ausgetretene Strahlungsmenge tolerabel. Der Schulbus dreht seine Runde durch die Stadt und liest die Schüler auf. Üblicherweise kommen sie dabei immer an einigen alten Bauersfrauen vorbei, Babuschkas aus den Dörfern der Umgebung, die Karotten oder Radieschen aus ihren Gärten feilbieten. An diesem Morgen ist niemand da. Stattdessen rasen Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene in Richtung Tschernobyl. Auf dem Gelände des Freizeitparks wird ein Riesenrad für die Feiern zum Ersten Mai aufgebaut. Mit dem dazugehörigen Karussell durften die Kinder gestern schon fahren. Ihre Vorfreude ist riesig.

In der Schule fehlen bereits etliche Klassenkameraden - die Eltern haben sie entweder zuhause behalten oder sind mit ihnen über das Wochenende aufs Land gefahren. Gerüchte machen die Runde. Eine der Hausmeisterinnen der Schule stürzt kurz nach Unterrichtsbeginn in das Klassenzimmer. "Ich will meinen Sohn nach Hause holen. Es geht ihm nicht gut." In der ersten Stunde basteln die Schüler bunte Wimpel und Girlanden für die Feiern zum Ersten Mai. Zur kurzen Pause werden alle nach draußen geschickt. Die Erstklässer spielen auf dem Pausenhof, wo sie auch nach dem Ende der Pause bleiben. Eine andere Klasse hält im Freien ihren Sportunterricht ab.

Eine Stunde später werden sämtliche Fenster geschlossen. Lehrkräfte teilen Jodtabletten aus. Ein Mädchen muss sich davon übergeben, ein anderes weint, weil Mitschüler behaupten, ihr Vater wäre bei der Explosion im Atomkraftwerk ums Leben gekommen. Die Lehrerin versichert ihr eben, dass dies nicht wahr sei, als hintereinander mehrere Vögel vom Himmel taumeln und gegen die Fensterscheiben des Klassenzimmers prallen.

Um elf Uhr werden die Schüler heimgeschickt. Busse fahren nicht mehr; die Kinder müssen laufen. Auf Anweisung ihrer Lehrer sollen sie sich draußen Mund und Nase zuhalten. Ein metallischer Geschmack liegt in der Luft. Dem Mädchen ist ein bisschen schwindelig. Ihr Hals kratzt, die Augen tränen. Obwohl Flieder und Kirschen in voller Blüte stehen, kann es nichts riechen. Auf den Straßen patrouilliert Miliz, teilweise in Strahlenschutzanzügen und mit Gasmasken. Die Beamten wirken bedrohlich, wie Wesen von einem anderen Stern, und das Mädchen fürchtet sich vor ihnen. Aber man sieht auch Mütter mit offenen Babywägen und Kleinkinder in den Sandkästen der Spielplätze. "Was ist los?", fragen einige Leute die Milizionäre. "Woher sollen wir das wissen?", bellen diese zurück. "Fragt die Chefs da, in den weißen Wolgas."

Die Kinder wollen den Hauptplatz von Pripyat überqueren. Er ist eingerahmt vom Kulturpalast "Energetik", einem Einkaufszentrum sowie dem Sitz der Stadtverwaltung. Doch der Platz ist weitläufig abgesperrt und von Soldaten umstellt. Auch sie tragen Masken und weichen den Fragen der Menschen aus. Vor dem benachbarten Parteisitz der KPdSU parkt neben Polizeiautos sowie etlichen ZIL-Limousinen auch ein Aufklärungsfahrzeug des Militärs. Das Mädchen erkennt den Genossen Gamanyuk, den örtlichen Parteisekretär, der erst am Vortag ihre Schule besucht hatte, um die Schüler aufzufordern, noch vor dem Ersten Mai den "Jungen Pionieren" beizutreten. Sichtbar erregt redet der Funktionär auf einen ranghohen Soldaten ein.

Als sie ihren Wohndistrikt erreicht haben, beschließen Freunde des Mädchens, sofort mit Fahrrädern zum Kraftwerk fahren, um sich den Brand aus der Nähe anzuschauen. Das Fahrrad des Mädchens hat vom Vortag einen Platten. Während seine Freunde bald darauf von einer Eisenbahnbrücke aus den Löscharbeiten zuschauen - und dabei tödlich verstrahlt werden -, geht das Mädchen heim. Sein Vater arbeitet tagsüber als Bademeister im Hallenbad "Azure". Die Mutter ist zuhause. Sie erzählt dem Mädchen, dass Mitglieder des Komsomol-Jugendverbandes vormittags Jod-Tabletten für die Kinder verteilt hätten. Außerdem würde allen Einwohnern geraten, in ihren Wohnungen zu bleiben.

Gegen Mittag gibt es eine Meldung im Radio: es habe einen Unfall mit Brandfolge im Kraftwerk gegeben. Das Feuer sei unter Kontrolle, somit bestehe kein Grund zur Beunruhigung. In Pripyat selber bleiben demnach sämtliche Geschäfte, Restaurants und Cafes geöffnet. Viele Leute genießen das schöne Wetter im Freien - sonnenbadend, kaffeetrinkend, picknickend, bootsfahrend, schwimmend, fischend. Vor dem Gebäude der Stadtverwaltung findet eine Hochzeit statt. Die Mutter des Mädchens besteht darauf, dass sie den Tag über in der geschlossenen Wohnung bleiben. Weitere Gerüchte kommen auf.

Seit vierzehn Uhr sind gepanzerte Truppentransporter in der Stadt unterwegs. Wasserwerfer spritzen Straßen und Gebäudefassaden ab. Milizionäre und Soldaten patrouillieren mit Strahlenmessgeräten. Die Gerüchteküche brodelt. Viele Einwohner haben die Stadt schon verlassen, um das Wochenende in ihren Datschen zu verbringen. Andere packen jetzt ihre Sachen und verschwinden. Gegen 16 Uhr kommt der Vater von der Arbeit. Den ganzen Tag über hat er die Außenanlagen des Freibades für die Sommersaison vorbereitet. Jetzt ist seine Haut stark gerötet, er hustet und ist erschöpft.

Gegen zwanzig Uhr beginnen Krankenhausmitarbeiter und lokale Freiwillige, Jod-Tabletten an alle Bewohner von Pripyat auszugeben. Von ihrer Mutter bekommt das Mädchen einen Schluck Wodka, von dem man allgemein annimmt, dass er gegen Radioaktivität hilft.

Als es dunkel wird, strömen die Leute auf die Balkone der Hochhäuser. Wer keinen hat, geht zu Freunden und Bekannten. Über dem explodierten Reaktor liegt ein himbeerfarbener Schein; er glüht förmlich von innen. Kleine Kinder werden auf den Arm genommen. Kraftwerksarbeiter, Ingenieure, Physiklehrer - sie alle bewundern das Schauspiel. Einige von ihnen sind von weit her gekommen, um sich das anzusehen.

In dieser Nacht kann die Familie kaum schlafen. Sie hören, wie über ihnen die Nachbarn hin und her laufen, Sachen schleppen, hämmern. Anscheinend packen sie. Als es hell wird, schaut sich das Mädchen um und spürt: etwas hat sich verändert, ist anders geworden, ganz anders. Schon um acht Uhr früh ziehen Soldaten in Schutzanzügen durch die Straßen. Ihr Anblick beruhigt die Eltern. Wenn die Armee zu Hilfe kommt, wird sich alles schnell wieder normalisieren, meint der Vater. Das Mädchen hat trotzdem Angst.

Auch an diesem Sonntagmorgen sieht man in Pripyat immer noch Mütter, die ihre Säuglinge spazieren fahren. Immer noch spielen Kinder im Freien. Einwohner, die die Stadt mit dem Auto verlassen wollen, werden an Straßensperren aufgehalten und zurückgeschickt. Eine Begründung dafür gibt es nicht. Manche wählen daraufhin Fußwege durch die umliegenden Wälder. Man sieht Frauen mit Kinderwägen zwischen den Bäumen. Im Radio heißt es mittlerweile, sämtliche Bewohner von Pripyat hätten sich auf eine Evakuierung vorzubereiten, nur für drei Tage, die Stadt solle durchgespült und überprüft werden. Schulkinder sollten ihre Bücher mitnehmen. Haustiere hingegen müssten zurückbleiben. Niemand dürfe die Stadt mit dem eigenen Fahrzeug verlassen, um Staus vorzubeugen. Sicherheitshalber packt der Vater wichtige Papiere sowie die Hochzeitsfotos in den Koffer. Das Mädchen besitzt eine Katze namens Katinka, die es unbedingt mitnehmen will. Es weint und bettelt, bis der Vater ihm verspricht, die Katze im Koffer zu verstecken.

Parteimitglieder werden mit Flugzetteln durch die Wohnblocks geschickt, um Nachbarn, welche die Radiomeldung vielleicht nicht gehört haben, über die Evakuation zu informieren. Um Punkt 13:10h heulen Luftschutzsirenen, dann folgt eine Lautsprecherdurchsage: "Achtung, Achtung! An die Einwohner von Pripyat! Die Stadtverwaltung gibt bekannt: durch den Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl ist eine radioaktive Risikolage entstanden. Die Kommunistische Partei, ihre Vertreter sowie die Streitkräfte unternehmen alle notwendigen Schritte, um diese einzudämmen. Zum Schutz ihrer Gesundheit ist es notwendig, sämtliche Einwohner vorübergehend in die Kiewer Umgebung zu evakuieren. Zu diesem Zweck wird, beginnend am 27. April 1986, 14 Uhr, unter Aufsicht der Polizei jedem Wohnblock einen Bus zur Verfügung gestellt. Es wird dringend empfohlen, Dokumente, wichtige persönliche Besitztümer und sicherheitshalber auch etwas Nahrung mitzunehmen. Die Führungskräfte aller öffentlichen Einrichtungen und Industrieanlagen der Stadt haben eine Liste von Angestellten zusammengestellt, die in Pripyat bleiben müssen, um diese in Betrieb zu halten. Während der Evakuierungsperiode werden alle Häuser durch die Polizei bewacht. Genossen! Bitte stellen Sie sicher, dass die Lichter in Ihren Wohnungen gelöscht, die Wasserhähne zugedreht und sämtliche Elektrogeräte abgeschaltet sind. Lassen Sie bitte Ihre Wohnungstüren offen, aber schließen Sie die Fenster. Bitte bleiben Sie ruhig und besonnen."

Anschließend beginnt die Evakuierung. Die Bewohner von Pripyat versammeln sich vor ihren Wohnblocks. Militärhubschrauber fliegen tief über die Dächer der Stadt. Auf den Kreuzungen stehen tarnfarbene Schützenpanzer. Pausenlos sind Straßenreinigungsfahrzeuge unterwegs. Löschzüge fluten die Straßen und sprühen Schaum. Kinder tummeln sich in den Wasserfontänen, rennen durch die bunt schillernden Pfützen am Straßenrand. Für sie ist das alles nur ein aufregendes Spiel. Sie schenken den Erwachsenen, die mit besorgten Gesichtern bei ihrem Gepäck stehen und sich mit gedämpften Stimmen unterhalten, kaum Beachtung. Eine endlose Reihe von Bussen nimmt die Menschen auf.

Als Mitarbeiterin des Lenin-Kraftwerkes wird die Mutter gesondert abtransportiert; das Mädchen soll sie begleiten, um früher aus der Stadt zu kommen. Ihr Transport geht vom Busbahnhof im Süden der Stadt, während die übrigen Bewohner direkt vor ihren jeweiligen Wohnblocks abgeholt werden. Vor dem Besteigen der Busse werden alle mit Dosimetern auf ihre Strahlenbelastung hin überprüft. Wessen Werte zu hoch sind, der wird beiseite geführt und in Krankenwagen gesondert abtransportiert. Die übrigen erhalten ärztliche Atteste. Ein Offizier der Armee kontrolliert Atteste und Ausweise, bevor er die Leute einsteigen lässt. Die Strahlenbelastung von Mutter und Tochter liegen unterhalb des Grenzwertes. Allerdings gibt es gibt eine Liste, auf der sämtliche Angestellten des Kraftwerks namentlich aufgeführt sind. Das Mädchen darf den Bus daher nicht besteigen. Nach vergeblicher Diskussion mit dem zuständigen Offizier schickt die Mutter es zurück zum Wohnblock der Familie, wo der Vater es mitnehmen soll.

Der Fußweg dorthin beträgt rund einen Kilometer, wofür das Mädchen normalerweise fünfzehn bis zwanzig Minuten benötigen würde. Unweit ihres Wohnblockes aber sieht es, wie Milizionäre einer Schulkameradin, die eben ihren Bus besteigen will, ein Meerschweinchen wegnehmen. Die Freundin des Mädchens wollte das Tier unter ihrer Jacke aus der Stadt schmuggeln; jetzt wird es ihr gewaltsam weggenommen. Sie schreit und wehrt sich. Das Mädchen will ihr beistehen, aber einer der Milizionäre jagt es fort. Andere Leute mischen sich ein. Die Auseinandersetzung dauert fast eine halbe Stunde, bis sich die Ordnungskräfte durchsetzen. Der Offizier am Bus beruhigt die Menschen und versichert der Freundin des Mädchens, ihr Meerschweinchen würde in seinen Käfig gebracht und gut versorgt werden, bis sie wieder zurück sei.

Heimlich beobachtet das Mädchen anschließend, wie ein Soldat um die nächste Straßenecke geht und das Tier in einen Gully fallen lässt - die Straßenabläufe wurden geöffnet, um das Spritzwasser und den Schaum der Reinigungsfahrzeuge aufzunehmen. Zutiefst erschrocken eilt es heim.

Als das Mädchen endlich ihre Wohnung erreicht, ist der ganze Block schon evakuiert worden. Auch der Vater ist fort. Eine Nachbarin, die Parteimitglied ist, wurde als Blockwartin abgestellt. Sie soll dafür sorgen, dass niemand die verlassenen Wohnungen betritt. Das Mädchen kennt die Frau und überredet sie, dass es nach seiner Katze schauen darf. Die Nachbarin lässt das Mädchen hinein, teilt ihm jedoch mit, dass sie die "Verantwortlichen" von seiner Anwesenheit unterrichten wird. Dazu aber kommt es nicht, weil die Frau kurz darauf ohnmächtig zusammenbricht. Sie hat den Tag zuvor im Freien zugebracht und eine hohe Strahlendosis abbekommen. Ohne ihr Bewusstsein wieder zu erlangen, wird sie mit dem Krankenwagen abtransportiert.

Gemäß Anweisung sind sämtliche Türen in den Häuserblocks offen geblieben. Das Mädchen findet die Wohnung der Familie leer vor. Seine Katze, die sich nicht in den Koffer stecken lassen wollte, hat der Vater mit Futter und Wasser im Kinderzimmer eingesperrt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit wartet das Mädchen auf ihre Eltern oder die "Verantwortlichen". Als es sieht, wie Milizionäre in Schutzmasken seinen Block betreten, versteckt es sich mit der Katze im Bettkasten der Eltern. Es hat Angst, dass die Maskenmänner seine Katze töten. Am Abend wird die Wohnung versiegelt. Das Mädchen bleibt allein zurück.

Um vier Uhr ist die Evakuierung beendet. Als der Vater die Stadt verlässt, begegnet ihnen eine lange Kolonne gepanzerte Truppentransporter. Jetzt bekommt auch er Angst. Die Busse nehmen die Lenin-Allee in südöstliche Richtung und fahren über die "Straße der Enthusiasten" auf die qualmende Ruine des vierten Reaktors von Tschernobyl zu. Während sie einen Kiefernwald direkt neben dem Kraftwerk durchqueren, der später wegen seiner immensen Verstrahlung als "Roter Wald" bekannt werden soll, lehnen sich zwei Jungen aus dem Busfenster und schießen im Spiel auf einige andere Kinder, die im Bus hinter ihm sitzen.

Nach einer mehrstündigen Irrfahrt erreicht der Bus der Mutter das Dorf Narowlja im heutigen Weißrussland. Sämtliche Insassen müssen aussteigen; sie sollen hier untergebracht werden. Dazu rufen die Milizionäre, die den Bus begleitet haben, alle Dorfbewohner auf den Hauptplatz zusammen. Jeder Hausbesitzer muss sich aus der Menge der Evakuierten eine Anzahl von 'Gästen' aussuchen. In ihrer sauberen Stadtkleidung wirken die Ausgesiedelten wie Fremdkörper. Widerstrebend treffen die Bauern ihre Wahl. Eine alte Frau nimmt die Mutter sowie zwei andere Frauen bei sich auf und bringt sie einem Nebenzimmer ihres alten Holzhauses unter, wo sie auf dem Fußboden schlafen müssen.

In Kiew erhält der Vater das erste Geld vom Staat: einhundert Rubel. Er kann sich dafür nichts kaufen. Hunderttausende sind mittlerweile unterwegs, alles ist weggekauft, weggegessen. Es gibt Schlaganfälle, Infarkte in den Bussen und auf den Bahnhöfen. Vater und Mutter treffen sich dort einige Tage später in Minsk wieder, jeder in der festen Meinung, der andere habe die Tochter bei sich. Eine verzweifelte Suche beginnt. Die Behörden versichern ihnen, dass Pripyat vollkommen geräumt sei. Niemand dürfe dorthin zurückkehren. So bleibt ihnen nur die schwache Hoffnung, dass ihre Tochter mit anderen Kindern aus der Zone in eines der Sommer-Zeltlager der Partei gekommen ist. Die meisten dieser Lager liegen in der Süd-Ukraine, es gibt aber auch welche auf der Krim und an anderen Orten der Schwarzmeerküste.

Der Vater wird bald darauf strahlenkrank und kommt in eine Klinik. Nach einigen Wochen entlässt man ihn zum Sterben nach Hause; es dauert allerdings noch fast zwei Monate, bis er tot ist. Während dieser Zeit hat die Mutter kaum Gelegenheit, nach ihrer Tochter zu suchen. Inzwischen leidet auch sie unter den Folgen der Verstrahlung. Von Verwandten und Bekannten werden die 'Tschernobyler' gemieden. Man beschimpft sie als 'Leuchtkäfer' und behandelt sie wie Aussätzige. Die Mutter erleidet einen Nervenzusammenbruch sowie eine vollständige Amnesie. Heute vegetiert sie in einem Kiewer Sanatorium.

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E R S T E R W E G

Pripyat ist verlassen. Einige wenige Polizisten und Soldaten durchstreifen die Wohndistrikte. Von Zeit zu Zeit erscheint ein einsames Strahlenmessfahrzeug auf den leeren Straßen. Nur im Stadtzentrum gibt es noch etwas Leben. In der örtlichen Parteizentrale befindet sich das Operations-Hauptquartier des Krisenstabes. Regierungsmitglieder, Militärangehörige und Wissenschaftler haben sich gegenüber im Hotel "Polissya" einquartiert. Das zehnstöckige Gebäude dient auch als Kontrollstation für die Hubschraubereinsätze am havarierten Reaktor.

Diesen ersten Tag über bleibt das Mädchen daheim - die Mutter hatte ihm ja verboten, die Wohnung zu verlassen. Immer wieder schaut es aus dem Fenster oder lauscht in den Flur hinaus, halb hoffend, halb bangend, ob nicht jemand käme. Das Siegel an der Wohnungstüre hat es aufreißen müssen. Das Mädchen wünscht sich so sehr, dass jemand es abholen würde ... doch alles bleibt still, kein Mensch lässt sich sehen. Und vor den bösen Männern mit den Masken hat es schreckliche Angst. Nur bei seiner Katze findet es ein wenig Trost. Im ersten Stock ist ein Hund zurückgelassen worden, Boris, eine Dänische Dogge. Das Mädchen kennt Boris und hat trotz dessen Größe keine Angst vor ihm. In seiner Verlassenheit bellt und heult der Hund, bis das Mädchen hinunter schleicht, das Türsiegel aufbricht und Boris streichelt und ihm Futter und Wasser gibt. Es räumt den Haufen weg, den der Hund in die Wohnung gesetzt hat, und öffnet ihm die Türe zu Balkon. Es traut sich jedoch nicht, mit Boris auf die Straße zu gehen oder ihn mit in ihre eigene Wohnung zu nehmen. Katinka würde das nicht wollen.

Allerdings weiß das Mädchen, dass die Familie einer Schulfreundin im selben Flur auch eine Katze hat, einen Kater, der Vladimir heißt. Und der Junge von Stock zwei, dreizehnte Wohnung, mit dem es immer im Hof gespielt hat, besitzt zwei Landschildkröten - Olga und Sanja. Von den anderen Haustieren in ihrem Block weiß es nicht einmal, wie viel es sind, nur, dass sie bald anfangen werden, Hunger zu bekommen. Das Mädchen fängt an, zu überlegen, wie sie diesen Tieren helfen könnte.

Am Montagmorgen öffnet für wenige Stunden ein Lebensmitteladen, um die Aufräumkommandos zu versorgen, die in der Stadt zurückgeblieben sind. Die Verkäuferin Olesya S. ist die erste, die das Mädchen nach der Evakuierung zu Gesicht bekommt. Es steht plötzlich mit ein paar Büchsen Tierfutter vor ihrer Kasse. Die Verkäuferin erinnert sich, "... dass die Kleine furchtbar traurig aussah, wie ein Küken, das aus dem Nest gefallen ist. 'Bist Du nicht mit den anderen mit?'", will sie wissen. "Nein. Ich muss meine Tiere füttern", antwortet das Mädchen. "Du bist doch nicht etwa ganz alleine zuhause?", fragt Olesya weiter. "Und da leuchtete ihr Gesicht so auf, und sie sagte 'Noch zweimal Schlafen, dann kommen Mama und Papa wieder. Haben sie versprochen.' 'Aha', sag' ich, 'und wer schaut so lange nach Dir?' 'Katinka und Boris', sagt sie, und ich dachte, das wären Verwandte oder so. Dann hat sie bezahlt und ist hinaus, und ich verstehe bis heute nicht, warum ich sie einfach so gehen ließ."

Olesya lebt mittlerweile in Zhlobin in Weißrussland. Sie macht die Buchhaltung für eine ehemalige Kolchose, die sich auf Öko-Produkte spezialisiert hat. Aber ihre Geschichte geht noch weiter. "Den Tag darauf hat eine Kollegin von mir die Kleine gesehen. Das war, als sie am Cafe 'Pripyat', unten am Fluss, wo früher die Schnellboote nach Kiew abgefahren sind, das Lager geräumt haben. Die Restaurants waren ja schon alle zu, aber die Wissenschaftler und Krisenleute und Soldaten mussten ja auch essen. Eine Menge Leute kamen da zusammen, viele in Uniform, aber eigentlich gab es kaum noch etwas. Fast nur noch Bulgar-Zigaretten. Das Mädchen wäre mit einem Korb zu ihr gekommen, hat meine Kollegin erzählt, und hätte sie gefragt, ob sie noch etwas für ihre Katze hätte. Und die Kollegin denkt sofort 'Armes Ding', und ist losgezogen. Sie hat dann wirklich noch eine Büchse Kondensmilch aufgetrieben. Draußen steht die Kleine und hört gerade einem Dosimetristen zu, der ihr erklärt, wie man am besten die Strahlung vermeidet. Das Kind hätte ganz lieb gelächelt und sich bedankt, als es die Milch bekommen hat. Und meine Kollegin ist so froh gewesen, dass sie ihr helfen konnte."

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Z W E I T E R W E G

Konstantin R. hat als einfacher Milizionär an der Evakuierung von Pripyat teilgenommen. Er ist immer noch aktiv, inzwischen als Oberleutnant bei der OMON, der russischen Staatspolizei. Demgemäß wählt er seine Worte: "Zunächst mal möchte ich sagen, dass damals alles völlig ordnungsgemäß abgelaufen ist, ganz nach Plan. Ich weiß, was man so liest, dass es Ausschreitungen gegeben hätte, dass wir die Leute mit Gewalt in die Busse gezerrt hätten, ihre Sachen auf die Straßen verstreut und ihre Haustiere vor ihren Augen erschossen. Also, ich hab' davon nichts mitbekommen. Im Gegenteil: die Leute waren sowas von diszipliniert ... das waren eben auch noch andere Zeiten. Wenn ich mir das heute vorstelle, mit den ganzen Ausländern und Asozialen, den Drogensüchtigen und dem ganzen Pack: eine Katastrophe. Damals, mit denen aus Pripyat, da lief das tadellos. Das hat man schon gemerkt, dass das größtenteils gebildete Leute waren, viele auch mit Parteibuch. Wenn die jemanden in Uniform gesehen haben, dann haben sie gespurt. Später, mit den Muschiks in den Dörfern, da lief's schon wieder anders. Da gab's jede Menge Ärger ... welche, die wollten überhaupt nicht 'raus. Hausen da immer noch ... aber egal. Nach der Durchsage hatten sie jedenfalls eine Stunde zum Packen. Nur Handgepäck war erlaubt. Sollte ja alles schnell gehen ... bloß keine Zeit geben zum Nachdenken. Außerdem war das Zeug ja komplett verstrahlt. Wir hatten mit fünfzigtausend gerechnet; wie sich dann herausstellte, waren es weniger als die Hälfte. Die Busse sind teilweise leer wieder 'rausgefahren. Entweder sind die Leute schon Samstagfrüh ins Wochenende gefahren oder sie haben sich auf eigene Faust vom Acker gemacht, trotz unserer Straßensperren."

"Natürlich gab's da auch welche, die wieder mal nicht hören wollten. Gibt's ja immer. Aber: zwanzig von zwanzigtausend, das sind ... ein Zehntel Prozent, oder? Egal. Hat jedenfalls einwandfrei geklappt. Um vier war alles leer, und wir haben die Blocks abgeklappert, um Nachzügler aufzupicken. Wie gesagt, nur etwa zwanzig Fälle. Manche hatten Angst um ihre Wohnung, andere wollten ihre Haustiere nicht allein zurücklassen. Gefühlsduselei ... Wir haben sie in den letzten Bus gepackt und losgeschickt. Gab eigentlich keinen Widerstand. Nur eine Oma hat ein bisschen randaliert, also mussten wir sie 'raustragen. Hat geschrieen wie am Spieß, wir wären schlimmer als die Deutschen und so ... Egal. Zum Schluss waren nur noch die Aufräumkommandos in der Stadt, und wir natürlich und die Leute vom Gesundheitsdienst. Welche vom Innenministerium, von der Partei, Soldaten, ein paar Wissenschaftler. Sonst waren alle weg."

"In der Hauptpost von Pripyat, da haben wir einen Kraftwerksarbeiter angetroffen, der war am Morgen noch in seiner Datscha gewesen. Wie er am Abend heimkommt, ist die Stadt evakuiert und er hat keine Ahnung, wo seine Leute sind. Wollte telefonieren, aber natürlich ist niemand mehr da, um ein Gespräch zu vermitteln. Hunderte von nutzlosen Telegrammen waren im ganzen Raum verstreut. Der arme Kerl hat fast geheult. Wir haben ihm zugeredet, er solle es mal im Hauptquartier versuchen, in der Parteizentrale. Das wüsst' ich doch zu gern, was aus dem geworden ist ..."

"Es war ziemlich unheimlich, so durch die leeren Straßen zu patrouillieren, mit diesen riesigen Wohnblocks ringsum. Totenstille. Kein Vogel, nichts ... nur die Hubschrauber knatterten hinten über dem Reaktor. An den ersten Tagen kam noch Musik aus den Lautsprechern, die überall auf den Plätzen angebracht waren. Sowjetische Märsche, aber auch Klassik ... mich hat das genervt, aber als die Lautsprecher dann endlich abgestellt worden sind, fand ich es fast noch schlimmer. Diese Stille drückte einem auf die Ohren. Manchmal kam ein Dekontaminationsfahrzeug durch. Die sprühten entweder Schaum oder so eine Art Öl auf Stellen, die von Spürtrupps der Armee als besonders verstrahlt markiert waren. Inzwischen durften wir auch wieder Masken tragen; am Vortag hatten wir sie ja ablegen müssen, um den armen Leutchen keine Angst einzujagen. An den Straßenrändern, die Autos, die waren alle mit Planen abgedeckt. Wertvollster Besitz! Als das Plündern losging, waren die natürlich zuerst weg ... wurden entweder auseinander montiert oder gleich am Stück weggefahren. Dabei speichert Metall die Strahlung besonders gut ... Auf den Spielplätzen, in den Sandkästen, da lag noch jede Menge Spielzeug: Förmchen, Figuren, Bagger und so ... Die Farben fingen schon an, auszubleichen. Aufgehängte Wäsche hatte sich um die Leinen geschlungen oder gleich selbstständig gemacht und in Büschen verfangen. Sah aus wie weggeworfene Menschen ..."

"Es war, als ob die Stadt irgendwie den Atem anhält ... richtig beklemmend. Anklagend. 'Wo habt ihr unsere Leute hin?' Dann wurde es allmählich dunkel, die Straßenbeleuchtung ging an, und mit den vielen Fenster auf beiden Seiten ... so ein Gefühl, als ob man beobachtet wird. Ständig drehte man sich um, ob da nicht doch jemand wäre. Fast noch schlimmer als im Spin Ghar." Während seiner Militärzeit hat Konstantin R. zwei Touren in Afghanistan mitgemacht, eine davon in den berüchtigten "Weißen Bergen" an der pakistanischen Grenze. Sein Verwundetenabzeichen liegt in einer Glasvitrine aus. "In den Fluren der Wohnblocks, da hat es richtig gehallt, wenn wir gerufen haben. Die Pantoffeln fein säuberlich vor den Appartements aufgereiht. An vielen Türen hingen Zettel mit Nachrichten: 'Fahren zu Tante Olga nach Derevnya' oder 'Bitte die Katze nicht entwischen lassen', 'Achtung, kein Geld im Haus!' ... und drinnen, da stand teilweise noch das Essen auf dem Tisch, und die Kühlschränke waren proppenvoll, weil die Frauen ja fürs Wochenende eingekauft hatten. Wodka und alles Mögliche - auch für den ersten Mai ... Lachs, Kaviar und so ... Die Betten waren nicht gemacht und das Geschirr nicht gespült. Und die vollen Mülleimer fingen an zu stinken ... Wir haben dann alles ausgesteckt und die Fenster geschlossen. Das war Befehl. Später haben andere Abteilungen dieselben Fenster wieder aufgemacht, damit sich in den Wohnungen ja keine Radioaktivität ansammelt. Hieß es. Egal ..."

"Ansonsten haben wir erst Mal alles so gelassen, wie wir es vorgefunden haben. Damals war uns ja noch nicht klar, ob die Leute nicht doch wieder zurückkommen dürfen. Später haben ein paar von den Kollegen dann angefangen, sich zu bedienen. Ich nicht. Wegen einem verstrahlten Pelzmantel wollte ich meinen Job nicht verlieren. Wenn ein Hund in der Wohnung war, der frech wurde, haben wir ihn weggetreten ... Katzen sind ja immer abgehauen. Wellensittiche, Schildkröten, Hamster, Aquarien voller Zierfische ... da gab es alles. Später sind Jagdkommandos durch die Blöcke und haben die Tiere erledigt. Das war Befehl. Im Fell, da sammelt sich die Strahlung nämlich besonders gut. Außerdem: wer sollte denn die Viecher alle füttern? Viele sind trotzdem verhungert, vor allem auf den Dörfern."

"Das mit dem Plündern fing erst nach siebenundachtzig so richtig an, als der Sarkophag fertig war und die Reservisten heimgeschickt wurden. Die meisten von denen waren da schon verstrahlt, und das wussten die auch. Aber trotzdem blieb immer noch alles ruhig. Nicht viel zu tun. Wir standen an den Sperren oder patrouillierten in der Zone. Wir hatten richtige Anzüge und Masken, und wir haben sie auch richtig getragen. Nicht wie diese Dumpfbacken aus den Provinzen. Ich bin heute noch ziemlich sauber; keine zwei REM im Jahr ... egal. Ab neunzehnneunzig ist es dann so richtig losgegangen. In Pripyat selbst haben wir nur zweimal Plünderer erwischt, gleich ganz am Anfang. Beide Male sind die schnell abgehauen, aber ganz schnell. Kein Problem. Später dann, in der Zone, da haben wir schon mal einen Warnschuss abgeben müssen. So einen Tiefgezielten, wissen Sie? Egal ... also, beim ersten Mal in Pripyat - noch während der Evakuierung -, da haben sich so ein paar junge Kerle in einem Sportladen bedient ... Angelruten oder was immer sie da abgreifen wollten. Die Kollegen kommen vorbei, sehen das, die Jungs lassen alles stehen und liegen und hauen ab. Mit Fahrrädern. Zum Hinterherlaufen war's den Kollegen zu heiß. Beim zweiten Mal war ich selbst dabei."

"Da haben wir einen Block überprüft, von dem wir gehört hatten, dass da ein paar Türsiegel aufgebrochen wären. Das war ganz im Norden von Pripyat, an der Stadtgrenze, wo die großen Gewächshäuser stehen. Stehen da übrigens heute noch. In denen haben irgendwelche Botaniker nachher noch ihre Experimente gemacht. Haben anscheinend entdeckt, dass manche Pflanzen sich an Radioaktivität regelrecht aufgeilen ... Gurken, zum Beispiel, die wurden anscheinend so groß wie Kürbisse und wogen mehrere Kilo. Egal. Wie schon gesagt, die Stadt war zwar leer, aber nicht ganz leer. Vielleicht fünf-, sechshundert Leute, die noch da waren -, und von außen kamen auch immer mal welche dazu, Offiziere, Chefs und so. Später wurde die Strahlung dann so hoch, dass wirklich alle 'raus mussten. Da wurde dann auch der Prozess gegen die Kraftwerksbosse nach Tschernobyl verlegt - die Kreisstadt Tschernobyl, mein' ich."

"Auf jeden Fall: wenn ich damals auf einer dieser ewig langen, menschenleeren Alleen in Pripyat unterwegs gewesen bin, und ich hab' irgend jemanden in der Ferne gesehen, zu Fuß oder mit dem Wagen, ganz egal, dann hab' ich immer erst Mal das Bedürfnis gehabt, mich zu verstecken. Komisch, oder? Ich, als Polizist! Es lief immer so: huch, da ist einer, und dann hat man schnell geschaut, wo man unterkriechen könnte. Und ich war nicht der einzige, der so dachte. Anderen ging es auch so."

"Na ja, egal ... jedenfalls waren wir mit dem Auto unterwegs, Vitali Chlopin, mein Streifenführer, und ich, vom Stadtzentrum aus, wo auch das Hauptquartier der Miliz war. Als wir in den Budivelnykiv-Prospekt einbiegen, wo der Block steht, das wir untersuchen sollen, da sehen wir so in ein-, zweihundert Meter Entfernung jemanden, der schnell im Hauseingang verschwindet. Mir kam das fast normal vor, weil, wie gesagt, das war so ein Gefühl, das viele andere auch hatten. Vitali hat dasselbe gedacht. Zufällig war das genau unser Block. Aha, sagen wir uns und checken unsere Makarovs. Erst haben wir ja gedacht, es wär' vielleicht der Hausmeister gewesen, aber den gab's da schon gar nicht mehr. Wahrscheinlich abgehauen."

"Es war die Nummer vierzehn, eines von diesen langen, niedrigen Gebäuden mit nur neun Stockwerken. Das Haus davor, Nummer acht, war noch im Bau. Die Blöcke waren riesig: auf dreihundert Metern Länge nur Fenster und Balkone. Drei Eingänge, wir waren am unteren Ende. Eine massive, zweiflügelige Tür aus Stahl und dickem Milchglas, eher ein Festungstor, wie es hinter uns ins Schloss donnert. Gleich hinter dem Eingang liegen all' die Sachen, die die Leute zurücklassen mussten, bevor sie die Busse bestiegen haben ... war ja nur ein Gepäckstück erlaubt pro Nase. Ein Berg von aufgeplatzten Koffern und Taschen, aus denen alle mögliche herausquillt. Jede Menge Kleider, Bilder, Bücher, Tonbänder, Schallplatten, Radios, Photoapparate, Sportsachen, Kinderwagen ... was Sie sich vorstellen können. Und das war nur das, was aussortiert worden war. Da konnte man schon sehen, wie sie in Pripyat gelebt hatten. Lediglich der Geruch war derselbe wie in jedem anderen sowjetischen Hausflur: kalter Kohl."

"Hinter einer leeren Pförtnerloge dehnt sich der Gang endlos. Eine Monstertreppe führt nach oben; davon gab's noch mal zwei, in der Mitte und am oberen Ende des Blocks. Dazwischen nur Tür an Tür an Tür. Vom Treppenschacht oben fällt ein wenig Licht bis zu uns. Das war kein Wohnhaus, das war ein Bunker, ein Riesen-U-Boot. Wie haben die Leute nur ihre Appartements gefunden? Außer den Türnummern gibt es keinerlei Hinweise ... oder waren die Namensschilder schon entfernt worden? Ich staune noch über das Gemälde im Treppenhaus - Gagarin, wer sonst? - da stößt mich Vitali an. Er hat am mittleren Aufgang was gesehen."

"Wie ich hingucke, seh' ich wirklich noch eine Bewegung im Halbdunkel, wie wenn jemand hinter die Ecke verschwindet. Wir schauen uns an. Vitali macht mir ein Zeichen: weil ich der Jüngere bin, muss ich natürlich hinterher, während er meinen A.. - mir den Rücken deckt. Ich also hin, immer tapp-tapp-tapp durch den endlosen Flur. Das hallte so ... klang wie eine ganze Abteilung. An der nächsten Treppe angekommen - schau' nach oben: nichts. Ich geb' Vitali Bescheid, dann sind wir beide hoch. Angst hatte ich schon - aber nicht wie vor irgendwelchen Gangstern." Vor was dann? "Wissen Sie, wenn ich etwas mit Pripyat verbinde, dann ist es diese ständige unsichtbare Bedrohung. Wie in Afghanistan. Die Mudschahidin hat man auch nie gesehen, in den Bergen. Erst wenn's geknallt hat, wusste man, dass sie da waren. Und später haben sie dann Frauen und kleine Kinder an die Stützpunkte geschickt, mit Bombengürteln ... na, egal. In der Zone war es jedenfalls noch schlimmer. Der Feind hier war nicht nur unsichtbar, sondern trotzdem überall. Als ob da eine Makarov was genützt hätte! Ich hab' sie trotzdem in der Hand behalten."

"Wir kommen ungefähr zur gleichen Zeit im ersten Stock an, Vitali und ich. Schauen um die Ecke, den Flur entlang, winken uns zu. Nichts zu sehen. Alles in Ordnung. Der Gang ist leer, alle Türen zu. Halt, da steht eine einen Spalt offen! In dem Moment, als ich das seh', fällt sie ins Schloss - klack! Wenn der Kerl noch hier ist, wird er wohl da drin sein. Und dann, wie wir langsam den Gang entlang gehen, sehen wir, dass links und rechts sämtliche Siegel aufgebrochen sind, eins wie das andere. Das war schon seltsam. Wir haben uns vor der Türe da getroffen. Vitali sah ziemlich nervös aus. Ich wahrscheinlich auch. Aber wir mussten ja kontrollieren ... deswegen waren wir ja hier. Wir sehen uns an, zucken mit Achseln, und los geht's."

"Die Wohnung war leer. Wir rufen - das Übliche. Es war eine hübsche Wohnung, gute Möbel, teuer. Mehrfarbentapete, feine Vorhänge. Familienwohnung, überall lagen Spielsachen 'rum. Die Leute hatten wohl ihre Koffer in aller Eile mehrmals wieder ein- und wieder ausgepackt. Der ganze Boden lag voll mit ... Klamotten, Büchern, Bildern, Papieren, allem möglichen. Oder waren das schon Plünderer gewesen? Aber die hätten doch das wertvolle Zeug mitgenommen! Plattenspieler, Fernseher - alles noch da! Wir stehen mitten in einem Wunderland des unerreichbaren Wohlstandes, Vitali und ich ... wir beide kamen ja aus Dörfern - waren Kolchosenkinder. Egal. Also, wie wir noch so da stehen, mit großen Augen, kommt so ein Riesenhund um die Ecke, ein Monsterhund, und legt seinen Kopf schief. Ungelogen, der war ungefähr auf Höhe meiner Brust. Das Vieh hätte nicht mal groß springen müssen, um mir die Nase abzubeißen. Und dann hat er geknurrt."

"Seine Zähne sahen aus wie die von einem Dinosaurier. Die Makarov in meiner Hand schien auf einmal viel zu klein. Eine RPG wäre mir lieber gewesen. Der Hund bellt - uns fallen bald die Ohren ab, so laut ist das -, und greift uns an. Das heißt, ich weiß nicht, ob er uns wirklich angreifen wollte. Vielleicht wollte er uns ja nur verscheuchen. Egal. Auf jeden Fall kommt er auf uns zu, und zwar schnell. Später haben wir von Jägern gehört, dass manche Tiere in der Zone regelrecht durchgedreht hätten. Hätten sie angefallen und so, auch die Kleinen - Katzen oder Hamster! Dafür wären die Wildtiere, die Elche und Bären, auf ein Mal ganz zahm. Egal - wir wollten es jedenfalls nicht ausprobieren. Wir gehen gleichzeitig in Feuerstellung und geben jeder zwei, drei Schuss auf den Hund ab. Pang-pang-pang! In Notwehr, natürlich. Das war schon ohrenbetäubend in der geschlossenen Wohnung. Nachher ist alles voller Pulverdampf, aber das Vieh liegt zum Glück am Boden, erledigt. Unglaublich, wie viel Blut da drin ist ..."

"Uns pfeift's erst Mal gehörig im Ohr, aber nach einer Weile lässt das nach, und wir hören - wir sind uns erst nicht sicher -, dass da jemand schreit. Schreit oder heult oder sonst was ... und das war jetzt wirklich unheimlich. Wir lassen also den Hund in seiner Blutlache liegen und stecken den Kopf wieder aus der Tür in den Flur hinaus. Das Geheul kommt von oben, von ziemlich weit oben. Hört sich an wie eine Frau oder ein Kind ... oder eher wie ein verwundetes Tier, um die Wahrheit zu sagen. Wieder schauen wir uns an ... Vitali ist ganz bleich und schluckt so komisch. Und ich merke, dass ich schwitze wie ein Schwein. Wir sind trotzdem hoch. Mit jedem Treppenabsatz wird das Heulen lauter. Jetzt sind wir uns sicher: das ist ein Mensch, der da schreit ... oder jammert ..."

"Wie wir 'raufgehen, sehen wir, dass überall, in jedem Stockwerk, an allen Türen, die Siegel aufgerissen sind. Da im neunten Stock auch. Das Geheul ist jetzt ziemlich laut. 'Nein, nicht ...', irgendwas in der Richtung ... Wir auf Zehenspitzen den Flur entlang, bis wir vor der Wohnung stehen, wo es herkommt. Als ich die Hand auf die Klinke lege, wird es still. Es wird so still, dass ich mir einen Moment lang wünsche, es würde wieder anfangen. Was bleibt uns übrig? Wir müssen nachschauen. Diesmal rufen wir nicht, als wir 'reingehen. Wir wissen ja, dass da jemand ist. Das ist der eine Grund. Der andere ist, dass wir uns wünschen, dass da niemand wäre, und wenn doch, dass er nicht auf uns aufmerksam wird."

"Ich hab' in meinem Leben keine solche Angst mehr gehabt, nicht mal in Afghanistan. Auch nicht beim Augustputsch einundneunzig, vor der Duma, als wir alle dachten, dass es jetzt einen Bürgerkrieg gibt. Wenn deine Feinde Menschen sind, kannst du sie besiegen, weil sie selber Angst haben. Dass hier, das wusste ich ganz bestimmt, das war kein ... also, nicht nur ... ein Mensch. Das war ... irgendwie ... wie die Zone selbst ... unsichtbar und doch gefährlich ... tödlich. Ich kann es nicht besser beschreiben. Egal. In der Wohnung selbst war es jedenfalls ziemlich aufgeräumt. Auch hier: gute Möbel - viel Lärche, massiv. Eine Stereoanlage, Farbfernseher, zwei Radios, sogar eine Acht-Millimeter-Kamera lag da 'rum. Bilder von den Leuten an der Wohnzimmerwand: Vater, Mutter, Tochter. Er hat den Arm um seine Frau gelegt, sie hat das Kind an sich gezogen. Ein süßes Ding. Sie sehen glücklich aus. Und in dem Moment, als ich das Bild betrachte, kommt ein Windstoß, ein Fenster knallt zu und es fällt 'runter. Der Rahmen zerbricht, das Foto liegt frei und - ich schwöre es - vergilbt vor meinen Augen. Wird an den Rändern schwarz und rollt sich ein. Als ob es schon zehn oder zwanzig Jahre dort liegen würde."

"Wir haben nichts angerührt. Wir hätten nichts angerührt, egal, nicht mal, wenn wir Befehl bekommen hätten. Vitali hat regelrecht gebebt. Wir sind dann schnell durch alle Zimmer - alles leer. Zum Glück. Ganz zuletzt: das Kinderzimmer. An der Türe hängt eine kleine Holztaube mit einem Namen darauf. Ein Mädchenname - mehr weiß ich nicht mehr, denn wie ich vor der Türe steh', fangen unsere Dosimeter an zu piepsen. Das waren so kleine Plastikkästen, die wir an einem Clip an Gürtel trugen. Da gab es nichts abzulesen, die Dinger maßen nur die Strahlungsmenge und gaben Alarm, wenn die zu hoch wurde. Die Höchstmenge waren 25 Röntgen pro Stunde, aber das gab es nur, wenn man in der Roten Zone um den Reaktor selbst arbeiten musste. Hieß es. Hier in Pripyat, hieß es, lagen wir bei maximal 150 Millirem. Wie gesagt, wir konnten das nicht kontrollieren, die Dinger hatten ja keine Anzeige. Sie wurden uns nach der Schicht abgenommen und ausgelesen und zur nächsten Schicht bekamen wir dann neue. Aber wenn sie loslegten, so wie jetzt, vor dieser Türe, dann wurd's gefährlich. Dann hieß es: ab dafür!" Hätte es nicht eine Fehlfunktion sein können? Konstantin R. scheint die Frage erwartet zu haben. "Hab' ich mich natürlich auch gefragt, hinterher. Vielleicht. Was weiß ich ... aber unsere beiden Geräte sind gleichzeitig losgegangen, da wär' ein technischer Fehler schon eher seltsam, oder?"

"Wir sind jedenfalls ganz schön zusammengefahren, als die Dinger losgingen, das kann ich Ihnen sagen ... ich stoße die Türe trotzdem auf. War fast ein Reflex. Wir schauen hinein und ich höre Vitali seufzen. Als ob er angeschossen worden wär'. Ich selber fühlte mich eiskalt, wie gefroren. Das Zimmer ist leer, und es sieht aus, als ob es schon eine Ewigkeit leer stehen würde. Es stinkt nach Fäulnis. Die Tapeten hängen in Streifen herab, völlig vermodert. In den Zimmerecken wirft sich das Linoleum auf, ist in ganzen Bahnen herausgerissen, windet sich über den Boden. Kinderschreibtisch und Stuhl sind zerschlagen. Ein leeres Regal, das nur noch an einer Schraube hängt. Auf dem Boden: Kuscheltiere, Plastikfiguren, Spielkarten, Bauklötze, alles total kaputt und vergammelt. Aufgequollene Bilderbücher ... 'Sneschnaja korolewa' - 'Die Schneekönigin' von Andersen ... mein Lieblingsbuch als Kind. Eine Puppe sitzt so auf ihrem Zwergenstuhl und starrt uns aus milchweißen Augen an. Inmitten der ganzen Verwüstung steht ein Kinderbett. Es hat nur noch drei Beine und das Bettzeug darauf ist schon ganz schwarz und mürbe, löst sich regelrecht auf. Und in einer Ecke liegt eine tote Katze, mumifiziert. Und unsere Dosimeter piepsen und piepsen ... Was ist hier passiert?"

Konstantin R. ist in seiner Erinnerung abgetaucht. Sein Blick geht tief nach innen. Lange schweigt er, und nur das leise Tackern des Rekorders ist zu hören. Schließlich spricht er weiter. "Wir wollten es gar nicht wissen. Um nichts in der Welt wollten wir das. Wir sind 'raus, aber ganz schnell. Ich will nicht sagen, dass wir gerannt sind, aber es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, wir hätten uns irgendwie geordnet zurückgezogen. Egal. Wir sind jedenfalls 'raus und 'runter, und erst, als wir vor der Türe waren, und das Piepsen aufgehört hatte, haben wir wieder durchatmen können. Wir haben kein Wort gewechselt, sind zurückgefahren ins Hauptquartier und haben ein Protokoll für den Genossen Kommissar aufgesetzt: Mutmaßliche Plünderung im Wohnblock 14, Distrikt fünf. Niemand angetroffen. Kein Hinweis auf Täter. Keine besonderen Vorkommnisse. Vitali hat sich nächsten Tag krankgemeldet und wurde aus der Zone abgezogen. Ich hab' ihn nie mehr wieder gesehen."

Ob sie vielleicht einer optischen Täuschung aufgesessen sind? Durch den Schreck? Und bei dem schlechten Licht? Konstantin R. hält eine Weile inne. Dann zuckt er die Achseln. "Könnte schon sein ... wär' aber verdammt komisch, dass wir beide, Vitali und ich, anscheinend dasselbe gesehen haben." Dann haben sie doch noch darüber gesprochen? Der Zeuge schüttelt den Kopf. "Das nicht. Aber vor ungefähr drei Monaten habe ich einen Brief bekommen, aus Krasnojarsk. Der war von Vitalis Frau. Lief übers Präsidium ... keine Ahnung, woher sie gewusst hat, dass ich immer noch aktiv bin. Vitali sei gestorben, schrieb sie, an Blutkrebs, und dass er ihr noch aufgetragen hätte, diesen Brief an mich zu schicken. In dem Umschlag war ein Bild. Sonst nichts ... ein Computerausdruck von einem Foto. Das Foto selbst stammte aus der Zone, aus Pripyat, und war im Sommer 2017 aufgenommen worden. Es stammte von einem Blogger, der die Zone besucht hat; einer von diesen Katastrophentouristen ... und auf dem Bild sah man einen Raum, der genauso aussah wie das Kinderzimmer in diesem verfluchten Block. Dieselbe kaputte Tapete, derselbe aufgeworfene Bodenbelag, dieselben Möbelreste, dieselbe gammelige Puppe auf demselben fauligen Kinderstuhl mit demselben unheimlichen Blick ... sogar die tote Katze lag noch in derselben Ecke. Nach über dreißig Jahren! Seither träume ich wieder jede Nacht von dem Kindergeheul, und dass ich irgendwelche endlosen, verfallenen Flure entlanglaufe, in Pripyat, während der Dosimeter an meiner Seite piepst und piepst ..."

Konstantin R. muss zur Nachtschicht. Seit er den Brief bekommen habe, sagt er, arbeite er nur noch nachts, um seinen Alpträumen zu entgehen. Seine Tage bekämpft er mit Wodka und Sportwetten. Beides hat ihn ruiniert, finanziell und körperlich. "Tschernobyl", sagt er noch, "hat uns alle fertig gemacht ..."

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D R I T T E R W E G

Alexej S., seinerzeit Teilchen-Physiker an der Lomonossowa-Universität in Moskau, ist unser nächster Zeuge. Als junger Aspirant hatte er sich für sein staatliches Stipendium revanchieren wollen und freiwillig nach Tschernobyl gemeldet. "Es war Ehrensache", sagt er fast entschuldigend. "So dachten wir damals eben." Alexej war Ende Juni 1986 in die Zone gekommen und mit der Planung und Anlage von "Mogilniks" beschäftigt, riesigen Gruben, in denen verstrahlte Böden, Gebäude und Geräte isoliert wurden. "Wir haben ganze Wälder begraben", erzählt er, "und wenn wir dann ein paar Tage oder Wochen später wiederkamen, war wieder alles verseucht. Deprimierend." Während der Aufräumarbeiten lebte Alexej im ehemaligen Wohnheim der Erzieherinnen von Pripyat. "Von denen war keine mehr da, aber sie hatten uns Grüße dagelassen, Karten und Blumen." Ihm und seinen Kollegen war es gestattet, ihre knappe Freizeit im städtischen Hallenbad "Azure" zu verbringen. "Das Wasser war angeblich sauber", sagt er. "Wir gingen oft dorthin. Was sollten wir auch sonst tun?"

"Wissen Sie, das Bad war ringsum verglast. Als ich die Kleine am Fenster entdeckte, stand sie einfach nur da und schaute herein. Ihre Hände hatte sie so über den Augen verschränkt, wissen Sie, weil die Sonne blendete. Es sah aus, als suchte sie jemanden. Ich ging hin, stellte mich ganz dicht davor, und begann, Faxen zu machen. Keine Ahnung, wieso. Ich glaube, ich wollte sie aufheitern. Sie sah so ernst aus. Aber sie ging nur ein Stück zu Seite, wissen Sie, wechselte ihren Standort, um an mir vorbei sehen zu können. Aus irgendeinem Grund war ich enttäuscht, und dachte noch, dass sie anscheinend keinen Spaß verstünde. So ein Blödsinn. Dann bin ich wieder ins Wasser gegangen. Keine Ahnung, was ich dachte. Als ich das nächste Mal hoch schaute, war sie weg. Aber von den anderen hatte sie sonst keiner gesehen. Da kam es mir erst seltsam vor. Was machte ein Kind wie sie ganz allein in einer verlassenen Stadt?"

Auf die Frage, was er denkt, wer das Mädchen gewesen ist, antwortet Alexej mit großer Bestimmtheit. "Ich kann ihnen sagen, wer sie nicht war. Sie war auf keinen Fall das Gruselmädchen, das dreißig Jahre lang in Pripyat ausharrt, weil sie ihre Katze nicht alleine lassen wollte. Nein, ich denke, sie war sie eine Streunerin, die die leeren Wohnungen durchsucht hat. Nach neunzig sind doch alle möglichen Leute in die Zone gekommen: Landstreicher, Zigeuner, Flüchtlinge ... da ist so ein Kind ja wohl nichts Besonderes." Und was hält er davon, dass das dasselbe Mädchen bis heute immer wieder gesehen wurde? "So ein Quatsch! Das waren eben verschiedene Mädchen, die sich einander ähnlich sahen."

"Die Leute sind dermaßen abergläubisch. Wissen Sie, dass Tschernobyl übersetzt 'Bitterer Wermut' bedeutet? Und das die Leute daraus eine göttliche Warnung gemacht haben, ein Symbol für das nahende Gottesgericht? Wegen diesem Bibelvers aus der Johannes-Apokalypse, mit dem brennenden Stern, der Wermut heißt, und vom Himmel ins Wasser fällt: '... und viele Menschen starben von den Wassern, weil sie so bitter wurden'. So ein Schwachsinn. Die einzigen, die von diesem Unglück profitiert haben, waren die Popen und all' die anderen Hochstapler." Alexej, der den Untergang der Sowjetunion niemals wirklich akzeptiert hat, arbeitet heute als Wachmann bei einem privaten Sicherheitsdienst.

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V I E R T E R W E G

Unser nächster Zeuge ist Liquidator in der Zone gewesen. Wie die meisten, die mit den Aufräum- und Dekontaminationsmaßnahmen um den havarierten Reaktor beschäftigt waren, wurde Juhan V. als Reservist der Roten Armee zwangsverpflichtet. Das war im Mai 1986. Und wie so viele seiner Kollegen ist auch Juhan mittlerweile Invalide. Jedes Jahr muss er für mehrere Monate ins Krankenhaus. "Die sagten uns, es wäre nur für drei bis vier Wochen. Leichte Aufräumarbeiten. Von Strahlung war nicht die Rede. Als wir ankamen - wir sind mit offenen LKW gefahren, fast dreißig Stunden von Tallin - haben die Chefs nur gelacht. 'Ihr bleibt mindestens bis Jahresende. Wer abhaut, kommt in den GuLag, nach Kolyma.' Na ja, wir waren ja nichts anderes gewohnt. Das ganze Land war ja auf Lügen aufgebaut - Lügen, Drohungen und falsche Versprechungen. Die Urkunden nicht zu vergessen und der schönen Orden, mit Alpha, Beta und Gamma drauf. Als ob sie uns nachträglich noch verarschen wollten. Einer ist trotzdem abgehauen, den haben sie später in einer selbstgebauten Hütte im Wald wieder gefunden. Direkt beim Kraftwerk. Der hat's dann aber nicht mehr lange gemacht; in den Wäldern hat sich die Radioaktivität ja regelrecht festgefressen." Als Folge seiner Strahlenbelastung sind Juhan sämtliche Haare ausgefallen. Seine Kopfhaut wirkt, als wäre sie aus brüchigem Pergament. Aufgeplatzte Herpes-Bläschen wuchern um Mund und Nase. Immer wieder unterbricht er das Interview, weil er auf Toilette muss.

"Wir haben nur bekommen, was wir verdient haben", sagt er, als er wieder kommt. "Ich meine: wir alle. Was wussten wir denn von Atomkraft? Und dabei war ich gar nicht mal schlecht in Physik, in der Schule, mein' ich. Hab' sogar mal studieren sollen, an der Technika, aber ohne einen richtigen Namen und ohne Parteibuch und den richtigen Kommissar zum Bestechen und, ach ja, auch noch ohne Geld zum Bestechen - da ging das eben nicht. Aber Neutronen, Protonen, Elektronen, Ionen, Isotope: weiß ich alles noch. Oder die Thorium-Zerfallsreihe ... oder die Relativitätstheorie: Energie gleich Masse mal Geschwindigkeit zum Quadrat. Materie - Masse - ist nichts weiter als in der Zeit geronnene Energie. Und mit ein paar Gramm Uran kann man eine ganze Stadt für ein Jahr mit Strom versorgen." Juhan lacht, ein bitteres Lachen. "Gar nichts haben wir gewusst. So sicher wie ein Samowar, haben die Ingenieure gesagt, und dass sie so einen Graphit-Reaktor sogar auf dem Roten Platz bauen würden. Sowjetische Technik: unfehlbar. Die haben geglaubt, sie hätten das Inferno im Griff. Was für ein Witz." Ein Hustenanfall schüttelt den ausgemergelten Körper.

"Dann haben sie uns in den 'heißen' Streifen geschickt, den Roten Bereich um Block vier. Alles Freiwillige, offiziell, aber wer sich nicht freiwillig meldete, musste noch mal ein halbes Jahr dranhängen. Und eintausend Rubel Prämie. Das war damals noch richtig Geld. Wir kriegten einen Strahlenpass, aber den mussten wir gleich wieder abgeben. Reinschauen durften wir nie, aber die, die doch reingeschaut haben, haben gesagt, dass die eingetragene Strahlenmenge immer gerade bis zum zulässigen Grenzwert ging. Egal, wo einer gearbeitet hat. Sogar als 'Störche', als wir das Dach von Nummer drei räumen mussten: nie über der zulässigen Höchstmenge. Dabei waren da oben hunderte von REM. Übrigens wollten sie da zuerst Maschinen einsetzen, ferngesteuerte. Die haben's aber nicht lange gemacht. Sind einfach stehen geblieben. Eine hat sich angeblich sogar über das Dach in die Tiefe gestürzt - als ob sie sich umbringen wollte. Also hat man Bioroboter hoch geschickt, uns Liquidatoren. Ich bin auch oben gewesen, vierzig Sekunden lang, wie üblich. Das war wie auf einem Todesstern. Diese Stille und dann das Gefühl, als ob man sich durch Wasser bewegt. Vierzig Sekunden, das reichte eben für ein, zwei Schaufeln. Dann hatte man seine Dosis drin. Wenn sich einer krank meldete, haben sie sein Blut untersucht. Dann hieß es: Simulant, weitermachen! Oder: ab nach Hause! Die waren dann schon so gut wie tot."

Und das Mädchen? "Ja, das war wirklich seltsam ... es gab viele seltsame Dinge in der Zone, angeblich: Kühe, denen das Blut aus den Ohren lief, Maulwürfe, die zum Sterben aus der Erde krochen, Vögel, die tot vom Himmel fielen. Später hörte man von Wölfen und Elchen, die sich streicheln ließen, von verwilderten Katzen, die Menschen anfielen, von Regenwürmern, so groß wie Blindschleichen. Riesige rote Ratten, Hühner mit Drachenköpfen, Hechte mit Zähnen wie Alligatoren - alle möglichen Geschichten. Und natürlich jede Menge Gerüchte: die CIA hat das Kraftwerk sabotiert ... Ufos wurden über Tschernobyl gesichtet ... eine Satansfratze im Rauch des Reaktorbrandes ... jeder wusste alles Mögliche, aber niemand, worauf es wirklich ankam. Und wir - wir Soldaten - wir taten so, als ob wir einen Feind bekämpften. Hatten unsere DShK auf die Lafetten montiert und standen nachts Wache um die Zeltlager, wo wir schliefen. Auf blankem Boden, übrigens. Ein paar Schlauberger hatten sich Stroh organisiert, aus den Scheunen drumherum, das war total verseucht. Kampfhubschrauber und Panzer: wie im Krieg. Aber der Feind war unsichtbar. Er war überall - in der Luft, im Boden, im Wasser, in der Nahrung, in uns selbst. Auch in unseren Köpfen. Wie hatten nichts verstanden."

Wie war das mit dem Mädchen? "Nicht nur die Menschen wurden verrückt, aber das mit dem Mädchen war bestimmt das seltsamste, was ich dort gesehen habe. Sie müssen sich das vorstellen: der explodierte Reaktor, der immer noch dampft, darüber Hubschrauber - dicke, fette MI-26 und S-58er - die pausenlos Sand und Bor und Blei abwerfen. Dutzende von Bergepanzern, Baggern, Lastwagen, Raupen, Kräne, was weiß ich, alles kreuz und quer. Geschrei - hunderte von Männern. Das war, als sie angefangen hatten, den Tunnel zu graben, weil sonst alles durchgeschmolzen wäre. Hätte vielleicht das Grundwasser erreicht - Trinkwasser für dreißig, vierzig Millionen Menschen. Die wollten das irgendwie von unten kühlen. Den Tunnel haben sie in einem Monat vorgetrieben - einhundertfünfzig Meter durch massiven Sandstein. Und dann, als er fertig war, hat man ihn nicht mehr gebraucht. Typisch für unser Land, oder?"

Juhan hustet wieder, dann verschluckt er sich an seinem eigenen Speichel. Als er wieder zu Atem kommt, klingt seine Stimme gepresst. "Ein riesiges Durcheinander, und mittendrin, wie im schönsten Frieden, dieses Kind. Ich war anscheinend der einzige, dem das auffiel. Kaum einer hat aufgeschaut. Ich bin natürlich sauer geworden. Was denken sich die Eltern, hab' ich gedacht. Wo sind überhaupt die Eltern? Ich also hinterher. 'He, Kleine!' ruf' ich, 'wo willst Du denn hin?' Sie bleibt stehen, dreht sich um, schaut mich an und zeigt in Richtung Block eins. 'Zu meiner Mama', sagt sie. Ich kapier's nicht. 'Deine Mama ist da drüben?' frag' ich, ganz erstaunt. Sie nickt nur. War vielleicht acht oder neun, vielleicht auch jünger. Auf jeden Fall zu jung. 'Sie arbeitet da', sagt sie. Mir war das neu, dass wir Frauen im Roten Bereich hatten. Waren sowieso kaum Frauen in der Zone, und wenn, dann nur in den Grünen und Blauen Bereichen. Es braucht eine Weile, bis ich kapiere, dass sie wahrscheinlich die alte Belegschaft meint. 'Da ist niemand mehr', hab' ich dann gesagt, 'eins bis drei sind alle abgeschaltet.' In dem Moment, als ich das sage, merke ich schon, wie grob das klingt. Irgendwie grausam. Sie schaut mich nur an, verzieht keine Miene. Sie ist hübsch - das heißt: war hübsch -, aber sie sieht ziemlich fertig aus. Dünn wie ein Strich in der Landschaft. Und so was von bleich, fast schon durchsichtig. Lange, blonde Haare, ganz fettig und verfilzt. Und ihre Klamotten waren zum Fürchten dreckig, außerdem viel zu groß. Schlotterten richtig um sie herum. 'Ich muss aber zu ihr', sagt sie. 'Die Katinka ist doch krank.' 'Wer ist Katinka?' 'Meine Katze.' Ach so! Die Katze ist krank! Ja dann ... 'Aber da ist niemand mehr', versuch' ich es noch ein Mal, 'die sind alle weg.' Da fängt ihr Mund an zu zucken, und ich weiß, dass sie gleich anfängt zu heulen. Hab' ja selber eine kleine Tochter gehabt. Alles, nur das nicht, denke ich. Ich will nicht derjenige sein, der sie zum Weinen bringt. Also sag' ich: 'Ich bring Dich.' Das hab' ich wirklich gesagt. Und ich hätte es auch getan."

"Ich bin dann ziemlich flott losgelaufen, um sie möglichst schnell aus dem heißen Bereich zu bringen, aber sie bleibt hinter mir zurück, und als ich mich umdrehe, steht sie da und schaut auf die Ruine von Block vier, auf diesen Krater. Ich will schon den Mund aufmachen, damit sie sich ein bisschen beeilt, da seh' ich - sie hatte eine Puppe dabei, und die hatte sie so unter den Arm geklemmt und hochgehoben, damit sie in ihr Ohr flüstern konnte. Sie sprach mit ihrer Puppe und zeigt dabei auf den Krater, und der macht so aufstoßende Geräusche, immer 'Rülps, rülps', dann stieß er wieder eine Qualmwolke aus. Ich stand da wie angewurzelt, und nach einer Weile kommt es mir vor, als rede sie gar nicht mit ihrer Puppe, sondern mit dem Reaktor, mit diesem Krater da."

Für eine ganze Weile herrscht Schweigen. Juhan atmet schwer. Er leidet unter Emphysemen. Die Erinnerung nimmt ihn sichtlich mit. Auf die Frage, ob er eine Pause braucht, schüttelt er jedoch nur den gesenkten Kopf. "Ich bin dann zu ihr hin", sagt er schließlich, ohne aufzuschauen. "Sie musste doch da raus, aus dem Roten Bereich. 'Komm', hab ich gesagt, 'komm, Kind. Komm weg da.' Aber sie sieht mich nur an, und in ihren Augen liegt so etwas ... ich weiß nicht ... wie der Schmerz der Welt." Juhan schaut auf, und jetzt es sind seine Augen, in denen der Schmerz der Welt liegt. "Sie sieht mich an, und ich denk noch 'Scheiße, was haben wir getan? Was tun wir hier?' Und da sagt sie: 'Wir müssen für immer hier bleiben'. Ich weiß nicht, spricht sie von ihrer Puppe oder dem Reaktor? Ich will ihre Hand nehmen und sie da wegziehen, aber sie weicht mir aus und dann setzt sie sich wieder in Bewegung."

Müde wedelt Juhan mit der Hand. "Kennen Sie die Halbwertszeit von Uranium 238? Viereinhalb Milliarden Jahre: das so alt wie die Erde selbst. Und das Plutonium für die Kernwaffen - das ist in den Graphit-Reaktoren quasi nebenbei angefallen -, das strahlt für vierundzwanzigtausend Jahre mit über zwei Millionen Bequerel pro Sekunde. Dann ist erst die Hälfte davon zerfallen. Schon klar, oder, was sie mit 'für immer' meinte?"

"Jedenfalls, als wir so in Richtung Block eins stapfen, ist sie auf ein Mal nicht mehr da. Ist irgendwie hinter mir zurückgeblieben und hat sich dann wohl verdrückt. Das merk' ich aber erst, wie mich der Major anpfeift - Major Silayev, unser Regimentschef. Wo ich hinwollte, hat er mich angebrüllt. War ja verboten, den Arbeitsbereich ohne Abmeldung zu verlassen. Man kann übrigens sagen, was man will, aber unsere Offiziere haben sich nicht gedrückt, damals. Waren überall dabei. Haben Sandsäcke geschaufelt und Schubkarren geschoben. Immer mittendrin. Richtige Robotniks. Jetzt - was? Ach so, die Kleine ... also, die war jedenfalls weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Ich will noch nach hinten zeigen, da merk' ich es erst. Ich hab' vielleicht blöd geguckt. Hab' dann dem Major gesagt, dass ich scheißen müsste - also: austreten. Hat er mich auch gehen lassen. Aber die Kleine war weg."

Was er denkt, wer das Mädchen war, und wohin sie verschwunden ist? "Woher soll ich das wissen? Ich habe später noch ein paar Mal von ihr gehört. Aber nach den ganzen Lügengeschichten und Märchen, die wir zu hören bekamen ... was soll man da noch glauben?" Zwei Wochen nach diesem Interview wird Juhan V. in einem Krankenhaus in Gomel sterben. Aber noch bringt er genügend Energie auf, um die Welt zu verfluchen. "Seit dreißig Jahren verrecken wir, und keinen interessiert's. Haben Sie mal gesehen, wie ein Strahlenkranker stirbt? Alle Sorten von Krebs gibt's da: Blutkrebs, Darmkrebs, Lungenkrebs, Schilddrüsenkrebs, Hautkrebs natürlich. Zum Schluss löst sich einfach alles auf - Leber, Lunge, der Magen, die Därme. Nur noch kotzen und scheißen. Und kein Hahn kräht danach. Eine Urkunde und hundert Rubel Rente im Monat. Das ist der Dank des Vaterlandes. Dabei haben wir halb Europa gerettet!"

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F Ü N F T E R W E G

In Kiew treffen wir Kostya, einen der damals geschäftsmäßigen Plünderer in der Zone. Sein richtiger Name ist natürlich nicht Kostya. "In den Neunzigern, als alles an den Arsch ging, da haben das viele gemacht", zuckt er mit den Achseln. "Und die Miliz hat damit angefangen. Die armen Schweine standen da und haben die Zone bewacht, tagelang. Mussten den Verkehr zur Baustelle regeln. Sie wurden verstrahlt und bekamen keine Kopeke extra dafür. Na ja, unser Geld war ja bald sowieso nichts mehr wert. Arschwischpapier. Und Pripyat war natürlich eine Schatztruhe. Fast fünfzigtausend gut bezahlte Leute haben da gewohnt, Ingenieure, Akademiker. Die hatten alles: Elektrogeräte, Pelze, Schmuck, sogar Gold. Natürlich alles hoch belastet. Wir nachts rein, haben das Zeug anhängerweise rausgeholt - Möbel, Bilder, Teppiche, Wäsche. Zum Schluss sogar Badewannen und Klos. Einfach alles. Ein paar haben sogar die radioaktiven Proben aus dem Krankenhaus geklaut, in Röhrchen, weil sie dachten, das wär' weiß Gott was. 'Gesundheit des Volkes - Reichtum des Landes' stand da über dem Eingang. Haben sich gleich zweimal verstrahlt, die Idioten. Die Miliz kannte uns schon. Sie bekamen was ab, wenn sie uns durchwinkten; da sparten sie sich die Mühe. Die nahmen natürlich nur die besten Sachen."

Kostya zündet sich eine Papirossa an. Obwohl durch den Schmuggel wohlhabend geworden, raucht er immer noch Selbstgedrehte aus Zeitungspapier, eine alte Lagergewohnheit. Seine Hände zittern. "Es muss auf meiner siebten oder achten Tour gewesen sein. September einundneunzig oder so. Ich musste mich beeilen, weil inzwischen jede Nacht schon ein, zwei Dutzend in der Stadt unterwegs waren. In der ganzen Zone bestimmt ein paar Hundert. Wir haben uns natürlich vorher abgesprochen, Zinken hinterlassen und so ... 'Achtung, Hund!', 'Hier nichts zu holen', in der Art. Und dann gab's natürlich auch welche, die wollten nur ihre eigenen Sachen von daheim holen. Nach Pripyat kam von denen eigentlich niemand. Verrückt: nur ein Mal hab ich einen gesehen, der hatte seine Wohnungstüre hinten aufs Moped geschnallt. Hat seine eigene Wohnungstür rausgeschmuggelt. Und die Miliz hinter ihm her, hat gebrüllt und in die Luft geballert. Haben ihn aber nicht erwischt. Auf jeden Fall ... ich war da auf Tour ganz im Norden von Pripyat. Ich hab gehofft, dass da noch was zu holen wär'. War aber nichts. Die Häuser in Pripyat sind ja alles Plattenbauten, mehrstöckig. Riesige Betonblöcke, keine Ahnung, wie man da leben kann. In dem einen Block, wo ich das Mädchen gesehen hab', war ich im achten oder neunten Stock unterwegs. Ziemlich hoch jedenfalls. Ich weiß noch, dass ich von den Fenstern aus den Reaktor sehen konnte. Und, komisch, ich hab mir eingebildet, der glüht immer noch, durch den Sarkophag hindurch. War so ein komischer rosa Schimmer drüber."

"Auf ein Mal hör' ich hinter mir, wie kaputtes Glas knirscht. Die Jungs, die nichts mehr gefunden haben, haben ja alles kaputt geschlagen, da lagen überall Scherben am Boden. Ich dreh' mich 'rum und denk', mir bleibt gleich das Herz stehen: da steht ein kleines Mädchen im Nachthemd, mit einer Puppe in der Hand, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Ich hatte ja meine Taschenlampe dabei und hab sie voll angeleuchtet. Sie blinzelt in die Lampe und sagt kein Wort. Ihr Nachthemd ist ganz dreckig und unten ausgerissen, und ihr Haar ist ganz verfilzt. Sieht echt unheimlich aus. Ansonsten aber ein niedliches Kind. Ich so: 'Was machst Du denn hier?' Und sie quengelt: 'Warum hast Du mich geweckt?' Ich denk, ich fass' es nicht. Sie hält die Hand mit der Puppe vor die Augen und sagt: 'Du bist doch nicht mein Papa.' Jetzt versteh' ich gar nichts mehr, aber ich merk' doch, dass ich gleich anfang' zu heulen. Keine Ahnung, wieso. Eigentlich bin ich nicht so nah am Wasser gebaut. Aber sie hat mir so leid getan. Und außerdem war es mir irgendwie peinlich, dass ich sie gestört hab' und alles ... in dem Moment wollte ich nur, dass sie so schnell wie möglich weiterschlafen kann. Sie hat sie sich dann einfach umgedreht und ist 'rausgegangen, ins Nebenzimmer. Und in dem Moment seh' ich erst, dass sie völlig barfuss ist. Sie läuft über die Scherben wie Jesus übers Wasser und dann ist sie weg. Ich hör' noch, wie sie nebenan leise mit jemandem gesprochen hat und wie dann, glaub' ich, eine Katze geschnurrt hat. Und ich Idiot, ich denk': 'Wenigstens hat sie ihre Katze noch' und bin auf Zehenspitzen raus. Ich war so froh, als ich draußen war. Hab' nie mit jemandem darüber gesprochen. Nach Pripyat bin ich danach nicht mehr, nur in die Dörfer, aber da gab es natürlich lang nicht soviel zu holen."

Auf die Frage, ob er sich vorstellen kann, dass ein kleines Mädchen jahrelang ganz auf sich gestellt in der Zone überlebt, zuckt Kostya wieder mit den Achseln. "Warum nicht? Essen gab's überall. Die in Pripyat hatten jede Menge Konserven. Und in den Dörfern waren die Speisekammern voll. Noch Jahre später konnte man Verstecke mit Eingemachtem finden. Vorräte anlegen und bunkern: das steckt ja noch vom Krieg her in den Bauern drin. Auf den Feldern gab's Kartoffeln satt, in den Gärten Rhabarber, Rüben und Gurken. In Pripyat selber standen riesige Gewächshäuser, da wuchsen sogar Tomaten. War ja nichts mehr geerntet worden. Die hätte bestimmt locker ein paar Jahre durchhalten können." Und dann? "Keine Ahnung. Ich frage mich nur, warum niemand nach ihr geschaut hat. Ich hab dann noch ein paar Mal von anderen gehört, die auch unterwegs waren, dass sie die Kleine auch gesehen hätten. Immer allein. Keine Ahnung, was ich glauben soll. Und von mir aus kann sie für immer in der Zone bleiben."

Als das Interview schon zu Ende ist, will Kostya noch etwas loswerden. Die Puppe, sagt er, die das Mädchen in jener Nacht bei sich gehabt hätte, hätte ihn an ein Strahlenopfer erinnert. Ihr Gesicht sei ganz dunkel und rissig gewesen. "Das Ding sah aus, als sei es jahrelang irgendwo auf dem Müll gelegen. Aber die Augen haben im Dunkeln geleuchtet, wie Katzenaugen. Ganz schön unheimlich. Das fällt mir jetzt erst wieder ein."

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Wer Pavel Z. heute sieht, mag ihm seine kriminelle Vergangenheit kaum abnehmen. Pavel ist Anwalt und betreibt seine Kanzlei in Donezk, wo vor drei Jahren prorussische Separatisten die Macht übernommen haben. Sie kämpfen für einen Anschluss ihrer Heimat, dem Industriegebiet Donbass, an die Russische Föderation und genießen dabei volle Unterstützung des Kremls. Während diese Aufzeichnungen entstehen, toben im Osten der Ukraine gleichzeitig ein Stellvertreterkrieg, ein Bürgerkrieg und ein Bandenkrieg. Verschiedene Milizen unterstützen reguläre Kampfeinheiten, aber der Unterschied zwischen diesen Truppenarten ist fließend. Dazu kommen noch die Söldner großer Privatarmeen wie Academi und Protektor, sogar Deutsche von Asguard. Und ebenso wie im Jugoslawienkonflikt der Neunziger Jahre stehen auch in der Ukraine die Reviere und Interessen ethnisch gruppierter Verbrecherorganisationen auf dem Spiel. Die Tatsache, dass auf beiden Seiten rassistische Schwerverbrecher als Militärbefehlshaber fungieren, macht diese Auseinandersetzung besonders widerwärtig. Seit dem zweiten Protokoll von Minsk sind die Fronten weitgehend erstarrt. Alle Beteiligten scheinen auf die Zermürbung ihrer Gegner sowie einen Verhandlungssieg zu spekulieren. Beobachter der OSZE überwachen den brüchigen Waffenstillstand. Das heißt nicht, dass im Donbass nicht jeden Tag geschossen und gestorben würde. Denn die Kombattanten sind äußerst mobil. Mit Artillerieüberfällen und stoßtruppartigen Raketeneinsätzen terrorisieren sie vor allem die Zivilbevölkerung, die sich längst an ein Leben in Kellern gewöhnen musste. Derzeit wird im Donbass solange Krieg gespielt, bis der Krieg wieder richtig losgeht.

Mit Mörsergranaten und Scharfschützen hat sich Pavel Z. längst arrangiert. Er ist weder Russe noch Ukrainer, und seine Kontakte zu den Konfliktparteien sind zumindest einvernehmlich. Denn Pavel ist strikt neutral und handelt mit sämtlichen Seiten. Was seine Kanzlei feilbietet, ist Ansehen. Bei Hochschulen in Moldawien und Albanien erwirbt er akademische Blanko-Titel - vom schlichten Diplomanden bis zum Instituts- oder gar Fakultätsleiter - und veräußert sie an seine Kunden, die sich auf diese Weise um eine Veredelung ihrer ansonsten zweifelhaften Reputation bemühen. Außerdem bereitet Pavel Z. mögliche Aspiranten von UN-Kriegsverbrecherprozessen unter den ost-ukrainischen Warlords schon jetzt auf ihre Verteidigung vor. Seine Anwaltslizenz und der dazugehörige Grad eines Dr. jur. stammen aus dem "Neuen Russland", der Umbruchszeit von 1991 bis 2000, als für Schmiergeld alles zu haben war.

"Mein Vater war Kasache, meine Mutter aserbaidschanische Jüdin. Was bin ich also? Meine Eltern waren Sowjets, ich selbst bin heimatlos. Wir haben ja in Pripyat gelebt, bis zur Havarie, aber ich war noch zu klein, um mich daran zu erinnern. Ich weiß nur noch, dass es dort sehr hell und sauber war und dass viele alte Bäume überall in der Stadt standen. Und an meine Kindergarten-Tante kann ich mich noch erinnern. Die hieß Jewgenija und hatte eine großen, weichen Busen. Sie roch immer so gut ... Mein Vater malochte auf der Baustelle am Kraftwerk, bei den Einheiten fünf und sechs, die nie fertig wurden ... in den Baugruben hat man später den radioaktiven Schrott des vierten Reaktors versenkt. Von der Evakuierung weiß ich nur noch, dass ich auch im Schaum der Reinigungsfahrzeuge toben wollte, wie die anderen Kinder, und dass meine Mutter mich fast hysterisch da wegriss. Aufgewachsen bin ich dann in Slawutitsch, wie viele andere aus Pripyat. Da gab es aber nur Baracken mit Kohleöfen, Gemeinschaftsduschen und Plumpsklos. In Pripyat haben wir drei Zimmer gehabt, Zentralheizung und ein eigenes Badezimmer. Da in Slawutitsch lebten wir mit zwei anderen Familien in einem Sperrholzbude, die nie richtig warm wurde. Wir mussten unseren Kabuff mit Bettlaken abteilen. Meine Eltern haben das nie verwunden. Mein Vater ist dann gestorben, als ich neun war. Er war auch Liquidator, aber nur in der Grünen Zone, da hat er nachher kaum Rente bekommen. Er ist an Leukämie abgenippelt, schön langsam, aber wie sollten wir beweisen, dass das von der Strahlung kam? Gesoffen hat er auch und gequalmt wie ein Schlot. Das mit dem Saufen ist nach der Evakuierung natürlich schlimmer geworden, und dann hat er bald den Löffel abgegeben. Und meine Mutter stand da mit uns zwei halbstarken Jaunern ..."

Rasch fällt der vornehme Anwalt im feinen Zwirn in den Straßenslang seiner Jugend zurück. Es ist eine faszinierende Wandlung. "Ich hatte eine typische Kindheit während der Rubelkrise. Meine Mutter bekam ein bisschen Fürsorge und ging Putzen, aber trotzdem hatten wir wochenlang oft nur Erdbollen zum Fraß. Ein Mal, im Winter, als es nicht genug Kohlen gab, haben wir die Bestände der örtlichen Bibliothek verheizt. Tolstois gesammelte Werke brannten besonders gut ... ansonsten blieben wir Jungs uns selbst überlassen. Komsomol und Pioniere gab's ja nicht mehr, und in die Penne sind wir nur selten. Wenn uns die Älteren von den glorreichen Sowjet-Zeiten erzählten, haben wir nur gelacht. Wir hatten nicht mal die Illusion einer Illusion. Wir trieben uns 'rum, keilten andere Kinder und uns gegenseitig und schlugen unsere Zeit tot. Das Rauchen hab' ich mit zehn angefangen, gegen den Kohldampf, und bald darauf kam mein Bruder, Chawer Ajka - der war vier Jahre älter als ich - mit Kleber und Benzin zum Schnüffeln. Ajka hat's dann fünfundneunzig erwischt - eine Überdosis 'Krokodil'. Vorher haben wir schon alles Mögliche probiert: Fusel, Skunk, Meth, H, auch Pilze und Acid. Nur Koks nicht, das war uns zu teuer ... aber Krok war doch das Allerhärteste. Nicht von der Wirkung her. Das Zeug hat einen so was von fertig gemacht - körperlich, mein' ich."

"Unsere Schilddrüsen haben sie uns mit zwölf 'rausgenommen - vorsorglich. Hier, sieht aus, als hätte man uns die Gurgel durchtrennt, nicht wahr? Und so hießen wir auch, wir Kinder aus der Zone: 'Halsabschneider' oder 'Leuchtkäfer'. Die Dorfjungs aus der Umgebung haben uns ganz schön getriezt, aber irgendwann waren wir stark genug, um uns zu wehren. Chawer Ajka ist eine Weile ins Kickboxen gegangen und hat mir alles beigebracht, aber eigentlich haben wir immer ohne Regeln gekämpft. Die einzige Regel lautete, zu gewinnen. Wer zu Boden ging, wurde zusammen getreten, meistens gegen den Kabbes, den Kopf. Ein Junge ist da mal dran gestorben, und Chawer Ajka kam in den Bau, aber nur für ein paar Wochen, weil sie kein' Kies hatten und kein' Platz dort. Hat aber gereicht, um die richtigen Kunden kennen zu lernen ..."

"Wir schwächten und klauten und schlugen alles kaputt, was uns zwischen die Finger kam. Wir war'n so auf der Palme, und wir wussten nicht, wohin mit unserer Wut ... Irgendwann haben wir dann angefangen, uns in der Zone 'rumzutreiben. Das muss auch so Mitte der Neunziger gewesen sein, kurz nachdem Chawer Akja abgenippelt ist. Es war spannend in der Zone, gruselig, und außerdem bestand immer die Möglichkeit, irgendeine Sore zu finden. Ein anderer Chawer von mir hat mal eine ganze Schachtel voller Goldzähne entdeckt, in einer Zahnarztpraxis in Pripyat. Pripyat war überhaupt am geilsten ... da konnte man alle mögliche finden und außerdem gab's auch da die größten Fensterscheiben zum Einwerfen."

Wurde die Zone denn nicht von der Miliz bewacht? Pavel Z. grinst nur. "Die waren meistens noch beschickerter als wir ... wenn sie sich überhaupt blicken ließen, dann haben wir ihnen eine Flasche Fusel in die Hand gedrückt und gut war's. 'Rein und 'raus kamen wir immer problemlos. Wir waren ja alle aus der Gegend und kannten jeden Schleichweg durch den Knackert - den Wald, mein' ich. Und der Elektrozaun war ein Witz. Den haben sie Anfang '87 um die Stadt gezogen, um Plünderer abzuschrecken - aber da sind laufend Äste drauf gefallen, oder irgendwelche Tiere sind drin hängen geblieben und haben Kurzschlüsse ausgelöst. In Pripyat selbst haben wir uns dann durch die Gänge der Wohnblocks gejagt, die Klitschen durchwühlt und alles kaputt gemacht, was man nur irgendwie kaputt machen konnte. Und was wir alles gefunden haben! In der Parteizentrale im 'Energetik' standen noch die Plakate mit den Parteibonzen für die Maifeier, die sahen nachher nicht mehr so gut aus ... da gab's auch einen richtigen, großen Konzertflügel ... und im Hotel Polessia haben wir die Suiten demoliert und in die Aufzüge geschissen. 'Wächter setzen' nannten wir das. Zweihundert Zimmer gab's da, muss man sich mal vorstellen! Im Hallenbad 'Lazurny' haben wir Fließen von den Wänden geklopft, und Waschbecken und Kloschüsseln zerdeppert. Am besten waren aber die Pennen, da konnten wir uns so richtig austoben ..."

"Von Touristen war in Pripyat damals noch nichts zu sehen; das ging erst so richtig nach der Jahrtausendwende los. Trotzdem waren wir natürlich nicht die einzigen in der Zone. Es gab gewerbsmäßige Fledderer, die waren meistens allein unterwegs. Vor denen hatten wir eigentlich kein' Bammel, weil wir immer zu mehreren waren. Andererseits wusste man nie, ob die nicht bewaffnet waren. Also sind wir ihnen aus dem Weg gegangen. Dann gab es die 'Samosely', Hinterbliebene und Rückkehrer, meistens alte Leute, die nichts von Wert besaßen. Die haben wir in Ruhe gelassen. Die Flüchtlinge aus Tschetschenien und den anderen Provinzen, die haben wir manchmal erpresst, um Fusel oder Kippen, aber eigentlich wollten wir nichts von denen. In der Zone wusste man ja auch nie, ob die Sachen nicht völlig verstrahlt waren ... Die einzigen, vor denen wir wirklich Bammel hatten, waren die Beißer."

"Das waren mal Haus- oder Hofhunde gewesen; die kannten Menschen und hatten kaum Respekt vor ihnen. Andererseits waren sie immer hungrig, weil sie sich ja nicht selbst versorgen konnten. Nach der Evakuierung sind viele von Jagdkommandos erschossen worden, aber eben nicht alle. Die übrigen haben sich zu Rudeln zusammen getan und sind über alles hergefallen, was ihnen vor die Schnauze kam. Jungs von einer anderen Mischpoke haben mir erzählt, sie hätten mal mitten auf der Strade einen Tippelbruder gefunden, der seinen Zottel ausschlief, seinen Rausch. Und als sie später wieder an derselben Stelle vorbeikommen, liegen da nur noch ein paar blutige Klamotten auf der Straße ... Wenn sich die Beißer paarten, dann waren ihre Welpen kaum besser als Wölfe. Völlig verwildert und link. Ich hab' mich immer gefragt, ob das nicht irgendwie mit der Strahlung zusammenhing ... weiß man ja nicht, was die so auf Dauer im Hirn anrichtet. Wir hatten zwar immer Zwillen mit Stahlkugeln und Stenze dabei - also Stöcke -, unsere Schmetterlingsmesser sowieso, aber alleine durfte man diesen Beißern besser nicht unterkommen ... Auch in Pripyat waren die unterwegs, vor allem im Winter. Einmal hab' ich eine Bullin mit ihrem Wurf in einem Friseursalon entdeckt, die hatte sich aus den Perücken da ihr Nest gebaut. Sah ganz schön schaurig aus, wie ein Haufen Skalpe ... es war ein großes Vieh, und als sie mich angeknurrt hat, bin ich rückwärts wieder 'raus und schwenzen."

"An dem Tag waren wir zu dritt in Pripyat unterwegs, ich und Illya und Nikita. Illya war der beste Freund meines Bruders gewesen und ein paar Jahre älter als wir zwei anderen. Er war unser Baldowerer. Natürlich waren wir beschickert, außerdem hatten wir Spice geraucht - da sah man die Englein fliegen. Ich kann also eigentlich nicht genau sagen, was von dem, was ich an damals erlebt habe, tatsächlich so passiert ist, und was vom Zottel kam. Wir sind da durch eine Penne, wo wir vorher noch nie gewesen waren, im zweiten Distrikt. Wir spielten 'vizit' - 'Besuch': einer verbunkert sich, die anderen beiden müssen in ihn finden, das Ganze möglichst klamm, also leise. Im Gegensatz zu den anderen wollte ich immer der sein, der bunkert. Ich kam mir dann immer vor wie John J. Rambo in 'First Blood'. Das war unser Lieblingsfilm damals. Ausgemacht war'n fünf Minuten Vorsprung, aber entweder hab' ich das Zeitgefühl verloren oder die beiden Chawerim ... kann schon mal vorkommen, wenn man auf Spice ist. Ich bin also durch die Flure getippelt und such' ein' guten Bunker - in einem Kabuff lag so ein Riesenhaufen Flitter auf dem Boden, und ich überleg' schon, ob ich da drunter kriechen soll ... die hätten mich da nie gefunden. Hab's dann aber doch gelassen, wegen dem ganzen Batz, dem Staub, und der Strahlung, die sich darin sammeln."

"In den Klassenzimmern die üblichen Reihen von Zweierholzbänken und -pulten, wobei die Rückseite der Bänke am jeweils hinteren Pult festgeschraubt ist. Alles dick eingedreckt, darauf der übliche Schund: aufgerissene Schreibhefte, zerfledderte Schachteln und so ... Von der Decke hängen halbvergammelte Plastikblenden und ausgebeinte Leuchtröhren. Vorn eine umgeknickte Tafel mit Hammer und Sichel, da konnte man noch lesen 'Smelo, Towarischtsch - Vorwärts, Genosse, im Gleichschritt!' ... das kannte sogar ich noch. In einem anderen Kabuff haben irgendwelche Feezmacher die ausgeräumten Regale mit selbst gemachten Strahlenzeichen voll gepinselt. Überall fuhren Gasmasken in Kindergrößen herum ... die waren damals in allen öffentlichen Einrichtungen vorrätig, weil ja die bösen Kapitalisten jederzeit den Erstschlag führen konnten. In Pripyat, nach dem Unfall, hab' ich gehört, wären die Dinger völlig locker gewesen, nutzlos, weil ihre Filter nicht mehr funktionierten ... die waren schon über zwanzig Jahre alt. Jedenfalls: nirgends gab's einen guten Bunker für mich. Unter den Bänken würden mich meine 'Besucher' sofort stiebern. Die Türen der Schränke, der Hanseln, waren alle ausgehängt, ihr Inhalt auf dem Boden verstreut. Und hinter den Schwingtüren der Scheißhäuser würden sie als erstes suchen. Im nächsten Stockwerk dann, in einem andern Klassenzimmer, sitzt eine Dille am Pult, ein kleines Mädchen - sitzt da und beugt sich über ein Heft."

"Sie saß mit dem Rücken zu mir und merkt erst gar nicht, wie ich 'reinkomm'. Für mich war es ein Schock, aber eigentlich auch irgendwie völlig normal. So, als würd' ich aus zwei Personen gleichzeitig bestehen, einer völlig beschickerten, die sich auch nicht gewundert hätte, wenn da die Baba Jaga aus dem Märchen gesessen wäre, und einer zweiten, relativ nüchternen, die in der Winde festfriert - in der Tür, mein' ich. Es folgte ein kurzer Kampf, wer das Sagen hatte, dann lass' ich die Zügel dem Affen. Außerdem hör' ich im Stockwerk darunter meine beiden 'Besucher'; die Kleine würde sie wohl auch bald hören und sich dann sowieso zu mir 'rumdrehen. Auf den Gedanken, flöten zu gehen, kam ich erst gar nicht. Auch komisch, eigentlich ... jedenfalls dreht sie sich 'rum, sieht mich, verzieht aber keine Miene. Wir mustern uns kurz, dann wendet sie sich wieder ihrer Schularbeit zu, oder was es war ... Ich weiß nicht, was sie gesehen hat - ein schlaksigen Vierzehnjährigen in mieser Kluft, mit Augen wie Nabelscheiben - was ich sehe, ist ein Mädchen von vielleicht acht oder neun mit einem langen, strohblonden Schopf, der ziemlich verfilzt ist. Sie trägt eine blaue, völlig verschlissene Klufft mit kurzen Ärmeln, deren Rüschen in Fetzen auf ihre nackten, bleichen Arme hängen."

"Das konnte natürlich alles gar nicht sein. Es gab keinen kleinen Mädchen in Pripyat. Ich hatte jedenfalls noch nie eins gesehen oder auch nur gehört, dass jemand eins gesehen hätte. Vielleicht kommt sie ja von draußen, sag' ich mir, aus den Flüchtlingsbaracken. Aber eigentlich kamen diese Leute nie nach Pripyat. Sie hatten Bammel vor der Geisterstadt ... na ja, eigentlich hatten sie vor so ziemlich allem Bammel. Gleichzeit sah ich die Kleine ja ganz deutlich - wenn man in meinem Zustand überhaupt von 'deutlich' sprechen kann. Ich sah, wie sie den Stift führt, sehe die Bewegung ihres dünnen Schulterblattes unter dem fadenscheinigen Kleiderstoff. Sie ist völlig vertieft. Von unten hör' ich nichts mehr. Ilya und Nikita durchstiebern jetzt heimlich das Erdgeschoss. Auch mein Affe hat keine Ahnung, was er jetzt tun soll. Er könnte das Spiel beenden, die beiden Chawerim rufen und dann würde - was passieren? Wenn wir so drauf waren, wussten wir oft selbst nicht, was wir im nächsten Moment tun würden. Die Dille nimmt mir die Entscheidung ab. Sie dreht sich wieder zu mir 'rum, schaut mich an und streckt so die Hand hoch ... meldet sich, wie man es in der Schule macht ... Ich - total geck - sag': 'Was?', und sie, ob ich ihr bitte helfen könnte? Sie stammte nicht aus einem der Käffer, das konnte man gleich hören. Ich noch mal: 'Was?'. 'Hier, bei meiner Aufgabe', sagt sie und zeigt auf ihr Heft. Wie ferngesteuert bin ich zu ihr hin. Ein Teil von mir konnte nicht glauben, was ich da tat, der andere Teil tat es trotzdem."

"Ich quetschte mich auf den Platz neben ihr. Sie gab so eine Wärme ab, irgendwie ungesund, und ich überlegte schon, ob sie vielleicht Fieber hätte. Außerdem roch sie gar nicht koscher, als ob sie sich lange nicht richtig gefladdert hätte - gewaschen, mein' ich. Aber eigentlich machte sie keinen maladen Eindruck. Verwahrlost und abgemagert, ja, aber nicht malad. Und abgesehen davon war sie zucker, richtig hübsch. Nur ihre Linser, die Augen, die waren seltsam ... irgendwie leer ... keine Ahnung ... vergessen Sie bitte nicht, dass ich völlig verzottelt war, als das alles passiert ist ..."

"Bei ihrer Schulaufgabe ging es um Geometrie - ich erkannte Dreiecke, Vierecke und andere Figuren unter der grauen Moderschicht des Papiers. Außerdem standen da alle möglichen Fragen: aus wie vielen Dreiecken wird eine Pyramide gebildet? Wie viel Ecken und Kanten hat ein Würfel? Ist ein Rechteck immer größer als ein Quadrat? Kinderkram eigentlich, aber in dem Moment war mir das viel zu hoch. Ich merkte, wie sie mich von der Seite mustert. Als ich zurückschaue, seh' ich erst, wie sich der Batz tief in ihre Haut eingegraben hat. 'Bist du wirklich Observant?', fragt sie zweifelnd. Sie spricht von den Paten, früher auch Observanten genannt, Schüler der Oberstufen, die Aufsicht führen und Jüngeren bei den Hausaufgaben helfen. 'Nein', sag' ich, 'ganz sicher nicht.' Die Vorstellung, einer von diesen Fottenhäuern zu sein, hat mich beinah' beleidigt. 'Was machst du dann hier?', fragt sie. Ich musste lachen, weil das alles so seltsam war. 'Und was machst DU eigentlich hier?', frag' ich zurück. Sie runzelt die Stirn, wobei die Dreckschicht dort einige feine Risse bekommt, und zeigt auf das Heft. 'Meine Aufgaben', sagt sie, als wär's das Normalste auf der Welt. 'Ganz allein?' Sie schüttelt den Kopf. 'Nein. Die anderen sind noch in der Pause. Sie kommen bald wieder.' 'Und dein Lehrer?' 'Ist auch in der Pause. Meine Lehrerin hat gesagt, ich soll das hier noch fertig machen. Dann darf ich auch 'raus. Hilfst du mir?'"

"Ich hätte ihr wirklich gern geholfen. Sie hat mir irgendwie leid getan. Mein Affe merkt zwar, dass sie völlig meschugge ist, aber der Normale, der Gadscho in mir, der spürt vor allem, wie einsam sie sein muss. Einsam und traurig. Niemand, der sich um sie kümmert ... wo sind ihre Leute? Darum hat sie mir so leid getan. Dummerweise hatte ich von Geometrie keine Ahnung. Eigentlich hab' ich in diesem Moment beschlossen, mein Leben zu ändern. Zu dem Zeitpunkt hab' ich das zwar noch nicht gewusst, aber heute weiß ich es. Dass ich ihr nicht helfen konnte mit diesen mutschen Rechenaufgaben, weil ich dermaßen verzottelt war, das war mir so peinlich, dass ich mich bald daran gemacht hab', mein Schulwissen aufzupolieren. Außerdem hab' ich mit dem harten Zottelzeug aufgehört. So was Unheimliches wollt' ich nicht noch Mal erleben. Ich glaube, diese Begegnung damals in Pripyat, so seltsam und unheimlich sie auch gewesen ist, hat mir irgendwie das Leben gerettet. Ohne sie säß' ich jetzt wahrscheinlich nicht hier, sondern würd' irgendwo Platte machen, wie Nikita, oder wär' schon lang' kappores, wie Chawer Ajka. Zum Glück sind wir dann auch bald von Slawutitsch weggezogen, nach Charkow, und in der Penne dort hab' ich mich gleich von den Jaunern ferngehalten, mich zu den Glufenmicheln gesetzt, den Strebern, und einen Abschluss gemacht. Nichts Besonderes - aber immerhin ein Abschluss."

"'He, Pavel, hast du 'ne neue Moss?' Ich bin furchtbar erschrocken, als ich Ilyas Stimme hinter mir gehört hab'. Nikita stand neben ihm in der Winde. Ich hatte die beiden total vergessen. Ilyas Blick verhieß nichts Gutes. Es war halb ungläubiges Staunen, halb fröhliche Erwartung. So sah er immer aus, wenn er glaubte, einen Jackel gefunden zu haben, ein Opfer. Und noch etwas lag in seinem Blick - ich kam erst später dahinter, als mir nämlich einfiel, dass Ilya schon im Bau gewesen war, weil es da mal eine Vergewaltigung gegeben hatte. Vier Zwölf- und Dreizehnjährige auf eine Siebenjährige ... Ilya hatte angeblich nur Schmiere gestanden, aber ich denke, ich wusste es besser."

"Er kam auf uns zu mit diesem breitspurigen, schlurfenden Gang ... wie ein Revolverheld im Wilden Westen. Wir walzten alle so. Schund und Scherben knirschen unter seinen Stiefeln. Die Dille peilt natürlich nicht, was jetzt gleich laufen wird. Aber ich muss mich entscheiden. Es gibt nur einen Ausgang, und der ist durch Nikita versperrt. Ich will der Dille helfen, hier wegzukommen, aber ohne meine Chawerim zu verprellen ... ich hab' mich schon immer so durchs Leben laviert: mein großes Talent. 'Alch dich! Hau ab!', babbelte ich der Kleinen leise zu und hab' mich dann aus der engen Schulbank gezwängt. 'Lass sie doch, Ilya', sag' ich. 'Ist doch nur 'ne Dille'. Ilya grinst dreckig. Dann meint er, nur 'ne Dille wär genau das, was er grad bräuchte. Ich stand so zwischen ihm und der Kleinen, und die Bänke sind so gestellt, dass Ilya um die ganze Reihe herum muss, wenn er an sie 'ran will. Ich hab' mich nicht gewehrt, als er mich beiseite stieß, aber ich hab' mich schwer gemacht und bin wie zufällig wieder in seinen Weg zurück getaumelt. Da wurde er natürlich link. Er kneift seine Linser zusammen, täuscht so mit einem Griffel eine Schelle an und keilt mich dann voll in den Ranzen. Mir ist die Luft weggeblieben; ich bin einfach zusammen geklappt. Aber ich seh' doch, wie die Dille durch den Gang unter der Bankreihe durchkrabbelt und Richtung Winde abstromert. Nikita war zum Glück ein Schussel und basacht war er auch - ziemlich langsam. Also ist sie an ihm vorbei und 'raus. Wir natürlich hinterher, Nikita und Ilya und dann ich, obwohl ich vor Harm kaum laufen konnte."

"Bis ich im Flur bin, ist die Dille schon ums nächste Eck', und Ilya und Nikita hinter ihr her. Sie lachen und rufen sich Scheiß' zu. Da bleibt Nikita plötzlich stehen, als ob er vor eine Wand gelaufen wär'. Ilya rennt ihn fast um, und dann sieht er es auch. Ich hab's natürlich als letzter gepeilt, hab' mich erst nur gewundert, warum die beiden auf ein Mal umdrehen und wie die Küllhasen zu mir zurück stromern. Im ersten Moment hab' ich sogar gedacht, das sie jetzt über mich herfallen wollen, aus irgendeinem Grund, aber dann hab' ich den Bammel in ihren Fratzen gesehen, wie sie an mir vorbei sind: da waren mindestens fünf von den Beißern, richtig große Bullen, die kamen ums Eck und volle Pulle auf uns zu."

"In meinem Leben bin ich nie mehr so schnell getürmt wie damals. Mein' Harm hatt' ich völlig vergessen. Unsere Stenze standen natürlich draußen, vor der Penne, und zum Schießen kamen wir nicht mehr. Meine Zwille und die Stahlkugeln hatte ich in den Arschtaschen. Nikita hat seine anscheinend gleich verloren. Und mit unseren Klappdegen, den Butterflies, konnten man den Beißern wohl kaum beikommen ... Ich flog förmlich die nächste Treppe hoch. Ohne uns abzusprechen, ohne es überhaupt zu merken, haben wir uns getrennt, aber das bringt gar nichts, denn die Beißer trennen sich ebenfalls. Eigentlich jagen die doch immer im Rudel, oder? Warum haben sich die Biester dann aufgeteilt? Und warum haben sie nicht Spurlaut gegeben? Alle Hunde jaulen doch eigentlich so, wenn sie hinkeln - also jagen - ... die hier tun das nicht ... völlig klamm waren sie. Das war schon seltsam."

"Und wissen Sie, was ich bis heut' nicht peil', ist, dass die Dille doch auch an den Beißern vorbei musste. Warum sind die nicht auf sie los? Ich hab' sie zwar nicht mehr sehen können - niemand von uns hat sie noch mal gesehen - aber eigentlich kann es nur so gewesen sein, dass sie sich vorher in einem Kabuff verbunkert hat. In der ganzen Scheißpenne gab es aber so gut wie keine Winde mehr, die nicht kaputt war. Also, wo ist sie hin? Wie wir uns am Tag drauf in Slawutitsch wieder getroffen haben, Nikita und ich, da hat er mir erzählt, er hätte gedacht, er hätt' gehört, wie die Kleine irgendwas ruft, als sie vor ihm getürmt ist ... Namen oder so was ... Hundenamen vielleicht ..?"

"Und dann haben uns die Beißer durch diese verfallene Penne gehetzt ... ich weiß nicht, wie lange. Von den anderen hab' ich immer nur ihre Tritte gehört in den anderen Stockwerken, ihre Tritte und das Klackern von Krallen auf den Betonböden. Das hallte so ... und meine Tritte, und wie ich geschnauft hab' und mein Herz rast. Ich glaube, diese Beißer wollten uns gar nicht wirklich kriegen. Eigentlich waren die doch viel schneller als wir ... und wie haben sie es angestellt, dass wir nicht mehr aufeinander treffen? Ilya, Nikita und ich? Obwohl wir uns immer wieder hören können? Aber immer, wenn einer von den beiden auf mich zukam, oder ich selber ihnen entgegenlaufen wollte, steckte einer von den Beißern den Schädel ums Eck oder aus der nächsten Türöffnung und kam auf mich zugeschnürt. Nicht wirklich schnell, eher beiläufig ... aber so was von zielstrebig ... ich glaube, die wollten uns eigentlich gar nicht kriegen. Eigentlich wollten sie uns triezen."

"Du denkst immer, du hättest sie abgehängt, aber dann hörst du wieder das Klackern der Krallen, vor dir, hinter dir, immer irgendwoher, wo du es gar nicht erwartet hast. Und weil du so verzottelt bist und alles so seltsam hallt, kannst Du gar nicht genau sagen, wo es herkommt. Du hast eine Kugel in deine Zwille gelegt und zielst in die Richtung, aber auf ein Mal ist es ganz klamm. Duster ist es sowieso ... wird bald Nacht draußen ... über dir oder unter dir oder irgendwo weiter hinten im Gebäude kannst du die heimliche Jagd der anderen hören ... aber bei dir selber: völlige Stille. Der Griff der Zwille fühlt sich gut an in deiner Faust, fest und sicher, und du weißt, wenn so eine Stahlkugel trifft, dann macht sie ein schönes, rundes Loch. Aber was, wenn sie nicht trifft? Oder wenn sie trifft, aber den Beißer nicht wirklich aufhält? Wo steckt das Biest überhaupt? Warum kommt es denn nicht? Mein Arm wird allmählich lahm, und ich hab' ihn eben ganz abgesenkt, als so ein Bulle - von der Größe her würd' ich sagen, es war eine Dogge oder so was - aus einer Winde hinter mir tigert, wo ich es nie erwartet hätte. Kommt durch den Gang auf mich zu, knurrt mit hochgezogenen Lefzen. Sieht furchtbar aus ... Zwille voll durchziehen und loslassen - pang! Das ging irgendwo in die Chome - die Wand, mein' ich. Scheißescheißescheiße! Keine Zeit zu laden, nicht mal Zeit zu fluchen, nur weg! Und dann türmst du ums nächste Eck und fingerst dabei nach einer neuen Kugel, aber die Scheißtasche deiner Scheißplinte ist so scheißeng, dass dir die Kugel aus deiner verschwitzten Hand fällt und jetzt hast du nur noch drei davon."

"Irgendwann hab' ich einen Kabuff gefunden, wo ich mich verbunkern konnte. Die Winde war noch einigermaßen heil, und ich hab' sie mit dem nächsten Schreibtisch beknasst - also blockiert. Hat natürlich einen Mordskrawall gemacht ... Ich bin dann bis zum Morgengrauen da drin gesessen, gegen diesen Tisch gelehnt. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens, die längste sowieso ... die ganze Zeit dachte ich, dass jetzt gleich einer von den Beißern kommt - einer oder mehrere - und zu mir 'rein will, weil die mich natürlich riechen konnten. Ein Mal war es sogar so, und etwas Großes prallt von außen gegen die Winde, als ich gerade ein wenig eingeduselt war. Es hat das Pult ein ganzes Stück zur Seite geschoben, und mich dazu. Ich bin so dermaßen erschrocken und werf' mich mit voller Kraft rückwärts dagegen. Und dann war die Winde wieder zu, und was immer da draußen war, war fort ... gekommen ohne einen Laut und ohne einen Laut wieder weg. Mir ist fast das Herz geplatzt vor Angst. Und was ich gehört habe, oder gedacht hab', dass ich es höre, während ich drinnen im Stockdunkeln allein bin ... wie lange ging das so? Wo waren Nikita und Ilya? Haben sie auch einen Bunker gefunden? Sind sie vielleicht 'raus und ab? Oder sind sie schon Hundefutter? Und immer wieder, die ganze Nacht: Tritte draußen im Gang, leicht und klackernd, von den Beißern. Die sind quasi Patrouille gelaufen. Ich mach' jedes Mal fast in die Plinte vor Bammel und stemm' mich gegen meinen Tisch und denk' nur: schnappt einen von den anderen, schnappt ihn euch, zerreißt ihn, fresst ihn von mir aus auf, aber lasst mich in Ruhe ..."

"Was soll ich erzählen, wo nichts weiter passiert ist ...? Ist ja alles in meinem Kabbes passiert, mei'm Kopf. Ein paar Mal hab' ich gedacht, dass ich jetzt meschugge werd'. Ein Mal denk' ich sogar, die Dille ist da, bei mir im Kabuff, aber dass muss ich wohl geholmt haben ... obwohl ich schwören könnte, dass ich nicht eingepooft bin. Wie soll man poofen, wenn einem das Herz im Hals haut? Aber sie hat mir von früher erzählt, wie sie in Pripyat gelebt hat mit ihren Eltern. Von ihrer Penne hat sie mir erzählt, von ihren Freundinnen, und wie sie die Wimpel für die Maifeier gebastelt haben. Und dann konnt' ich sie sehen, sie mit einer Chawrusse, einer Freundin: zwei fröhlich grinsende Dillen, eine in roter, eine in gelber Kluft, hinter einem Meer von Rosen, auf einem sonnendurchfluteten Prospekt voller Sonntags-Tippler. Und da bin ich auf ein Mal wieder drei oder vier Jahre alt gewesen, in Pripyat. Ich hab' alles wieder gesehen und gespürt, wie es war, damals: das Leben eine sorglose Sache und die Zukunft voller Verheißung. Die warmen Steinplatten des Freibades unter meinen nackten Füßen, das tropfende Eishörnchen fest im Griff ... in der anderen Hand mein erstes Comic-Heft - 'Na warte!' mit 'zayats i volk' - Hase und Wolf ... und wie wir auf dem Fluss unsere Korkboote schwimmen gelassen haben, Ajka und ich, und wie er sich zu weit vorbeugt und ins Wasser fällt. Wie meine Mutter gelacht hat ... so unbeschwert, während ich noch ganz erschrocken bin ... alles war wieder da. Und da hab' ich, glaub' ich, verstanden, warum die Dille immer noch dort war, in Pripyat, immer noch dort ist: sie will das nicht verlieren, ihre Erinnerung an diese Zeit. Für sie ist Pripyat immer noch wie damals ... Und dann hab' ich diese Stimme gehört. Die kam aus einem kalten, weiß gekachelten Kabuff, der war voll von Männern mit weißen Kitteln ... sie tragen so komische Obermänner - also Mützen -, sehen aus wie Kantinenköche, und starren auf irgendwelche Anzeigen. Keine Bildschirme, richtige, alte Anzeigen mit 'ner Menge blinkender Chandeln, also Lämpchen ... Die Männer sind gespannt und haben Bammel, aber woher ich das weiß, weiß ich nicht ... und dann ruft die Stimme 'Notabschaltung', und das ganze Bild wackelt und platzt. Und das war's dann ... da bin ich wieder zu mir gekommen und hab', glaub' ich, geplärrt."

"Irgendwann später merk' ich, dass ich wieder was peilen konnte um mich 'rum. Draußen dämmert es, und ich hab schon lang' nichts mehr gehört von den Beißern. Ich war völlig steif, jeder Knochen hat mir geharmt. Trotzdem ... ich war so froh, noch am Leben zu sein und dass vor allem das Chandel wieder da ist, das Licht. Ich überleg' noch, wie ich jetzt da 'rauskommen soll, als ich bekneist hab', dass ich eben mal im zweiten Stock bin. Ich peil' so aus dem nächsten Fenster: da konnte man gut 'runterklettern, da stand ein Steber - ein Baum -, der stand direkt davor und streckte seine Zweige so durch die Fensteröffnung 'rein. Reicht mir quasi sein' Griffel in die Fremde, die Freiheit ... Klettern konnt' ich eigentlich immer schon gut, aber so kappores, wie ich war ... ich bin da fast nicht 'runter gekommen."

"Was soll ich sagen ...? Natürlich bin ich da 'runter gekommen und dann nix wie ab. Beißer hab' ich keine mehr gepeilt ... keine Beißer mehr, keine Chawerim, keine Dille oder sonst irgendjemand ... ich bin ab, das Stück durch den Knackert bis zu unseren Rollern, den Fahrrädern. Ilyas lag auf dem Boden, Nikitas war weg. Ich schnapp' mir meinen und bin im Höchsttempo heim. In Slawutitsch ... da hab' ich erst Mal nichts mehr wissen wollen von der ganzen Sache. Keiner Menschenseele hab' ich davon erzählt. Immer schön die Schnauze halten ... Die ersten paar Tage bin ich eigentlich nur daheim geblieben. Und als ich endlich wieder 'raus bin, geh' ich allen aus dem Weg ... aber irgendwann treff' ich dann doch Nikita wieder, und das erste, was er wissen will: ob ich weiß, wo Ilya steckt. Ich sag', dass ich keine Ahnung hab', und er meint, dass er ihn seit der Sache in Pripyat nicht mehr gesehen hat. Soweit ich weiß, hat ihn keiner mehr gesehen seit damals ... es hat allerdings auch keiner nach ihm gesucht. Er hatte ja nur noch seine Großeltern und die waren zu alt ... Und das war's dann auch. Eck vom Emmes - ich meine: Ende der Geschichte." Abrupt steht Pavel Z. auf und verlässt den Raum. Im Vorzimmer wartet schon sein nächster Klient: ein vollbärtiger ukrainischer Nationalist mit einer Swastika-Tätowierung am rechten Oberarm, halb unter dem tarnfarbenen Militärunterhemd verborgen.

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S E C H S T E R W E G

Mitleid, Verlegenheit, Wut - die Begegnung mit dem Mädchen lässt anscheinend niemanden unbeeindruckt. Sämtliche Augenzeugen haben den Eindruck, dass das Mädchen jemanden sucht: ihre Eltern, ihre Katze, ihre Schulkameraden. Und fast alle wollen ihr helfen. Auch der nächste Fall bestätigt dies. Oleksandra T. ist zweiundachtzig, eine von vielleicht drei-, vierhundert ständigen Bewohnern der Zone. Von den Behörden werden sie geduldet, diese so genannten "Samosely" - Rückkehrer -, zumeist alte Leute, die ihre Dörfer nach der Havarie nicht verlassen wollten oder doch wieder dorthin zurückgekommen sind, weil sie es woanders nicht ausgehalten haben. Sie überdauern, manchmal zu zweien oder dreien, oft auch ganz alleine, in den Ruinen ihrer verlassenen Ortschaften. Sie leben von ihrer Hände Arbeit, ohne Strom, ohne fließendes Wasser, ohne medizinische oder soziale Versorgung und oft auch ohne jeden Kontakt zur Außenwelt. Sie warten auf den Tod. Die Strahlung schreckt sie nicht.

"Wir sind Poleschuken - keine Ukrainer. Auch keine Polen, keine Weißrussen oder Russen. Ganz früher einmal waren wir litauisch, dann polnisch, dann russisch, dann wieder polnisch. Unser Land Polissja ist die Wiege des Slawentums. Von hier ist alles ausgegangen, hierher sind sie alle wieder zurückgekehrt. Als ich Kind war, da lebten hier Ruthenier, Wolhynier, Galizier, Bessarabier, Podolier, Taurier, Budschaken, auch Tschechen, Deutsche und natürlich jede Menge chassidischer Juden. Alle hatten sie ihre eigenen Dörfer und Schtetl. Mein Großvater hat im Weltkrieg für den Zaren gekämpft und während der Zweiten Republik die Pripyat-Sümpfe trockengelegt. Dann haben die Bolschewiki im Osten ihre Revolution gemacht haben. Sollten sie doch, haben wir gedacht. Wir haben uns sicher gefühlt in unseren Wäldern. Was gab es bei uns schon zu holen? Nur Sand, Moorwasser und Mücken. Wie die Roten gegen die Weißen gekämpft haben, da hatten wir Ruhe, und als Väterchen Stalin, der Vozhd, die Kulaken ausgehungert hat, hatten wir auch Ruhe.

Im letzten Krieg, da ist unser Land dann gleich dreimal heimgesucht worden. Zuerst haben die Roten alles zerstört, bevor sie abgehauen sind, hinter den Ural. Unsere Männer haben sie mitgenommen, auch meinen Vater. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Dann kamen die Deutschen und zuerst haben wir gejubelt. Wir haben unsere Dörfer wieder aufgebaut und gedacht, nun ruhig leben zu dürfen. Mein Onkel Timofej hat sogar für die Deutschen gekämpft, als Kosak, in einem Reiterregiment. Er ist in der Kalmücken-Steppe geblieben. Dann haben die Deutschen angefangen, die Juden wegzuschaffen, keine Ahnung, wohin. Die Juden konnten sie haben - denen hat keiner nachgeweint. Alles Wucherer und Halsabschneider ... aber bald darauf kamen die Deutschen auch zu uns und haben unser Vieh beschlagnahmt und fingen an, den Mädchen nachzustellen und unsere Männer festzunehmen. Als sie meinen Großvater Nikolaus erschossen haben, ist Artjom, mein anderer Onkel, in die Wälder gegangen, als Partisan. Er kam nie mehr heraus. Meine Mutter und meine Tante Kateryna sind nach Deutschland verschickt worden - Zwangsarbeit. Nur Kateryna ist zurückgekommen. Bevor die Deutschen dann abgezogen sind, haben sie wieder alles verbrannt, und wir saßen nackt auf den Schneehaufen, die ein Mal unsere Häuser gewesen waren. Und die Roten, als sie wieder hier waren, haben einfach behauptet, wir wären allesamt Faschisten und verdienten es nicht, in ihrem schönen, neuen Sowjetstaat zu leben. Sie haben uns in ihre Lager geschleppt, nach Perm und Magadan, mich, meine Schwester Tamara und meinen kleinen Bruder Volodymyr. Und als wir Mädchen zurückgekommen sind, nach fünfzehn Jahren, haben wir wieder alles aufbauen müssen. Volodymyr war zu schwach, wir haben ihn irgendwo in der Taiga begraben müssen, kein Mensch weiß mehr, wo das ist ... und jetzt bin ich hier und hier bleibe ich. Das hier ist Polissja, unser Land, unser Boden, dreifach getränkt mit unserem Blut, hundertfach getränkt mit unserem Schweiß und unseren Tränen. Hier liegen unsere Eltern und Großeltern, und wer sind wir, dass wir sie alleine zurücklassen dürfen?"

"Mehr als vierzig Jahre habe ich in der Sowchose geschuftet. Ich war Heldin der Arbeit - Schockarbeiterin. Da hinten hängen die Diplome. Vor sechzehn Jahren ist mein Alter gestorben, der war Traktorfahrer. Ist einfach nicht mehr aufgewacht; seitdem bin ich allein. Nur meine Kuh hab' ich noch und meine Katze, und die Tiere aus dem Wald, die mich besuchen kommen. Letztes Jahr war es eine Elchkuh mit ihrem Jungen, dieses Jahr eine Wolfsmutter. Mit ihnen kann ich reden. Sie verstehen mich. Sie wollen auch nicht fort von hier, egal, was die Wissenschaftler sagen. Die sind überhaupt an allem Schuld, die Wissenschaftler. Spielen mit dem Atom herum - wie Gott! Was glauben sie? Gar nichts ... sie glauben nicht, sie denken nur. "

"Manchmal sehe ich andere Menschen, aber nur selten. Dabei tut es so gut, ein anderes Gesicht zu sehen. Eine Ärztin kam, letzten Monat, und hat mich untersucht. Geld wollte sie keines. Sie sagt, ich gehöre ins Krankenhaus, weil mein Herz jeden Augenblick aussetzen kann. Wenn's nur endlich soweit wäre! Ich mag nicht mehr warten ... meine Kinder und Enkel sind seit dem Unfall in alle Winde zerstreut, in Kiew, in Minsk, in Moskau. Meine kleine Natalja hat es sogar bis in den Westen geschafft, nach Amerika. Die seh' ich nie wieder ... aber die Tiere sind treu. Sie bleiben oder kommen doch immer wieder. Ansonsten ist hier nur noch Gesindel unterwegs, Säufer, Zigeuner, Landstreicher, Schwarze aus dem Kaukasus ... die versteht kein Mensch. Mit denen will ich nichts zu tun haben."

"Wie ich das Mädchen gesehen habe, hab' ich zuerst auch gedacht, sie wär' eine von denen aus dem Kaukasus. Sie war so zerlumpt und dreckig. Stand hinter dem Gartenzaun und schaute einfach zu mir herein. Sah ganz ernst aus. Erst bin ich erschrocken, aber dann hab' ich gesehen, dass sie allein ist. Da bin ich zu ihr hinaus. Ich hab' sie angesprochen, und wie sie antwortet, da hör' ich, dass sie nicht von hier ist. 'Wo kommst Du her?' frag' ich, immer noch misstrauisch. Sie sagt, aus Pripyat, und dass sie dort auf ihre Eltern wartet. In Pripyat, wissen Sie, da haben ja fast nur Ausländer gelebt; die hatten alles und wir hatten nichts. Ich mochte die nicht. Die haben uns das eingebrockt. Hatten ein gutes Leben, mit ihrem Atom, und sind dann einfach abgehauen. Haben uns hier gelassen mit dem Atom. Bevor sie diese neue Stadt da gebaut haben, dieses Pripyat, da gab es an der Stelle eine schönes, altes Dorf, Semychody hieß das, 'Sieben Wege'. Das haben sie einfach umgepflügt. Die Familie meines Alten stammte von dort ... aber die Kleine, die konnte ja nichts dafür. So ein süßes Kind ... sah ein bisschen aus wie meine Natalja ... aber so dünn. Ich frag', ob sie Hunger hat. Natürlich hat sie Hunger. Da hab' ich ihr mein letztes Brot gegeben. Das war vor fast zehn Jahren."

"Während sie das Brot hinunter schlingt, frag' ich sie, was sie hier macht. Und sie sagt, sie suche ihre Katze. Verstehen Sie: Pripyat liegt fast zehn Werst weit weg, da sucht sie ihre Katze - hier! ... Die war bestimmt längst tot. Als sie die Leute 'rausgeschafft haben, mussten die Tiere ja alle dableiben. Später sind dann die Jäger gekommen und die von der Miliz und die Soldaten und haben alle umgebracht. Sie haben die Gänse gekeult und die Hühner und Anatoli, meinen Hund, den haben sie erschossen. Das war ein Guter. Nur meine Kuh haben sie mir gelassen ... und meine Katze, die hab' ich unter dem Küchenboden versteckt, im Vorratskeller. Die haben sie nicht gefunden. Und als dann alle fort waren, da haben die übrigen Hunde zuerst die Katzen aufgefressen und dann sich gegenseitig, und dann sind die Wölfe aus den Wäldern gekommen und haben die Hunde gefressen."

"Den Tieren darf man nicht böse sein. Sie wissen es nicht besser. Sie wollen nur leben. Ich weiß, wie Hunger schmerzt, auch wenn ich sonst nichts weiß. Aber auf meine Katze hab' ich aufgepasst. Meine Albina ... eines Tages war sie dann doch weg. Und wie ich schon um sie weinen wollte, da kommt sie zurück. So ein Glück! Und nach zwei Monaten wirft sie vier Junge. Da hab' ich dann doch noch geweint - vor Freude! Wie ich die Kleinen gehätschelt hab'! Eins davon war so schwach, das ist dann bald gestorben. Hat auch keine Augen gehabt, nur so Höhlen mit Haut drüber. Bestimmt wegen dem Atom. Die anderen waren normal. Zum Glück brauchten sie schon keine Milch mehr, als der Fuchs meine Albina geholt hat. Das war mitten im Sommer, wenn die Nächte weiß sind ... da wollen Katzen nachts nicht eingesperrt sein. Also ist sie draußen geblieben, obwohl ich gerufen habe, und der Fuchs hat sie geholt. Sie haben gekämpft und geschrieen ... furchtbar, der ganze Boden war voll von Blut und Haaren. Ich bin natürlich 'raus, mit dem Beil in der Hand, aber die alten Knochen wollten nicht so schnell. Da war es schon zu spät."

"Und da sitz' ich nun, mit drei kleinen Katzen, und hab' doch kaum genug für mich selbst. Aber aussetzen wollt' ich sie auch nicht. Hab' sie mit Kartoffeln gefüttert und mit Krähenfleisch. Und jetzt steht da dieses Mädchen und sucht ihre Katze, die bestimmt schon Wochen tot ist. Also hab' ich ihr eins von den Kätzchen gegeben, und sie drückt es an sich und flüstert in sein Ohr. Ist gleich ganz lieb gewesen. Und dann dreht sie sich um und geht. Einfach so. Ich ruf' ihr noch hinterher, wie ihre Katze denn jetzt heißen soll, und sie dreht sich um und ruft zurück: 'Aber das ist doch meine Katinka!' Dann ist sie weg, verschwunden im Wald."

"Seither hab' ich immer wieder mal gedacht, ich hätte die Kleine gesehen. Mal zwischen den Bäumen, beim Reisigsammeln. Mal auf der Straße, aber so weit weg, dass ich nicht sicher sein konnte. Meine Augen sind auch nicht mehr die besten ... aber seit zehn Jahren! Und sie ist immer noch so klein wie damals! Wenn ich rufe, antwortet sie nicht. Was soll das? Wer ist sie? Und warum geht sie nicht fort?" Zwei Monate nach diesem Interview wird Oleksandra T. tot in ihrem Haus in Tscheremoschna aufgefunden. Ihre beiden Katzen haben ihr Gesicht angefressen, doch auf dem Rest davon liegt ein Lächeln.

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Bis zu diesem Tag behaupten ganz verschiedene Menschen, das Mädchen in der Zone gesehen zu haben. Polizisten, Liquidatoren, Wissenschaftler, Plünderer, Vandalen, Touristen. Als Ende 1987 der Sarkophag fertig ist, der Reaktor Nr. 4 umschließt, werden die meisten Arbeiter und Soldaten abgezogen. In den Jahren nach dem Untergang der UdSSR gelangen immer weniger Besucher nach Pripyat. Die Sichtungen werden seltener. Eine besonders ergreifende Begegnung trägt sich 1998 zu, als eine ehemalige Bewohnerin der Stadt zum Jahrestag der Evakuierung an ihren alten Wohnort reist. "Meine Eltern liegen auf dem Stadtfriedhof von Pripyat", erzählt Agafja T., die dort das gleichnamige Cafe am Flussufer betrieben hat. "Ich durfte sie damals heimholen, obwohl wir ja eigentlich aus Schitomir stammen. Pripyat war jung - fast sechzehntausend Kinder - und der Friedhof dementsprechend leer. Da war es kein Problem. Immer zum neunten Mai durften wir nach dem Unfall die Gräber besuchen. Wir brachten Essen und Wodka mit, von draußen, und haben gebetet. Manchmal war auch ein Priester dabei. Wir setzten Blumen oder schnitten ein bisschen das Gras, auch wenn es eigentlich verboten war. Zu gefährlich. Da waren noch hunderte Millirem im Boden."

Agafja starrt ein Loch in die Luft. Ihre Hände umwinden einander. "An dem Tag bin ich etwas länger geblieben, weil ich noch den Grabzaun streichen wollte; der war schon ganz verrostet. Ich hatte Mennige dabei. Es war windig und kühl, und ich beeilte mich, klatsche die Farbe einfach so auf das Metall. Wie ich den Kopf hebe, sehe ich ein Stück hinter dem Zaun jemanden stehen. Zuerst bin ich erschrocken, weil ich niemanden gehört hatte. Außerdem war da irgendwas Unheimliches an dieser einsamen Gestalt vor dem düsteren Himmel, es war wie ... wie ... wie ein Sinnbild für die Zone, mit all' ihrem Zerfall und den traurigen Hinterlassenschaften. Dann sehe ich erst: es ist ein Mädchen. Nur ein Mädchen. Sie ist völlig verwahrlost, völlig zerlumpt, und ihre nackten Zehen schauen aus den Gummistiefeln heraus. Sie trägt ein dreckiges Bauernhemd mit Stickereien, viel zu groß natürlich. Ihre Haare wehten so im kalten Wind. Ich hatte gleich Mitleid. Erst dachte ich, sie wäre vielleicht bei einer anderen Gruppe dabei gewesen, dabei wusste ich doch, dass Kinder gar nicht in die Zone dürfen. Dann hab' ich gedacht, sie wär vielleicht eine von Rückkehrern aus den Provinzen, die sich in der Zone niedergelassen hatten."

"'Hast Du Tinka gesehen?" fragt sie mich. Sie hatte keinerlei Akzent; sprach einwandfreies Russisch. 'Wen?', frage ich. 'Meine Katze', sagt sie. 'Ich such' sie schon ganz lange.' 'Oje', sag ich nur - irgendwas in der Art. Ich hab mir in dem Moment nur gewünscht, dass sie ihre Katze bald wieder findet. 'Soll ich Dir suchen helfen?' Aber sie schaut jetzt auf das Grab. Dann sieht sie wieder mich an. "Sind das deine Eltern?", fragt sie, und als ich nicke, "ich wollte, meine wären auch hier." Da hat es mir richtig die Kehle zugeschnürt, und ich gehe um das Grab herum auf die Kleine zu und will sie in den Arm nehmen und ihr helfen, aber sie weicht vor mir zurück und sieht richtig panisch aus. 'Nicht anfassen!' ruft sie, 'Das ist doch alles giftig!' Und dann rennt sie weg und verschwindet zwischen den Bäumen, und ich bin ganz durcheinander und schaue ihr nur hinterher. Erst später ist mir dann eingefallen, dass sie vielleicht das Mädchen war, von der ich schon gehört hatte, die sich schon seit Jahren ganz allein in der Zone herumtreiben soll. Aber das waren ja nur Gerüchte. Ich halte nicht viel von Gerüchten, und als ich zurück bei meiner Gruppe war, hab' ich auch nichts davon erzählt, nicht mal dem Priester. Wir sind dann alle zusammen 'rausgefahren, und ich habe immer noch nichts gesagt, bis heute." Heute lebt Agafja T. bei ihrer Tochter in der Nähe von Kiew, wo sie eine Rente bezieht. Die Tochter selbst arbeitet als Stadtführerin für einen der kommerziellen Reiseveranstalter, die mittlerweile tausende Besucher nach Pripyat und Tschernobyl locken.

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Wie konnte das Mädchen all' die Zeit in der Zone überleben? Wie hat sie die brutalen ukrainischen Winter überstanden? Warum hat sie nie versucht, die Geisterstadt zu verlassen? Wieso fürchtete sie sich so vor Fremden? Und wie kann es sein, dass sie sich in all der Zeit äußerlich anscheinend kaum verändert hat? Hat es etwas mit der Strahlung zu tun? Ist sie selbst nie strahlenkrank geworden? Wenn nicht, warum?

Wir wissen heute, dass Radioaktivität auf verschiedene Organismen völlig unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Im Extremfall bringt sie den einen um und lässt den anderen gedeihen. Und das gilt nicht nur für Pflanzen und Tiere. Viele Kraftwerksangestellte und Brandbekämpfer zeigten schon kurz nach der Havarie schwere Symptome der Strahlenkrankheit, die meisten von ihnen starben bald darauf oder sind heute schwer krank. Es gab aber auch Fälle wie den des Ukrainers Pjotr P., der im Lenin-Kraftwerk als Handwerker beschäftigt war. Pjotr ist ein Bär von einem Mann. Während der Havarie hatte er eine gewaltige Dosis abbekommen, als er den verletzten Arbeiter Vladimir S. auf seinen Schultern aus der brennenden Turbinenhalle schleppte: 750 bis 800 REM, eine Menge, die als unbedingt tödlich gilt. Aber nicht nur, dass sich P. fast vollständig erholt hat, seine körperliche Kraft hat seither sogar zugenommen.

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S I E B T E R W E G

Unser letzter Zeuge ist ein Katastrophen-Tourist aus Deutschland. Claus G. hat im Sommer 2017 die "Geisterstadt" Pripyat besichtigt, weil er ein Faible für verlassene Ortschaften hat. Weniger wegen des Grusel-Effektes, behauptet er, sondern weil er sich an solchen Orten seiner Vergänglichkeit besser bewusst würde. Dies', sagt er, würde ihn Demut lehren.

"Es ist traurig. Das ist es vor allem anderen. Ich war schon in Ghost-Towns in Alaska und am Klondike; ich hab' in Australien und Südafrika verlassene Minensiedlungen besucht und kenne Bodie in Kalifornien ... das alles ist kein Vergleich zu Pripyat. Ein bisschen unheimlich ist es an allen diesen Orten. Unheimlich und auch irgendwie melancholisch. Soviel Vergangenheit ... da fragt man sich schon, was von einem selbst einmal bleiben wird. Aber eine derartige Traurigkeit wie in Pripyat habe ich sonst nirgends gespürt. Man merkt, dass da mehr untergegangen ist als nur eine Stadt. Tschernobyl - das war das Ende eines Imperiums und zugleich das Ende einer ganzen Epoche."

"Viele Menschen, die da gelebt haben, in Pripyat, sie sagen, sie wären dort so glücklich gewesen wie nie mehr seitdem. Sie sagen, es wäre eine schöne Stadt gewesen, eine Stadt der Rosen. Also ich, ich hätte nicht umsonst da wohnen wollen. Ich hab' meinen Teil an sozialistischen Plattenbauten gesehen, nach der Wende. Aber die meisten von denen, die heute so reden, waren damals Kinder, sind als Kinder gut verdienender Eltern in einer modernen, bestens versorgten sowjetischen Musterstadt aufgewachsen. Atomograd hießen die Dinger. Das gab es Restaurants, Cafes, Schulen, Kindergärten, Sportstätten, Bibliotheken, Kino, Disco, Theater ... und in den Geschäften: Brot, Milch, Obst und Gemüse ... fünfzehn Sorten Wurst! Gute Kleidung, Kosmetika, Elektronik - der reinste Luxus. Sie waren Kinder und Pripyat war ihr Zuhause. Sie sind dort durch die Wälder gestromert und haben im Fluss gebadet. Und am Horizont dampften die Meiler, die Quelle ihres Glücks."

"Und dann sieht man die Straßen und Häuser heute und versucht, sich vorzustellen, wie sie dort gelebt haben. Was haben sie gesagt, gedacht, gefühlt? Wo sind sie alle hin? Und warum ist nur die Traurigkeit geblieben? Und dann die kleinen Dinge, die man findet: es schnürt einem das Herz ab. In den Kindergärten und Schulen ist es am deprimierendsten. Pripyat war ja eine sehr junge Stadt - Durchschnittsalter sechsundzwanzig - und die Kinder hat es damals am schlimmsten erwischt. Ihre Schilddrüsen haben die Strahlung aufgesogen wie Schwämme. Puppen liegen da 'rum, Teddybären, Spielzeugautos ... und dann die Pulte in den Klassenräumen, mit den aufgeschlagenen Schulbüchern darauf - wo sind sie jetzt? Was machen sie? Leben sie noch?"

"Gleichzeitig ist es aber auch schön dort - auf eine verwunschene Art. Der Wald überwuchert die Stadt förmlich. Alles ist zugewachsen. Birken und Weiden sprengen den Asphalt. Und der Frost zersetzt die Häuser, jedes Jahr ein bisschen. In viele große Gebäude darf man jetzt schon nicht mehr 'rein. Das 'Energetik', das Hotel 'Polissya', das Cafe 'Pripyat' unten am Fluss - alles gesperrt. Einsturzgefahr. Das berühmte Riesenrad kann man nur noch vom Absperrgitter aus fotografieren. Noch mal dreißig Jahre, dann wird da nicht mehr viel zu fotografieren sein. Für mich hat das auch etwas Tröstliches: wir verschwinden vielleicht, aber das Leben geht auf jeden Fall weiter. Und zum Schluss wird sich die Natur alles wiederholen, was wir ihr weggenommen haben."

"Sehen Sie, für mich - ich glaube, für uns alle - hatte die Tschernobyl-Zone immer auch etwas Mythisches. Irgendwas zwischen Märchen und Horrorstory. Wir waren ja auch vorbelastet, durch diese ganzen Filme: Mad Max, The Day After, Die Klapperschlange - 'Nach dem großen Knall' und so ... ich kannte auch die entsprechenden Bücher. Pausewangs 'Wolke' zum Beispiel, 'Kinder von Scheewenborn': das haben wir sogar in der Schule gelesen. Aber am übelsten war Dithfurts 'Lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen'. Ich will jetzt nicht sagen, dass ich davon traumatisiert gewesen wäre, aber es hat einen schon beschäftigt. Diese ständige Bedrohung durch die Atomraketen, das war wie eine Glocke, die über einem hing, die über allem hing, wie ein Damoklesschwert. Vielleicht waren die Achtziger deshalb so dumpf."

"Aber irgendwie war die Welt von 1986 auch noch in Ordnung. So kommt's mir heute jedenfalls vor. Es war ein 'Gleichgewicht des Schreckens', das schon, aber immerhin ein Gleichgewicht. Heute ist alles irgendwie in Unwucht. Ganz bestimmt war damals nicht alles besser, aber jedenfalls war vieles bedeutend einfacher. Übersichtlicher. Wir hier im Westen: die Guten - die im Osten: Reagans 'Reich des Bösen'. Die Leute dort standen Schlange vor leeren Regalen und träumten von Bluejeans und Bananen. Arme Schweine, denen wir zu Weihnachten Fresspakete schickten. Terra incognita. Wie ein fremder Planet. Ich habe mal gelesen, dass Mitte der Achtziger russische Geologen irgendwo mitten in der Taiga auf eine Familie von Altgläubigen gestoßen sind, die vierzig Jahre lang völlig abgeschnitten von der Außenwelt gelebt haben. Deren Kinder hatten noch nie andere Menschen gesehen. Sie wussten nichts von Elektrizität, kannten keine Autos oder Flugzeuge. So was konnte es wirklich nur in Russland geben."

"Bei der Bundeswehr, zwei Jahre später, da haben sie uns noch mit dem bösen Iwan gedroht, der seine Speznas bis zu uns an den niederbayerischen Bunker schicken würde, im 'Ernstfall'. Dass die Russen seinerzeit schon ziemlich am Ende waren, haben wir natürlich nicht gewusst. Da hieß es nur: NATO-Truppen - soundsoviel, Warschauer Pakt-Truppen - soundsoviel mal drei. Dito Panzer. Dito Kampfflugzeuge. Dito Raketen. Und dann kam Gorbi und Perestroika und Glasnost und die Wiedervereinigung, und dann wurd's langsam chaotisch in der Welt. Bürgerkrieg in Jugoslawien, Völkermord in Ruanda, Somalia, die ersten islamistischen Anschläge, noch mehr Bürgerkriege, in Ländern, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte. Auch in den ehemaligen Sowjetrepubliken, im Kaukasus, in Turkmenien, Kirgisien, Usbekistan. Ja, und dann kam der elfte September, und seitdem geht's erst richtig rund. Kommt einem jedenfalls heute so vor."

"Ich war neunzehn, als der Reaktor explodierte, stand kurz vor dem Abitur. Das war natürlich ein Riesending damals - der GAU, mein' ich. Typisch Commies, haben wir gedacht, nicht nur die Havarie selbst, sondern auch der ganze Umgang damit. Verleugnen, Verschleiern, Runterspielen. Anscheinend hat es im Ostblock ja schon vorher ein paar schwere Unfälle gegeben. 1957 in Majak, in den Siebzigern in Belojarsk und Leningrad, 1982 auch in Tschernnobyl, als der Kern von Block eins teilweise geschmolzen ist. Und dann dieses hilflose Rumgewurstel - typisch eben. Was da wirklich geschah, dass sich die Leute teilweise geopfert haben, um auch uns hier im Westen vor Schlimmerem zu bewahren, das haben wir gar nicht mitbekommen. Bei uns würde so was jedenfalls nie passieren - dachten wir. Dabei lief es auch hier ziemlich chaotisch. Was darf man essen und trinken? Wie viel von was? Wo darf man sich aufhalten? Wo nicht? Wer? Wie lange? Schon allein die ganzen Fachbegriffe - Bequerel, Sievert, Curie, Gray, RAD, REM - da wusste doch kein Schwein, was das wirklich bedeutete."

"Ich kann mich noch erinnern, in der Nacht zum ersten Mai 1986, da hat es bei uns geregnet. In unserer Stadt gibt es eine Universität - nein, unsere Stadt IST eine Universität - und da gibt es Studentenverbindungen, die traditionsgemäß den Ersten Mai einsingen. Und traditionsgemäß kommen immer eine Menge Gegendemonstranten zusammen und pfeifen, trillern und johlen, damit man die reaktionären Gesänge der reaktionären Verbindungsstudenten nicht hören kann. Die Gegendemonstranten sind natürlich die Guten ... wehret den Anfängen und so ... wie auch immer, oft kam es dabei zu Raufereien und Ausschreitungen, und die Polizeiaufgebote wurden immer größer, um die verfassungsmäßigen Rechte der Farbentragenden zu schützen ... Wir waren jedenfalls damals in einem Alter, wo man sich so etwas nicht entgehen lässt, und wir trafen uns auf dem Marktplatz, wo ein trauriges Häuflein von Verbindungsstudenten mit ihren Fackeln inmitten eines Polizeikordons 'Der Mai ist gekommen' piepsten. Sehr reaktionär ... nur, dass man vor lauter Johlen und Pfeifen der vielen Antifaschisten gar nichts davon hören konnte. Und dann wurde es dunkel und es begann zu regnen. Und wir sind die halbe Nacht in diesem Frühlingsregen herumgetollt, der, wie wir hinterher erfuhren, den radioaktiven Fallout von Tschernobyl aus dem Himmel über Süddeutschland gewaschen hat."

"Das Jahr darauf, im Sommer '87, sind wir - zwei Kumpels und ich -, mit frischen Führerscheinen versehen nach Schweden gefahren. Eigentlich wollten wir bis Lappland, aber weiter als bis Dalarna sind wir nicht gekommen. Wir hatten die Strecke gründlich unterschätzt. Dort, in Dalarna, sind wir in den Bergen gewandert, haben auf dem Zeltboden geschlafen, Wasser aus Bächen getrunken, Beeren und gewilderte Fische gegessen ... und uns gewundert, dass wir kein einziges Rentier zu Gesicht bekamen. Überall fanden wir Losung, aber kein einziges lebendes Tier. Die waren natürlich alle im Jahr zuvor gekeult worden, weil eben gerade Mittelschweden mit die höchste Strahlungsdosis Westeuropas abbekommen hatte. Das schwedische Atomkraftwerk Forsmark liegt übrigens auf der Höhe von Dalarna an der uppländischen Küste - Forsmark, wo am 28. April morgens um neun Uhr ein automatischer Alarm in der Schleuse die Frühschicht am Betreten des Werks gehindert hatte. Die Arbeiter waren von draußen gekommen ... So hat eben jeder seine Ration Tschernobyl abbekommen, mehr oder weniger."

"Cäsium, lernten wir, lagert sich in der Milz ein, Strontium vor allem in Knochen. Schuhe heißen heute noch Straßenschuhe. Es gab Tabellen, welche Kinder von welchem Alter an sich wie lange auf welchen Flächen aufhalten durften. Überall Grenzwerte, meistens natürlich in mehrfacher Ausfertigung. Vergessen Sie nicht, das war die hohe Zeit der Anti-Atomkraft-Bewegung - was heute Terrorexperten sind, waren damals die Strahlenexperten. Auf einmal erfuhr man, wie groß die Gefahr auch des friedlichen Atoms war, wie lange sie währte. Zehntausende Jahre an Halbwertszeiten. In Bayern sind heute noch die Wildsauen verstrahlt. Und diese Dinger, diese Meiler, stehen überall um einen herum. Da hat man dann schon grün gewählt, klar."

Unbewusst steigert Claus G. seine Stimme. Die Bewegungen, die seine Rede begleiten, werden ausgreifender. "Legasov, der Mann, den Gorbatschow auf die Konferenz der Internationalen Atombehörde nach Wien geschickt hat, um Rede und Antwort zu stehen, wurde angeblich von Direktor Hans Blix gebeten, die Auswirkungen des GAUs nicht allzu drastisch zu formulieren, um nicht etwa das Wahlvolk im Westen noch mehr zu verunsichern. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber halten Sie's etwa für unmöglich? Gorbatschow selbst hat ja nach altbewährter Sowjetmanier erst Mal alles abgestritten, im Fernsehen. 'Es gab einen Unfall, Genossen. Kein Grund zur Beunruhigung. Die Leute dort leben und arbeiten.' Aber eigentlich sind wir im Westen damals genauso belogen worden wie die Menschen in der UdSSR, nur war das Lügengewebe bei uns feiner gestrickt."

Als der Zeuge gebeten wird, von seinem Besuch in Pripyat zu erzählen, schweift er sogleich wieder ab. "Wissen Sie, Tschernobyl - das war für mich immer nur das Kernkraftwerk gewesen. Dass es da noch eine Stadt mit demselben Namen gibt, hab' ich lange nicht gewusst, auch nicht, dass die verlassene Geisterstadt, die man immer auf den Bildern sah, Pripyat heißt. Wie der Fluss, der daran vorbeifließt, wie das Sumpfgebiet nördlich davon, das größte Europas. Von dem hatte ich allerdings schon mal gehört: im Zweiten Weltkrieg, nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, haben dort überrannte Einheiten der Roten Armee angeblich Militärmanöver abgehalten - im Rücken der Wehrmacht! Das nur, um eine Vorstellung zu bekommen, wie riesig diese Länder sind ... Also, von der Stadt Pripyat hab' ich, glaube ich, erst 2016 erfahren, als der neue Sarkophag fertig war - das 'New Safe Confinement'. Hat übrigens anderthalb Milliarden gekostet, das meiste davon aus der EU und das meiste davon - wer hätt's gedacht - aus Deutschland. Und in hundert Jahren müssen sie dann eine noch größere Schutzhülle um die zwei älteren bauen, dann wieder hundert Jahre später noch eine, und so weiter ... bis es das größte und teuerste Bauwerk der Galaxis geworden ist. Das dürfte dann so in ein-, zweihunderttausend Jahren sein."

"Auf ARTE gab's pünktlich zur Fertigstellung der neuen Hülle eine Dokumentation: 'Tschernobyl 3828'. Das ist, glaube ich, die Zahl der bisher offiziell anerkannten Todesopfer. Und da sah man diese Einstellung vom Flachdach des dritten Reaktors, wie die Liquidatoren dort aufräumen. Block drei und vier lagen ja zusammen an einer Turbinenhalle, und bei der Explosion von Nummer vier sind die Graphitbrocken und der ganze hochradioaktive Schutt aufs benachbarte Dach geschleudert worden. Vor dem Bau des ersten Sarkophages musste das Zeug natürlich dort weg. Zuerst hat man angeblich Roboter eingesetzt, denen sind aber die Schaltkreise durchgeschmort. Der Witz geht so: zuerst versagt der deutsche Roboter, dann der japanische. Dann wird der sowjetische Roboter hoch geschickt. Funktioniert einwandfrei. Nach zwei Stunden kommt über Funk die Meldung: 'Gefreiter Iwanowitsch, in einer Stunde können Sie 'runterkommen - Zigarettenpause.' Haha."

"Nein, im Ernst, die Strahlung dort war so hoch, dass die Männer maximal fünfundvierzig Sekunden oben bleiben durften. Im Film hatten sie Kopfhauben und Masken an, aber keine richtige Schutzkleidung. Dabei müssten die eigentlich Raumanzüge tragen. Stattdessen nur ihre olivgrünen Armeeklamotten und darüber Bleiwesten, Marke Eigenbau. Das wirkte alles ziemlich notdürftig - oder besser gesagt: hilflos -, sah aber irgendwie auch schaurig aus ... wie in einem besonders billigen Endzeit-Streifen. Der Liquidator verlässt also den Ausstieg auf dem Dach von Block drei, nimmt - ungelogen - ein, zwei Stückchen verstrahlten Schutt auf seine Schaufel und stolpert dann hastig über das von Trümmern übersäte Dach bis zum Rand, wo er die Ladung hinunterwirft. Er fängt also nicht am Dachrand an zu arbeiten, was irgendwie viel logischer gewesen wäre, nein, er fängt hinten an und legt dann die ganze Stolperstrecke mit beladener Schaufel zurück. Als ob's ihm vor Angst das Hirn blockiert hat. Eine lächerliche Menge hat er so geschafft, und dann musste auch schon der nächste 'raus. 'Das Atom mit der Schaufel bekämpfen' - ein Witz. Die haben die Leute einfach verheizt. Aber was hätten sie sonst tun sollen?"

"Und dann diese Kamera-Einstellung, dieser Blick vom Dach des Reaktors über die schwelende Ruine, diesen Krater, von dem keiner wusste, was darin geschah, nur, das das Schicksal von Millionen davon abhing ... und der Blick geht weiter, über die Baustelle, eine aufgewühlte Mondlandschaft mit den völlig unbeweglich, völlig nutzlos wirkenden Kränen, den Armeefahrzeugen, Raupen und LKW und den riesigen Häufen von Kies und Sand. Darüber kreisen unablässig schwere Transporthubschrauber. Und noch weiter hinten erstreckt sich die Zone unter einem steingrauen, niedrigen Herbsthimmel - diese kahle, fahlgrüne ukrainische Sumpfebene, von der man weiß, dass sie vollständig nuklear verseucht ist: das war gar nicht lächerlich. Das war Furcht einflößend - ein Anblick wie aus einem Alptraum. Man meinte, die Strahlung förmlich über den Bildschirm knistern zu hören ..."

"Bald darauf hab' ich 'Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft' gelesen. Lauter Augenzeugenberichte, aufgezeichnet von Swetlana Alexijewitsch. Die Dame hat übrigens 2015 den Nobelpreis für Literatur gewonnen, was ich nicht ganz fair finde, wenn man bedenkt, dass sie ihre Bücher eigentlich nicht selbst schreibt. Sie sucht die Zeugen - die Opfer -, und bringt sie zum Sprechen. Schenkt ihnen die Anerkennung des Lesers. Gibt ihnen sozusagen einen Teil ihrer Würde zurück. Vielleicht ist das ja schon einen Nobelpreis wert."

"Das erste Buch über den GAU hab' ich allerdings schon dreiundneunzig gelesen, in Kanada, in einer Blockhütte am Mackenzie-River. Ich nehme an, dass es schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte, weil darin noch nicht klar war, warum der Reaktor überhaupt in die Luft geflogen ist. Als Schlussfolgerung las man, die Operatoren hätten wohl an den Kontrollstäben herumgespielt ... war ja auch nicht ganz falsch. Heute kenne ich Leatherbarrows 'Chernobyl - 01:23:40', Reads 'Ablaze' und Moulds 'Chernobyl - The Real Story'. Das sind alles Dokumentationen. 'Alles Stehende verdampft' ist ein Roman, geschrieben von Darragh McKeon, einem Iren. Wunderbare Sätze. Allerdings hat er auch ganz schön bei Swetlana abgeschrieben, teilweise wörtlich. Man muss das entschuldigen; die Realität ist immer noch die beste Fiktion."

"Und er ist ja auch nicht der Einzige, der sich da bedient hat. Man kommt einfach nicht um Swetlanas 'Chronik' herum, wenn man sich mit dem Thema Tschernobyl befasst. Da gibt es einen Kurzfilm, 'The Door', wo der Vater die Haustüre aus seiner alten Wohnung in Pripyat klaut, um dann seine Tochter darauf zu Grab zu tragen. Auch aus Swetlanas Buch. Da gibt es den Film 'Verwundete Erde' mit Olga Kurylenko in der Hauptrolle. Ein Meisterwerk. Darin finden wir die Frau wieder, deren Mann an der Strahlenkrankheit stirbt, nachdem er den Reaktorbrand bekämpft hat. Die Jungs von der Feuerwehr, die als erste am Unfallort eintrafen, sind ja teilweise in Hemdsärmeln herumgelaufen und haben die glühenden Graphitbrocken mit den Füßen beiseite geschoben. Auf dem Dach der brennenden Turbinenhalle blieben sie im geschmolzenen Teer hängen. Teer - auf einem Reaktordach!"

Wiederum äußern wir die Bitte, doch zu berichten, was der Zeuge in der Zone erlebt hat. Unbeeindruckt schwadroniert Claus G. weiter. "Na ja, zunächst hatte es sich ja so angehört, als wäre die Gegend um das Kraftwerk für immer unbewohnbar, eine atomare Wüste. Ob unsere Presse da nicht vielleicht ein bisschen übertrieben hat? Aus der Tschernobyl-Zone sind bald auch ganz andere Nachrichten gekommen. Natürlich hat man zuerst die Horrormeldungen von mutierten Pflanzen und Tieren gelesen - gigantische Regenwürmer, riesige Ratten und so. Ferkel ohne Augen, Fohlen mit acht Beinen. Ich hab' sogar mal Fotos gesehen von deformierten Blättern und Nadeln. Das war's dann aber auch schon. Irgendwann wurde klar, dass die Zone von Wildtieren nur so strotzt: Elche, Wölfe, Bären, Wisente, Wildpferde, Luchse, Otter, Biber - alles da, oder wieder da, und zwar einfach nur, weil die Menschen nicht mehr da sind. Angeblich haben sogar direkt am alten Sarkophag die Schwalben gebrütet, obwohl das Ding alles andere als dicht war. Vielleicht kann sich die Natur besser anpassen, als wir denken."

"Atomenergie - Radioaktivität - bei vielen Menschen fällt da sofort der Vorhang. Seltsam, wenn man bedenkt, dass die Sonne nichts anderes ist als ein gigantisches Kernkraftwerk. Ohne Sonnenstrahlung keine Wärme, kein Licht. Ohne Wärme und Licht keine Photosynthese, kein Leben auf der Erde. Natürliche Strahlung ist überall, im Boden, in der Luft, im Wasser. Wir absorbieren sie, transmittieren oder reflektieren sie. Dabei kommt es, wie so oft, auf Art und Menge an. Im Grunde gehört ja Radioaktivität - und zwar auch ionisierende - zu den natürlichen Mutagenen, ohne die es keine Evolution geben würde. Ich will jetzt nicht behaupten, dass das, was in Tschernobyl passiert ist, irgendwie natürlich oder gar nützlich gewesen sein soll, nur, dass wir über die Langzeitfolgen von Radioaktivität auf Flora und Fauna viel zu wenig wissen, um den Mund allzu voll zu nehmen. Und was die Menschen betrifft, sind wir kaum schlauer."

In der Folge erteilt uns Claus G. eine Lektion in Strahlenphysik. Man merkt, dass er erworbenes Wissen gern an den Mann bringt. Wir fügen uns dem Unvermeidlichen. "Es ist doch so: instabile Elemente wie Uranium zerfallen und geben dabei Alphateilchen, Elektronen oder Neutronen ab. Alphastrahlung ist sehr gefährlich, wird aber schon durch Glas oder Papier aufgehalten. Betastrahlung dringt nur wenige Millimeter in die Haut ein und kann Verbrennung auslösen, wie Sonnenbrand. Gammastrahlung lässt sich nur durch dicke Betonwände oder Bleischichten abhalten. Am gefährlichsten ist aber die Neutronenstrahlung. Sie durchdringt so ziemlich alles und ionisiert andere Atome, das heißt, sie schlägt Elektronen aus deren Hülle, wodurch sich ihre physikalischen Eigenschaften ändern. Gleichzeitig wird Energie frei. In einem Kernreaktor treffen Neutronenteilchen auf weitere instabile Atome und der Zerfall nimmt zu. Eine Kettenreaktion kommt in Gang. Die Energie der aufgesprengten atomaren Bindungen nutzt man zur Verdampfung von Wasser. Der Dampf treibt dann Turbinen an, die wiederum Strom erzeugen. In Tschernobyl geriet diese Kettenreaktion außer Kontrolle, einerseits wegen Bedienungsfehlern des Personals, andererseits aber auch aufgrund von Konstruktionsmängeln des Reaktors selber. Die erste Explosion war thermisch, als übergroßer Dampfdruck den Block aufgesprengt hat. Die zweite Explosion war thermonuklear, als die mehrere tausend Grad heißen Brennelemente des Reaktors mit dem Sauerstoff von außen reagierten."

"Wenn ich es recht verstanden habe, wirken ionisierende Strahlen auf den menschlichen Körper wie kleine Geschosse. Auf atomarer Ebene besteht ein Mensch ja zu neunzig Prozent aus leerem Raum. Die meisten Strahlen gehen also einfach durch uns hindurch. Das ist auch der Grund, warum die so genannte Hintergrundstrahlung, der wir ständig ausgesetzt sind, so wenig Schaden anrichtet. Röntgenuntersuchungen oder Flugreisen in großer Höhe sind aber schon ein Risiko. Zuviel Sonne auch, wie man am Hautkrebs sieht. Denn wenn größere Mengen ionisierender Strahlen auf einen Körper treffen, kann es zu Zellschäden kommen. Wenn sich die physikalischen Eigenschaften von Atomen ändern, ändern sich auch die daraus bestehenden Moleküle - Eiweißmoleküle etwa, auf denen unser gesamter Stoffwechsel beruht. Unser Körper lebt ja im Grunde genommen nur durch die chemischen Reaktionen, die im Inneren seiner Zellen ablaufen. Wo die Physik aber nicht mehr stimmt, kann die Chemie nicht funktionieren, und dann ist die Biologie ganz schnell am Ende."

"Je größer und dichter ein Molekül, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es durch Strahlenteilchen getroffen wird. Defekte, die im üblichen Rahmen liegen, kann die Zelle selbst beheben. Eine Vielzahl von Schädigungen in kurzer Zeit überfordert diese Reparaturmechanismen jedoch. Die größten Moleküle im menschlichen Körper entstehen bei der Zellteilung, wenn sich die Erbinformation, die DNA, zu großen Klumpen, den Chromosomen, zusammenballt. Darum sind Zellen, die sich häufig teilen, von radioaktiver Strahlung am stärksten betroffen. Hautzellen, Blutzellen und Keimzellen - also Spermien und Eizellen - gehören dazu, Embryonen sowieso. Auch unsere Magen- und Darmgewebe erneuert sich laufend. Wenn diese Zellarten, die so genannten Stammzellen, im großen Umfang durch Radioaktivität geschädigt werden, kommt es zur so genannten Strahlenkrankheit: Kopfschmerzen, Schwäche, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall sind erste Symptome. Je nach Strahlenart und -menge schwillt die Haut auf oder zeigt Anzeichen von Verbrennung. Haarausfall ist so typisch. Bei vielen Verstrahlten kommt es nach ein, zwei Tagen zu einer vorübergehenden Besserung - der 'Walking-Ghost-Phase'. Die dauert bis zu zehn Tage. Genauso lange dauert die Neubildung von Blutplättchen im Knochenmark. Verstrahltes Knochenmark kann aber nichts mehr neu bilden, auch keine roten und weißen Blutkörperchen mehr. Also versagt die Immunabwehr, und alle möglichen Krankheiten befallen den Patienten. Zum Ende hin löst sich ein stark verstrahlter Körper langsam auf. Er zerfällt - wie die Atome in ihm. Ein solcher Tod ist wohl das Schlimmste, was man sich vorstellen kann."

"Zu den Langzeitschäden zählen Veränderungen an der Erbinformation, die man allgemein als Mutation bezeichnet. Die meisten Mutationen haben zur Folge, dass ein Embryo abgestoßen wird, bevor er im Mutterleib heranreift. Das scheint gnädig, wenn man die Folge von Mutationen bei ausgetragenen Lebewesen sieht. Da gibt es alle vorstellbaren - und auch ein paar unvorstellbare - geistige und körperliche Behinderungen. Grauenhafte Fehlwüchse, Tumore - ich will hier nicht weitermachen ... Sehen Sie sich die Bilder aus Weißrussland und der Ukraine an, wenn Sie daran interessiert sind. Lesen sie die Berichte. Und diese Erbschäden werden meist rezessiv, das heißt verdeckt weitergegeben, was bedeutet, dass offensichtlich gesunde Erwachsene trotzdem kranke Kinder bekommen können, und zwar über viele, viele Generationen hinweg."

"Nun gibt es aber auch durchaus vorteilhafte Mutationen - auf ihnen beruht ja letztlich die gesamte Evolution. Ob sich eine Mutation positiv oder negativ auswirkt, entscheidet allein die Umwelt, in der sie sich bewähren muss. Ein Maß dafür ist Fitness, die Zahl fortpflanzungsfähiger Nachkommen. In der Tschernobyl-Zone wurden viele Mutationen nachgewiesen, an Pflanzen, Tieren und Menschen. Bäume, die ihre Farbe gewechselt haben - der so genannte 'Rote Wald' direkt beim Reaktor. Aber sogar darin leben und vermehren sich Mäuse und Wiesel anscheinend ganz normal. Sagen die einen Wissenschaftler. Andere behaupten, dass die Gehirne vieler Tiere in der Zone deutlich kleiner wären als in Vergleichsgebieten und dass häufig Missbildungen auftreten würden. Aber wie will man beweisen, dass diese Veränderungen direkt mit dem Unfall zusammenhängen? Letztlich ist es wohl Glaubenssache."

"Ich bin kein Befürworter der Atomkraft, ganz bestimmt nicht. Ich halt's zumindest für grob fahrlässig, billige Energie zu konsumieren und den Preis dafür kommenden Generationen zahlen zu lassen. Eigentlich ist's ein Verbrechen, weil man mit der Gesundheit von Millionen spielt. Und dann die Kosten, für Rückbau, Transport, Zwischenlagerung, Endlagerung. Milliarden über Milliarden. Und wenn dann wirklich was passiert, wie in Tschernobyl ... das hat die Sowjetunion geschätzt 200 Milliarden Dollar gekostet. Und das letzte Vertrauen ihrer Bewohner. Über zweitausend Ortschaften waren betroffen, zwischen fünf und sieben Millionen Menschen. Meiner Meinung nach war Tschernobyl der Hauptgrund für den Zerfall der UdSSR, viel mehr noch als der Krieg in Afghanistan, die Misswirtschaft, Korruption, Alkoholismus, diese ganze Paranoia und Überheblichkeit zusammen."

"In Sowjetrussland kam natürlich noch die Ideologie dazu. Als die Kraftwerks-Techniker kurz nach dem Unfall endlich eine Notfall-Anleitung gefunden hatten, war da anscheinend alles zensiert. Seite um Seite geschwärzt. Und bis zum Abend des sechsundzwanzigsten haben die Kraftwerksbetreiber nach Moskau gemeldet, der Reaktorkern sei noch intakt und müsse lediglich gekühlt werden. Dabei hätten sie nur aus dem Fenster schauen müssen, um den Krater zu sehen. Aber so was durfte einfach nicht passieren, nicht im Arbeiter- und Bauern-Paradies. Und was sollte der Klassenfeind im Westen denken? Also wurde erst mal alles verheimlicht und Pripyat wurde nicht evakuiert."

"Die Überheblichkeit ist allerdings international, damals wie heute. Überheblichkeit und Ignoranz - eine brandgefährliche Mischung. Immer dieselben Sprüche: Wir haben die Technik im Griff ... die Titanic ist unsinkbar, die Maginot-Linie unüberwindbar. Von der Hindenburg bis Harrisburg: kann gar nichts passieren, alles völlig sicher, nach 'menschlichem Ermessen', wie es so schön heißt. Bis dann eben doch etwas passiert. Dann ist das Staunen groß, und keiner will's gewesen sein. Dann heißt's jedes Mal, das hätte man so ja nicht voraussehen können. Mag ja schon sein, aber vielleicht hätte man mal voraussehen können, dass immer etwas passieren kann, was man nicht voraussehen kann. Murphys Law, wenn Sie wissen, was ich meine ... und was die Atomkraft angeht, da reicht halt eine neunzigprozentige Sicherheit nicht aus, und auch keine neunundneunzigprozentige. Da darf einfach gar nichts passieren. Wie gesagt, bei uns im Westen waren die Sprüche genauso vollmundig und die Lügen kaum weniger dreist. Einmal in zehn Millionen Jahre könne ein Super-GAU in einem deutschen Reaktor vorkommen - das war - und ist - so ein typischer Spruch der hiesigen Atomkraft-Lobby. Auf statistischer Grundlage berechnet. Wie soll man das berechnen können, statistisch, wo es das Wissen über Radioaktivität erst seit hundert Jahren gibt und die zivile Nutzung der Atomkraft keine siebzig Jahre alt ist? Ja, und dann kam Fukushima ..."

"Im Bezirk Gomel - das liegt nordöstlich von Tschernobyl und hat einen Großteil der ersten Strahlung abbekommen - da ist die Rate von Schilddrüsenkrebs heute angeblich Zehntausendmahl höher als vor sechsundachtzig. Natürlich sind es vor allem Kinder, die das trifft. So viele junge Menschen mit diesem typischen Schnitt am Hals wie da sieht man sonst nirgends. Aber die Folgen für die Psyche fand' ich noch verheerender. Wenn man in der Gegend um die Zone unterwegs ist, fällt einem zuerst diese depressive Grundstimmung auf. Und das ist keine Einbildung. Das sagt jeder, der von außen kommt. Niemand dort trägt Schmuck oder bunte Kleider, nirgendwo sieht man Blumen in den Fenstern. Selten, dass mal jemand lacht. Alles ist grau in grau, und alle sind so ernst. Die meisten Jungen sind fort und die Alten sind schwach oder krank oder beides und brauchen anscheinend ihre ganze Kraft, um mit den Folgen der Havarie klarzukommen. Hinter jeder Krankheit, jeder Erkältung steckt Tschernobyl. Radiophobie - die Angst vor der Verstrahlung beherrscht die Menschen dort. Sie sehen sich als Opfer einer Katastrophe, die noch zwanzigtausend Jahre andauern wird. Das ist die Halbwertszeit von Plutonium. Das ist die 'Chronik der Zukunft'. Kein Wunder, dass Weißrussland die letzte Diktatur Europas ist, das letzte europäischen Land, in dem noch die Todesstrafe vollstreckt wird."

Wann hat der Zeuge zum ersten Mal von dem Mädchen gehört? Claus G. reagiert mit einer nachdenklichen Pause. "Erst auf der Fahrt in die Zone. Da war ich todmüde, nach einer ziemlich üblen Kakerlaken-Nacht in einem noch übleren Kiewer Kakerlaken-Hotel und noch einem Tag in den Bussen und Bahnen des Wilden Ostens. Schon die ganze Anreise war eine einzige Quälerei ... lesen Sie's in meinem Blog nach, wenn Sie's interessiert. Da hab' ich alles 'reingestellt, die Fotos auch. Wegen der Angst vor russischen Separatisten ist unsere Maschine quasi im Sturzflug in Gostomol gelandet ... ich hab' schon gedacht: das war's, jetzt erwischt's dich ..."

"Am Tag darauf im Bus, kurz vor dem Dreißig-Kilometer-Checkpoint, hör' ich dann die zwei Passagiere vor mir, ein englisches Pärchen, von dem Mädchen reden. Das heißt, sie reden wohl schon eine ganze Weile davon, aber erst jetzt versteh' ich ihren Slang. Statt 'I don't know' sagen sie 'I deny' - das soll einer kapieren ... Die Frau tut jedenfalls ziemlich geheimnisvoll. 'This Girl', zischt sie immer wieder im Verschwörerton, 'how 'bout we see'er?' 'What girl?' misch' ich mich von hinten ein, ungefragt. 'What f.. girl', hätt' ich am liebsten gesagt. Die hatten wohl gedacht, ich würde schlafen. Sind auf jeden Fall ganz schön erschrocken."

"Eigentlich war's mir ja egal. Mir hätt's gelangt, sie wären endlich still gewesen und ich hätte vielleicht wirklich noch ein bisschen schlafen können. Dreißig Kilometer auf ukrainischen Straßen können ganz schön lang sein ... ich hatte Kopfschmerzen; kam mir vor, als wenn ich gesoffen hätte. Oder war das schon ein erstes Symptom der Strahlung? Quatsch! sag ich mir. Jetzt dreh' bloß nicht durch ... Der ganze Bus ist voll mit schnatternden, jungen, taufrisch wirkenden Travellern. Weihnachten auf den Malediven, Fasching in Rio, Mittsommer bei Stonehenge - und dazwischen noch ein kleiner Ausflug nach Tschernobyl. Schlafen tun sie anscheinend in einem anderen Leben. Wie mir dieses Globetrottervolk damals auf den Geist gefallen ist! Lauter Effekthascher, hab' ich mir gesagt. Suchen den billigen Grusel-Event. Bei mir war das natürlich was anderes! Ich hatte schließlich eine Mission ..."

"Und dann hat's sie's mir erzählt. Komisch, weil, ich dachte ja, ich wüsste inzwischen alles Wissenswerte von der Zone. Aber das war mir neu. Erst hat sie so ein bisschen 'rumgedruckst, aber ich sag' einfach: kein Problem, frag' ich halt jemanden anderen hier im Bus - Sergej, unseren Reiseleiter oder den Fahrer, genau, ich frag' einfach den Fahrer! Da hat sie zugegeben, sie hätten Bekannte in London, Balten - Letten, Litauer? - die wären vor einem Jahr am Reaktor gewesen, als Gastarbeiter für den 'New Safe Confinement'. Die hätten fast ein Jahr in der Gegend gelebt, und dabei hätten sie von dem Mädchen erfahren. Geschichten halt. Nicht nur von Einheimischen, von ganz verschiedenen Leuten. Und dann hätten sie sie angeblich auch noch selbst gesehen. Sie erzählen das über Skype ihren Bekannten in London, und die sind wohl ein bisschen morbide gepolt und googeln ein bisschen - schon prima, wenn man Kyrillisch kann - und da sind sie dann tatsächlich auf ein paar entsprechende Einträge gestoßen - im Darknet vor allem, aber auch auf 'pripyat.com'. Auf Youtube gibt es sogar ein Photo ... Sie wissen schon, so im Stil von 'The 25 Most Haunting Pictures from Chernobyl'. Da soll angeblich einer das Mädchen fotografiert haben, aber das Bild - ich hab' inzwischen selbst nachgesehen - ist so was von gefaked ... gut, dass ich das damals nicht zu Gesicht bekommen habe, sonst hätt' mich einfach im Bus umgesetzt und tatsächlich geschlafen oder zumindest gedöst und Mädchen Mädchen sein lassen."

"Ich wär' schön bei meiner Gruppe geblieben, hätt' mich nicht in Priypat verlaufen, und das alles wäre nicht passiert. Wir würden nicht hier sitzen, und Sie müssten nachher nicht entscheiden, ob Sie mir das alles glauben wollen oder nicht. Da bin ich nämlich jetzt schon gespannt ... jedenfalls: nach der Zehn-Kilometer-Zone sind wir bald am Ortseingang von Pripyat angekommen. Wir kommen zu diesem Riesen-Ortsschild an der 'Straße der Enthusiasten', dieses Monument mit dem Stadtnamen und der Jahreszahl 1970 darunter, das Jahr, in dem die Stadt gegründet worden ist. Das Kraftwerk hatten wir schon vorher passiert. Viel gibt's da nicht mehr zu sehen; der letzte Reaktor ist ja seit 2000 stillgelegt. Wir würden auf der Rückfahrt noch mal hier halten und die neue Hülle gebührend bewundern ... das größte bewegliche Bauwerk der Menschheitsgeschichte. Die haben extra Schienen verlegt, um es über den alten Sarkophag zu schieben. An Ort und Stelle hat man das natürlich nicht zusammenbauen können. Dann ging's für uns durch den 'Roten Wald' und über die 'Todesbrücke', von wo aus die Bewohner von Pripyat damals den Brand besichtigt haben - ausgerechnet im Bereich der höchsten Strahlung. Keine hatte sie gewarnt ..."

"Langsam rollt der Bus in Pripyat ein, aber von irgendwelchen Gebäuden ist erst Mal nichts zu sehen. Nur grün, grün ... vielleicht hätt' ich doch Winter herkommen sollen ...? Zwischen die Baumwände links und rechts schieben sich dann allmählich graue Betonbrocken: die ersten Wohnblocks. Sie sind gewaltig. Wir halten da, wo die 'Entuaziastiv' auf die Lenin-Allee trifft, auf dem Seitenstreifen, und erhalten letzte Instruktionen: unbedingt bei der Gruppe bleiben, Handschuhe und Staubmasken tragen, nicht von der Straße abweichen, bei der Gruppe bleiben, den Anweisungen des Tourenleiters folgen, nichts anfassen, nichts mitnehmen, nicht essen, nicht rauchen, bei der Gruppe bleiben ... alles klar. Können wir jetzt bitte los? Sergej ist ein junger Kerl, fast so breit wie hoch ... so der Typ Türsteher, aber eigentlich ganz nett, obwohl er uns auf der Fahrt ständig Tschernobyl-Devotionalien andrehen wollte. Original Liquidatoren-Abzeichen oder T-Shirts, auf denen stand 'Stop Staring at My Glowing Body, I Was on Radiation Tour'."

"Wie wir aussteigen, hab' ich mich gleich gewundert: he, wir sind hier im Sommer im ukrainischen Tiefland und es gibt keine Moskitos! Ich hasse die Biester, hab' schon schlimme Bedenken gehabt ... die können einem eine ganze Reise vergällen ... war aber nichts. Ich meine: gar nichts! Also wenn das so ist, sollte man vielleicht die ganze Subarktis ein bisschen ionisieren, dann hätte man Ruhe vor der Pest ... Sergejs Englisch ist schauderhaft, aber seine Anweisungen unmissverständlich: alle laufen im Gänsemarsch hinter ihm her, keiner weicht von der vorgegebenen Route ab, sonst ist die Tour zu Ende ... für zwar für alle! Wem Sergejs hünenhafte Gestalt noch keinen Respekt einflößt, dem gibt die Aussicht auf den Zorn der ganzen Gruppe dann doch zu denken. Schließlich hat hier jeder umgerechnet 350 Euro bezahlt, um ein paar Stunden Geisterstadt zu erleben. Und dann gehen wir los."

"Als nächstes wundere ich mich, dass überhaupt keine alten Fahrzeuge zu sehen sind - also Autowracks, wie sie damals überall in der Ex-DDR 'rum gestanden sind. Die Bewohner von Pripyat waren doch privilegiert, die müssen doch PKW gehabt haben? Aber nichts zu sehen, bis auf ein paar Kinderfahrräder, beziehungsweise die Reste davon. Später hab' ich gehört, dass die Autos alle hochgradig verstrahlt waren und in Betongruben verbuddelt wurden. Die Gebäude in Pripyat sind allesamt im Siebziger-Jahre-Brutalismus gehalten: nur Glas und Stahl und Sichtbeton. Das meiste Glas ist zerschlagen, und wenn ich ein Geräusch mit Pripyat verbinde, dann ist es das ständige Knirschen von Glasscherben unter den Sohlen, ganz gleich, ob in den Gebäuden oder außerhalb. Der Stahl ist stark korrodiert - das macht die Strahlung - und der Beton bröckelig, vom Klima. Was noch an Putz drauf ist, zerbröselt, und die Farben sind abgeblättert. Das aufgeregte Geschnatter der Fahrt ist schnell verstummt. Es ist unglaublich. So müssen sich die Konquistadoren im Dschungel von Yucatan vorgekommen sein, als sie die Ruinen verlassener Maya-Städte entdeckt haben. Aber das hier ist anders ... wie schon gesagt: desolater, trauriger. Denn es ist unsere eigene Welt, die da untergegangen ist. So werden die Städte, in denen wir heute wohnen, auch einmal aussehen. Mit nur ein wenig Vorstellungskraft kommt man sich vor wie der Letzte Mensch auf Erden, Überlebender einer weltweiten Epidemie - oder eben eines Atomkrieges."

"Wir wandern auf der Lenin-Allee geradewegs bis zum Stadtzentrum. Die Ausgelassenheit ist verschwunden. Alle sprechen jetzt gedämpft, mit Ehrfurcht in der Stimme. Wenn wir stehen bleiben, hört man als einziges Geräusch das leise Knacken von Sergejs Dosimeter. Immer wieder hält er es an den Boden und misst die Strahlung, mal sind es 0,2 Mikrosievert, mal das Doppelte. Der höchste Wert, den ich mitbekommen habe, waren etwas über 100 Mikrosievert pro Stunde. Anscheinend sammelt sich die Radioaktivität an bestimmten Stellen, Pockets genannt. 100 Mikrosievert - das ist nicht übermäßig viel. Bei einem Interkontinentalflug von Frankfurt nach New York bekommt man ungefähr dasselbe ab. Es gibt aber Stellen in Pripyat - beim Sanatorium zum Beispiel, ganz im Osten - da wurden schon mehr als 500 Mikrosievert gemessen. Das ist dann schon kein Spaß mehr."

"Im Zentrum fällt einem sofort die Prometheus-Statue ins Auge. Die stand ja ursprünglich vor dem gleichnamigen Kino und ist nach der Havarie hierher umgesetzt worden. Prometheus, der Titan, entreißt den Göttern das Feuer und schenkt es den Menschen. Hätte er vielleicht besser mal bleiben lassen sollen ... Alle knipsen und knipsen. Ich auch. Mit dem Tele kann ich ganz nahe an die gesperrten Gebäude heran gehen: den Kulturpalast 'Energetik' und das Hotel 'Polissya', zwei Riesenklötze, einer so lang wie der andere hoch. Von einem offenen Platz in dem Sinn kann man allerdings nicht mehr sprechen. Statt Asphaltfläche mit Grünstreifen sieht man eher Grünfläche mit Asphaltstreifen. Birken, Weiden und Pappeln haben auch hier schon das Sagen. Die Gruppe ist inzwischen schon weiter gelaufen und ich muss zusehen, dass ich Anschluss finde. Eben biegt Sergej rechts in die 'Lazareva' ein, als ich sie einhole. Anscheinend hat niemand gemerkt, dass ich gefehlt habe."

"Das macht mich ein wenig leichtsinnig. Immer wieder bleibe ich jetzt zurück, lasse die Gruppe vorausgehen und sauge die Atmosphäre der Geisterstadt in mich auf. Überall sieht man die Symbole einer untergegangenen Ära: jede Menge Hämmer und Sicheln und natürlich der große Vorsitzende und Namensgeber des Kraftwerks, Wladimir Iljitsch persönlich, in Bild und Werk. Aber auch viele fröhliche Werktätige, fette Weizenähren und aufgehende Sonnen. Schließlich war die Gegend hier einmal der Brotkorb der Sowjetunion, mit seiner fruchtbaren Schwarzerde. Die Farben, das viele Rot in den Malereien ist entweder völlig verblasst oder doch von der Zeit abgefressen. Die Formen sind meist schwülstig und erinnern mich ans Dritte Reich - totalitäre Kunst eben. Wo das Atom dargestellt ist, ist es immer freundlich, ein Wohlstandsbringer und Träger des Fortschritts. Die Menschen schauen ungläubig lächelnd zu ihm auf. Wenn Marx und Lenin die Götterväter des sowjetischen Pantheons waren, so war das strahlende Atom vielleicht der lokale Stadtgott von Pripyat ..."

"Außerdem entdecke ich überall Zeichen meiner Kindheit: in den rührend naiven Glasmalereien der Fensterfront eines Cafes, dem umlaufenden Fassadenschmuck eines Lebensmittelladens mit Abbildungen von Milchkannen, Eiern von glücklichen Hühnern, Brotlaiben, Wurstringen und Käselaiben. Ich erkenne sie wieder in den plumpen, kantigen Formen der Spielsachen, den Bildern der Kinderbücher. Alles wirkt so ... unbedarft ... unschuldig. Es ist, wie ich war, als ich in dieser Zeit gelebt habe. In einer solchen Stadt bin auch ich aufgewachsen. Aber alles ist kaputt, die Fenster zerschlagen, die Türen eingetreten, innen alles niedergerissen und demoliert. Erst sind die Plünderer gekommen und haben alles Wertvolle mitgenommen, haben das verstrahlte Zeug auf Schwarzmärkten verhökert. Sogar die Leuchtstoffröhren aus den Deckenleuchten, die wie offene Mäuler herunterhängen. Und als es nichts mehr zu plündern gab, ist der Rest sinnlos zerstört worden. Besonders in den Schulen und Kindergärten sieht man diese hilflose Wut. Tische und Stühle zertrümmert, die Regale entleert und der ganze Boden voll' zerfetzter Bücher ... an den Wänden hängen Landkarten mit einer Geographie, die längst nicht mehr existiert, außerdem allerlei Sowjet-Propaganda."

"Manche Spielsachen sind absichtlich schaurig in Szene gesetzt worden - Puppen vor allem, aber auch Teddybären und eine große Plastikmaus mit Wackelkopf und Olympiaringen auf dem Bauch. Sie sitzen auf Fensterbänken und schauen dir blind entgegen, sie hocken auf den völlig eingerosteten Bettchen im Schlafsaal einer Tagesstätte und schauen dir blind entgegen. Sie sind mit den allgegenwärtigen Gasmasken geschmückt oder wurden aufgehängt. Das sind die schlimmsten ... sie drehen sich träge in der modrigen Luft, inmitten all' der Zerstörung ... widerlich, und doch weißt du, dass ein Mal ein Kind - ein Mädchen wahrscheinlich - mit dieser Puppe gespielt hat, ihr einen Namen gegeben hat, Annuschka oder Nastja oder so ... und der Gedanke ist dann so traurig, dass du heulen möchtest."

"Ich hatte aber keine Zeit zum Heulen. Wir hatten nur zwei Stunden in Pripyat und ich musste mich beeilen. Schon lang' war die Gruppe außer Sicht. Ich folgte ihr nur noch nach Gehör. Was soll's, sag ich mir, schließlich hab' ich den Stadtplan im Kopf. Schlimmstenfalls geh' ich zum Bus zurück, warte dort und misch' mich dann unauffällig wieder unters Volk ... Entlang der 'Lazareva' stehen einige der höchsten Wohngebäude Pripyats, bis zu sechzehn Stockwerke hoch. Die Nummer Neun wird auch 'Toljatti-Haus' genannt, nach der sowjetischen Autostadt. Angeblich haben Spürtrupps bald nach der Evakuation die Fenster der meisten Wohnungen geöffnet, um das Ansammeln von Strahlung im Inneren zu verhindern. Da sind dann natürlich viele davon vom Wind zugeschlagen worden und kaputtgegangen. Anderswo wurden die Glasscheiben entweder eingeworfen oder gleich mitsamt Rahmen ausgebaut. Es gibt aber auch Gebäude, deren Fenster größtenteils unversehrt sind. Das 'Toljatti-Haus' ist eines davon."

Zwischenfrage: wie kam es, dass er den Stadtplan im Kopf hatte? Darauf antwortet der Zeuge mit nur einem Wort: "'S.T.A.L.K.E.R.'. Nie gehört? 'Call of Pripyat' - Das Videospiel! Ein Ego-Shooter, bei dem man im Auftrag der ukrainischen Regierung die Zone nach Anomalien absuchen muss. Das ist die Rahmenhandlung ... ein typisches Rollenspiel. Man erledigt bestimmte Aufgaben - findet Sachen, löst Rätsel und so - und entwickelt seinen Charakter immer weiter. Und dann tauchen auf ein Mal jede Mengen aggressiver Mutanten auf, die man abballern muss. Die Entwickler des Spiels haben die Stadt Pripyat als Schauplatz originalgetreu nachgebildet. Das war ja auch eine Seite des Tschernobyl-Mythos: die tödliche Mutanten-Zone ... und ich red' jetzt nicht von den 'Chernobyl Diaries', das ist Schrott, und nicht mal besonders gruselig. Aber da gab es diesen Comic - 'Simon - Zeuge der Zukunft' -, da gerät der Held in ein Sumpfgebiet mit allerlei angriffslustigen, monsterhaften Tierwesen ... eines sieht aus wie ein riesiger Panzerfisch aus dem Erdaltertum ... und mitten im Sumpf steht ein verlassenes Kernkraftwerk. Die moderne Zivilisation ist bei 'Simon' schon lange untergegangen; die Überlebenden schlagen sich größtenteils als halbwilde Nomaden oder primitive Bauern durch. Überall stehen Relikte, die den meisten den Menschen ein Rätsel sind. Und in diesem verfallenen Atom-Meiler, da lebt eine Horde von mutierten Halbmenschen - ehemalige Kraftwerksarbeiter, die den Austausch der Brennelemente zum Götzendienst erhoben haben. Sehr symbolisch, sehr schaurig und irgendwie auch ziemlich desolat."

"Also, das 'Toljatti-Haus' war von einer ehemaligen Ladenzeile gesäumt ... die meisten Schaufenster durch Bretter ersetzt. In der linken Ecke stand sogar noch ein altes Telefonhäuschen - gelb, wie bei uns. Ein hübsches Motiv, das ich ausgiebig geknipst hab'. Eben schiebt sich die Sonne zwischen den Wolkenbänken hervor, und über Belichtungszeit und Blende vergesse ich alles andere. Als ich das nächste Mal den Kopf hinter dem Sucher hervor nehme, ist von der Gruppe nichts mehr zu sehen. Da hab' ich schon ein bisschen Panik bekommen, nicht nur wegen Sergej. Pripyat ist doch auch ganz schön unheimlich - alleine wollt' ich hier nicht unbedingt unterwegs sein. Aber gerade, als ich mich wegdrehen will, in die Richtung, wo ich die anderen zuletzt gehört habe, sehe ich hinter einem der Fenster im zweiten Stock jemanden stehen."

"Erst Mal bin ich furchtbar erschrocken. Dann denk' ich mir, dass ist sicher wieder eine von diesen drapierten Puppen. Eine Schaufensterpuppe vielleicht, aber sie reicht nur bis ans untere Drittel der Scheibe. Ein Kinderpuppe also - oder Mädchenpuppe, den Haaren nach. Das kann ich mir schon vorstellen, dass jemand irgendwo eine Schaufensterpuppe geklaut hat, um sie hier im Haus als Gruselfigur auszustellen. Seltsam nur, dass es mir nicht gleich aufgefallen ist - so was übersieht man ja eigentlich nicht. Die Gestalt steht einfach ganz still da und schaut auf mich herunter. Sie ist einigermaßen undeutlich, weil das Fenster so schmutzig ist. Dann aber meine ich zu sehen, wie sie - es - die Hand hebt, als ob sie mir winken will. Im gleichen Moment kommt die Sonne heraus und spiegelt sich in den Scheiben und jetzt kann ich gar nichts mehr erkennen. Ich bin mir also nicht sicher, und ich will es, ehrlich gesagt, auch gar nicht so genau wissen. Besser, ich versuch' mal, meine Leute einzuholen, bevor es wirklich Ärger gibt."

"Ich bin also schnell weiter und hab' mir eingeredet, dass das ganz bestimmt eine Puppe gewesen wär', und dass ich sie zuerst bloß nicht gesehen hätte, weil die Sonne so geblendet hat. Dabei wusste ich doch, dass es noch schattig war, als ich die Bilder von der Telefonzelle gemacht habe. Sieht man übrigens auch auf den Fotos ... Und das mit dem Winken war natürlich auch Einbildung, optische Täuschung oder so was ... schließlich bin ich in einer Geisterstadt, da kann einem schon mal so was vorkommen ... ist ja schließlich der Sinn der Sache."

"An der Ecke 'Lazareva' - 'Sportivna' hör' ich endlich meine Gruppe wieder. Sehen kann ich sie immer noch nicht im dichten Unterholz, aber ich kann mir schon denken, wo sie stecken. Hinter dem Kaufhaus 'Yubileyny', das vollkommen ausgeräumt ist, und Grundschule Nummer drei kommt das Hallenbad 'Lazurny', ein beliebte Sehenswürdigkeit. Rasch nehm' ich die Strecke unter die Füße. Rechterhand wieder Wohnblocks: das ist schon der vierte Distrikt. Misstrauisch begutachte ich die Fensterzeilen; aufgeschreckt, wie ich jetzt bin, mein' ich, in mindestens jedem zweiten irgendwas Seltsames zu entdecken. Immer schneller bin ich gelaufen, bis ich zum Schluss beinah' renne. Aus dem 'Lazurny' dringen die Stimmen der anderen. Sie haben anscheinend ihren Frohsinn wieder gefunden und machen, als ich 'reinkomme, allerhand Quatsch um das leere Becken. Mühsam kann Sergej sie davon abhalten, den Sprungturm zu besteigen. Keiner achtet auf mich. Manchmal hat es auch seine Vorteile, wenn man so unauffällig aussieht ..."

"Sergej drängt die Leute schon bald wieder nach draußen. Die Zeit ist knapp und es gibt noch viel zu sehen. Ich halte mich bescheiden im Hintergrund und verlasse die Halle als letzter. Das heißt, ich verlasse sie eigentlich gar nicht, denn ich will noch ein paar Bilder von dieser Trostlosigkeit machen, und da stören die anderen nur. Eben hab' ich den Sprungturm im Visier, als sich in einem der Hallen-Ausgänge rechts davon etwas bewegt. Ich sehe nur die Bewegung, nicht, wer oder was es ist. Vielleicht jemand von der Gruppe, der auch zurückgeblieben ist und sich jetzt versteckt? Eigentlich dürfte ich mein Glück nicht so auf die Probe stellen. Ich sollte jetzt besser schnell 'raus, solange ich die anderen draußen noch gut hören kann. Sie lachen und blödeln herum, und Sergej muss sie immer wieder zur Ordnung rufen. Meine Neugier verfluchend, gehe ich direkt auf diesen Ausgang zu. Drei Seiten der Halle sind ja verglast - oder waren es einmal - doch in der hinteren Längsseite sind vier Durchgänge, jeweils ein schmaler und ein breiter nebeneinander. Wahrscheinlich Toiletten und Duschen für Männer und Frauen. Langsam gehe ich am Beckenrand entlang. Über mir verläuft eine Balustrade mit weiteren Durchlässen, wie Lücken in einem fauligen Gebiss. Von der riesig-hohen Schrägdecke hängen allerhand Fetzen herab, Isolier- oder Blendmaterial, nehme ich an, und man sieht ihre rostigen Stahlträger und Verstrebungen. Mit einem Prickeln im Leib laufe ich an den ersten beiden Türen vorbei. Alles, was ich dahinter unscharf erkennen kann, ist Verwüstung. Dann komm ich zu dem zweiten Paar, und da seh' ich, wie ein Kind, ein Mädchen wohl, von der Größe her vielleicht acht oder neun Jahre alt, aufspringt und in dem Gang dahinter verschwindet."

"Das alles ging so schnell ... ich seh' sie nur von hinten, und das Licht ist ziemlich mies. Jetzt ist sie jedenfalls weg. War es wirklich ein Mädchen? Gesehen hab' ich nur, dass sie - es - lange, blonde Haare hatte. Und dass ihr Kleid blau war und ziemlich 'runtergekommen. Mit einem Mal kommt mir ein böser Verdacht. Vielleicht will jemand von der Gruppe - vielleicht sogar einer von den Tommies, den Engländern - mir einen Streich spielen. Oder hat das Reisebüro, das diese Tour organisiert, ein professionelles Schreckgespenst auf uns angesetzt? Wie auch immer, der Gedanke macht mich jedenfalls mutig genug, dass ich den düsteren Flur hinunter laufe bis zur nächsten Ecke. Jetzt will ich es wissen. Links und rechts sind Fließen von den Wänden herab gefallen - oder herunter geschlagen worden -, und der Boden knirscht und klirrt laut unter meinen Tritten. Man kann sich hier nicht leise fortbewegen. Wie ich kurz stehen bleibe und zurückschaue in die Schwimmhalle, sehe ich die Sonne durch die offene Front einfallen, höre von draußen die Stimmen der anderen. Aber das scheint aus einer anderen Welt zu kommen. Hier drinnen ist alles Stille und Verfall. Das wenige Tageslicht wirkt wie ein Fremdkörper ..."

"Allerdings - wenn das Mädchen oder was es ist, inzwischen weitergelaufen wäre, dann hätte ich doch zumindest ihre Schritte hören müssen in dem ganzen Schutt ... an der Ecke angekommen, ich schau', kann aber in der kompakten Dunkelheit dahinter erst Mal gar nichts erkennen. Meine Augen müssen sich erst gewöhnen. Allmählich kann ich Konturen unterscheiden. Dieser Flur ist ebenso leer wie der letzte. Zu beiden Seiten gehen weitere Türöffnungen ab. Umkleiden vielleicht? Oder doch Duschen? Langsam gehe ich weiter. Ich versuche, immer beide Seiten gleichzeitig im Blick zu behalten ... wenn mich jetzt aus der einen Türe jemand anspringen würde, während ich eben in die anderen schaue, würd' wahrscheinlich mein Herz aussetzen. Es sind - waren - übrigens tatsächlich Umkleiden. Man sieht's an den Türsymbolen: links Männchen, rechts Weibchen. In den alten sowjetischen Piktogramme find' ich wieder ein Stück meiner Kindheit: sie sind schön rund und gemütlich, nicht so sportlich schlank wie heutzutage; die Frau mit Zöpfen, beide mit Kleiderbügeln in der Hand. Innen im Raum ist natürlich alles kaputt, aber man kann noch ahnen, dass da mal doppelläufige Bänke standen und an den Wänden entlang Metallspinde."

"Stattdessen steht sie da, mitten im Raum, als ob sie auf mich wartet, was sie in Wirklichkeit ja auch getan hat ... was mir allerdings erst hinterher klar wurde. Der Schreck ist mir wie ein Kübel Eiswasser vom Hals bis in die ... in den Schritt gefahren. Alles, was ich von da an getan habe, fand in einer Art Schockzustand statt. Wir starren uns an, schweigend, einen ewigen Moment lang, bis sie mich anspricht und die Hand nach mir ausstreckt - irgendwas mit 'Nana, Nana!' - ist das Ukrainisch? Russisch? ... egal, ich kann beides nicht. In diesem kurzen Moment sehe ich sie jedenfalls mit einer solchen Deutlichkeit, dass ich mich bis an mein Lebensende an sämtliche Einzelheiten erinnern werde. Sie ist vielleicht neun oder zehn Jahre alt, obwohl das schwer zu sagen ist - sie ist so dermaßen mager. Ein wenig erinnert sie mich an die junge Kate Moss. Das größte in ihrem hübschen Gesicht sind die Augen - solche riesigen Augen ... Sie hat langes, blondes Haar, das schon lange nicht mehr gekämmt worden ist, ebenso verwahrlost wie ihr blaues, kurzärmeliges Kleidchen, aus dem die dünnen Gliedmaßen wie Stöcke hervorragen. Obwohl sie ziemlich schmutzig ist, riecht sie eigentlich nicht. Ein bisschen muffelig vielleicht ... das merk' ich, als sie direkt vor mir steht."

"Und dann hat sie mich einfach an der Hand gepackt und mitgenommen." Warum er mitgegangen ist? Der Zeuge schaut ungläubig. "Da wäre jeder mitgegangen." Aber warum? Claus G. hebt die hilflos die Schultern. "Ich dachte ... ich weiß nicht ... was hätte sie mir schon tun können? Sie war doch nur ein Mädchen. Und es schien ihr doch so wichtig zu sein ... ich dachte, vielleicht braucht sie ja Hilfe ... bestimmt brauchte sie Hilfe! Jeder wäre da mitgekommen, glauben Sie mir." Aber hat er sich nicht gefragt, wer das Mädchen wirklich sei? Claus G. ringt um Worte. "Dass ... nein ... also, dass sie irgendwer auf mich angesetzt hat, das hab' ich mir also gleich aus dem Kopf geschlagen. Natürlich hab' ich mich gefragt, wer sie ist. Irgendwie war das aber nebensächlich. Ich wusste natürlich, dass die Zone nicht unbewohnt ist. Sie war vielleicht ein Kind von Umsiedlern aus den alten Sowjetrepubliken, oder eine von den Rückkehrern, obwohl das ja meist alte Leute waren. Oder war sie eine Streunerin? Ich wusste es nicht, und es hat mich, ehrlich gesagt, in diesem Augenblick auch nicht sonderlich interessiert. Sie war da. Sie wollte etwas von mir. Das hat mir gereicht."

"Ihre Hand war sehr warm. Ein richtiges Backöfelchen. Und sehr fest. Sie führt mich hinten 'raus aus dem 'Lazurny', zurück über die 'Sportivna', entlang am 'Material', einem ausgeräumten Kramladen, dann mitten durch den vierten Distrikt. Wir folgen Trampelpfaden durch das dichte Stangenholz, Pfade, die aussehen, als stammten sie von irgendwelchen Tieren. Von den Gebäuden ringsum seh' ich bloß Schemen. Immer mal wieder steht man dann ganz plötzlich vor einem dieser grauen Riesen, die sich wie Brontosaurier aus einer vorzeitlichen Wildnis schieben. Keine fünfzig Jahre sind diese Blocks nun alt und wirken doch schon wie Teile der Landschaft. Und das überrascht einen gar nicht. Man denkt, das muss so sein. Erst kommt Grundschule Nummer vier, wo ich durch ein kaputtes Fenster noch die Buchstabiertafeln an der Wand hängen sehe, dann der Kindergarten 'Skazka' oder 'Märchenland' - wie passend -, wo sich eine völlig verrostete Rutsche zwischen dünnen Birkenstämmen hindurch windet. Dann das, was einmal ein Gewächshaus gewesen sein mag, und von dem jetzt nur noch das rostige Stahlgerippe steht. Dann geht es eine Weile durch so üppigen Jungwuchs, dass ich Angst habe, das Mädchen zu verlieren. Aber ihre Hand liegt immer fest in der meinen und bewahrt mich ... vor was eigentlich? Dass ich mich in der Vergangenheit verliere?"

"Das war alles ziemlich unwirklich. Das Mädchen zieht mich förmlich hinter sich her und plappert dabei ununterbrochen. Ich wär' nicht zu Wort gekommen, selbst wenn ich gewollt hätte. Aber was hätt' ich auch sagen sollen? Englisch wird sie wohl kaum verstehen. Aber ich sehe, wie ihre Augen leuchten, wenn sie mich ansieht und wie glücklich sie lächelt ... warum nur? Was erhofft sie sich von mir? Eigentlich sollte ich mir ganz andere Sorgen machen ... wie ich wieder zur Gruppe zurückfinde, zum Beispiel ... oder was Sergej tun wird, wenn ich nicht rechtzeitig da bin ... ob ich mich nicht total verstrahle, wenn ich hier durchs Unterholz streife ... aber das sind Sachen, die mich irgendwie nur am Rand berühren ... als ob es da um eine andere Person ginge. Wichtig ist nur, dieses Kind nicht zu enttäuschen."

"Es ist nichts zu hören oder zu sehen in dieser 'Grünen Hölle' - ein paar kleine Vögel, die piepsend durchs Geäst turnen - aber das Gefühl bleibt doch, dass wir hier drinnen nicht allein sind. Dann lichtet sich das Jungholz und wir treten wie aus einem Tunnel ins Freie. Drei gewaltige Wohnblöcke stehen vor uns, einer neben dem anderen, jeder etliche hundert Meter lang und neun oder zehn Stockwerke hoch. An dem ersten vielleicht wohl noch gebaut worden, da steht noch ein altes Gerüst. Sie sind von einer Reihe wachsamer Birken umringt. Schweigend starren sie aus tausend blinden Fenstern auf uns herab, über uns hinweg. Als ich ihren Blicken unwillkürlich folge und zurückschaue, sehe ich auf dem Pfad, den wir gekommen sind, etwas verschwinden ... etwas Großes, Pelziges mit langem Schwanz ... war das ein Hund? Es soll ja wilde Hunde geben in Pripyat, sogar vor Wölfen hat uns Sergej gewarnt ... Angst hab' ich aber keine. Sie ist ja bei mir."

"Das Mädchen geht geradewegs auf den mittleren Block zu. Zwischen Gras und Moos erscheinen jetzt gesprungene Wegplatten. Sie wirken eher wie Grabplatten. Wenn man sie anheben würde und ein bisschen graben, würde man bestimmt auf Skelette stoßen ... wär' übrigens gar nicht so abwegig. Immerhin hat in der Gegend im Frühjahr 1944 die Operation 'Bagration' stattgefunden, eine Offensive, die die Rote Armee letztlich bis an die Weichsel geführt hat. Der Untergang der deutschen Heeresgruppe Mitte. Beim Bau von Pripyat sind die Arbeiter angeblich ständig auf Überreste von Gefallenen gestoßen. Die ganze Stadt ist auf Toten errichtet. Unter unseren Tritten knirschen aber keine Menschenknochen, nur Glas- und Keramikscherben. Überall um uns herum taucht Müll auf, Sedimente des Gestern: eine zerschlagene Wäschespinne mit vermoderten Textilresten daran, Metallteile, bis zur Unkenntlichkeit korrodiert, fauliges Holz, verwittertes Plastik, noch mehr Glas. Wir queren einen eingefallenen Spielplatz. Leuchtend blühende Heckenkirschen überwuchern den Sandkasten, der von einer dünnen Schicht Humus bedeckt ist. Aber ich sehe eine Stelle, wo die Erde aufgerissen ist; dort kommt Sand zum Vorschein, herrlich weiß und rein, und jemand hat ihn aufgehäuft und in alte, rissige Spielförmchen gepresst. Backe-Backe-Kuchen - ispech' tort ispech' -, so haben die beiden Kinder in Kiew gesungen, die vor meinem Hotel im Sand gebuddelt haben ... war sie das? Hat sie hier gespielt?"

"Wir gelangen vor eine schmale Eingangstüre. Sie ist fast vollständig von Ranken verhängt, die den unteren Teil der Fassade überwuchern. Wir tasten uns unter diesem Vorhang ins Innere - sie zielstrebig und wendig wie eine junge Fähe, ich zögerlich und unbeholfen, ein alter Grimmbart vor dem falschen Bau. Drinnen ist es angenehm schattig und kühl. Ich hab' gar nicht gemerkt, wie heiß es draußen inzwischen geworden ist. Ich schaue auf meine Uhr: schon nach Mittag. In einer knappen Stunde ist Treff zur Heimfahrt. Vorher, so hat Sergej uns versprochen, hätten wir noch eine halbe Stunde auf eigene Faust, wenn wir uns entsprechend benehmen würden ... noch kann ich aus der ganzen Geschichte 'rauskommen, ohne Ärger zu kriegen."

"Dann stehen wir in einem düsteren Treppenhaus. Ein endloser Flur mit vielen Türen, immer abwechselnd links und rechts, verliert sich im Zwielicht. Das Mädchen will mir hier anscheinend irgendwas Wichtiges zeigen, und so lasse ich mich den Gang entlang schieben. 'Damoshneye', sagt sie immer wieder, und 'podacha' oder so ... was immer das heißt ... ihre Stimme hallt so in dem leeren Flur. Wir sind anscheinend durch eine Hintertüre gekommen; der Haupteingang schräg gegenüber, zur Straße hinaus, ist um einiges mächtiger, doch seine rostigen Stahlflügel hängen wie gebrochen zu beiden Seiten herab. Hier findet sich auch eine Pförtnerloge, deren Glasumfassung natürlich in Scherben liegt. Sie ist leer bis auf einen umgekippten Stuhl und einen zertrümmerten Resopal-Tisch. An der Wand hängt ein sperriges Plastiktelefon, aus einer Zeit, als man so etwas noch 'Fernsprechapparat' nannte. Hier saß wohl der 'Nosilschhik', die sowjetische Variante des deutschen Blockwarts, und registrierte, wer wann und aus welchem Grund das Haus betreten oder verlassen hat. Das Telefon war wahrscheinlich direkt mit der Parteizentrale verbunden, wo auch das örtliche Komitee für Staatssicherheit saß."

"Über mehrere Stockwerke des Treppenhauses hinweg erstreckt sich ein riesiges Wandgemälde, das jetzt fast völlig verblasst ist. Vom Stil her ist es ziemlich naiv, aber man erkennt doch den Mann, der nach dem großen Vorsitzenden wahrscheinlich die häufigste Abbildung in der Sowjetunion erfahren hat: Juri Gagarin, russischer Kosmonaut, erster Mensch im Weltraum, Symbolfigur der kommunistischen Überlegenheit. Ein Stück weiter den Gang hinunter öffnet das Mädchen eine der Wohnungstüren, die in ein verwüstetes Appartement führt. Außen an der Tür hängt noch ein vergilbter Zettel mit einer kurzen Notiz in Kyrillisch. Wieder verfluche ich meine Unkenntnis der Sprache. Drinnen das jetzt schon gewohnte Bild der Zerstörung - kaputtgeschlagene Möbel, ausgeleerte Schränke, herabhängende Tapeten. Wir kommen in eine Küche, und dort liegt auf dem aufgequollenen PVC-Boden ein toter Hund."

"Er muss schon viele, viele Jahre hier liegen ... ist nicht verwest, sondern mumifiziert. Er liegt auf der Seite, ein Riesenvieh, seine zurückgezogenen Lefzen geben gewaltige Eckzähne frei. Seine Augen sind eingefallen. Der Leib ist von großen Löchern durchsetzt ... sind das Einschüsse oder kommt das von der Strahlung? Was das Mädchen jetzt tut, widert mich an, aber ich verberge meinen Ekel und meine Überraschung. Sie sagt 'Boris', lässt sich neben dem Kadaver nieder und beginnt, ihn liebevoll zu streicheln. Der Anblick ihrer schmalen, weißen Hand in diesen vermoderten Fellresten ... mir wird fast schlecht. Dann steht sie auf, nimmt eine angeschlagene Schüssel, die auf dem Boden steht, und geht zu dem mit Spinnweben durchsetzten Spülbecken. Quietschend dreht sich der Wasserhahn, durch den in den letzten dreißig Jahren kein Tropfen Wasser geflossen ist. Sie hält die Schüssel unter den Hahn, nimmt sie nach Weile wieder weg und stellt sie neben den toten Hund. Sie holt eine leere, völlig verrostete Konservendose aus dem schwarzschimmeligen Ding, das einmal ein Kühlschrank gewesen ist, schnappt sich einen ebenso scheußlichen Plastiklöffel und tut so, als schöpfe sie etwas aus der Dose in eine zweite Schale. 'Moy dorogoy', sagt das Mädchen, dann nimmt sie mich wieder an der Hand und wir verlassen die Wohnung. Ich laufe jetzt wie durch Watte."

Der Zeuge ist zunehmend bewegt. Seine Stimme beginnt zu zittern, während er den weiteren Verlauf seiner Odyssee beschreibt. "In der nächsten Wohnung, ein Stockwerk darüber, da liegen in einem Glaskasten - der war wie durch ein Wunder unversehrt -, da liegen die Panzer zweier Sumpfschildkröten. Nur die Panzer, verstehen Sie? Und sie spricht mit ihnen, nennt sie 'Olga' und 'Sanja', streichelt sie, füttert sie. In der nächsten Wohnung: ein Vogelbauer baumelt von der vermoderten Wohnzimmerdecke, darin ein Häuflein muffiger Federn und der untere Teil eines Kanarienschnabels. 'Roxanna', sagt das Mädchen und tut so, als ob sie seine kleine Körnerschale füllt. Das Skelett eines Hamsters oder Meerschweinchens in seinem eingedrückten Drahtkäfig, die rissige, völlig eingetrocknete Moderschicht in einem grün angelaufenen Aquarium, wo vielleicht einmal Zierfische gelebt haben, einige schleimige Haarbälge, nur noch an den Ohren als Reste von Zwergkaninchen zu erkennen - sie weiß von allen die Namen, sie füttert sie, liebkost sie. Was ist das für ein grausiges Spiel?"

"Dann sind wir endlich ganz oben, im neunten oder zehnten Stock. 'Doma, kontse kontsov', sagt das Mädchen und öffnet die Türe zu einem weiteren Appartement. 'Vkhodit.' Ich verstehe nicht, aber ich befürchte schon das Schlimmste ... und werde nicht enttäuscht. Diese Wohnung muss einmal recht hübsch gewesen sein, mit ihren gemusterten Farbtapeten und dem Massivholz-Mobiliar, von dem allerdings nur noch zerschlagene Reste übrig sind. Die Teppiche faulen, ebenso das Plastik der Linoleumplatten in Flur und Küche, die sich an den Rändern gelöst haben und aufwerfen. Die Fenster sind größtenteils unversehrt; der Lack ist fast völlig von ihren aufgequollenen Holzrahmen abgeplatzt, überall dringt Feuchtigkeit durch. Riesige Schimmelflecken schieben sich aus den Ecken über Wände und Zimmerdecken. Ansonsten liegt auch hier reichlich Schutt und Scherben auf den Fußböden. Und es stinkt. Doch im Unterschied zu den vorigen Appartements sehen manche der Räume beinahe bewohnt aus. Ich sehe eingedellte Kissen, zerwühlte Decken, aufgeschlagene Bilderbücher liegen herum, benutztes Spielzeug, Kleidungsstücke in Häufen - alles alt, löchrig, teilweise sogar richtiggehend verrottet. Kinderklamotten im Stil der Siebziger Jahre ... ich hatte fast dasselbe an ... musste ja immer die Sachen meiner beiden Schwestern auftragen ..."

"In der Küche steht ein alter Plastikeimer, halb voller Wasser, auf dem Staub, Haare, Fliegen und andere Insekten schwimmen. Mit einer gesprungenen Emaille-Tasse schiebt das Mädchen diese Schmutzschicht beiseite, schöpft und trinkt. Dann schöpft sie erneut und bietet mir die Tasse an. 'Pit'yevoy.' Ich halte die Luft an, führe die Tasse bis knapp an meinen Mund und tue so, als ob ich trinken würde. Sie freut sich so, dass sie in die Hände klatscht. Dann tränkt und füttert sie die skelettierte Katze, die halb unter der Sitzecke liegt. Sie krault sie zwischen den Resten ihrer verschrumpelten Ohren. 'Katinka, katjónatschek', sagt sie dabei immer wieder mit schmeichelnder Stimme. Mir kommt es hoch und füllt meinen Mund, aber ich kann die Kotze eben noch mal 'runterschlucken."

"Wieder klatscht das Mädchen in die Hände, dann springt sie auf und stellt zwei spröde Plastikteller auf den vergammelten Tisch, legt zwei verbogene Aluminiumlöffel dazu. Aus einer Kammer nebenan - wahrscheinlich die Speisekammer, doch den Blick hinein erspar' ich mir - holt sie ein völlig blindes Einweckglas. Sein Inhalt ist undefinierbar ... Kraut vielleicht, oder geraspelte Rüben. Egal was es ist, es ist jedenfalls so alt, dass es schon nicht mehr schlecht ist. Es steht über der Zeit. Vielleicht liegt es ja auch an der Strahlung ... Sie wissen ja, wenn man Gemüse mit Gammastrahlen konserviert, hält es fast beliebig lange. Sie füllt mit dieser schwarzbraunen Masse unsere Teller und legt daneben ein Stück von etwas, dass ich erst später als Brot erkenne. 'Podsest', sagt die, und als ich nicht gleich kapiere, rückt sie mir den geborstenen Küchenstuhl heran. Während ich mich wie betäubt niederlasse, schiebt sie sich hinter den Tisch auf die Eckbank. Sie nimmt meine Hand und die Hand einer unsichtbaren Person zu ihrer Linken, schwenkt sie auf nieder und sagt feierlich 'Priyatnogo appetita!' Dann beginnt sie zu essen."

"Während sie die übel riechende Masse in ihren Mund schaufelt und mit scharfen Schneidezähnen an dem steinharten Brot knabbert, schaut sie mich ständig an. Wenn ich zurückschaue, strahlt sie. Dabei summt sie eine kleine, fröhliche Melodie vor sich hin. Seit wir zusammen sind, redet oder singt sie fast ununterbrochen, anscheinend ist sie so glücklich ... ich komme mir schäbig vor, aber nicht mal ihr zuliebe schaffe ich es, von dem Zeug zu essen. Allein die tote Katze zu meinen Füßen ... stattdessen führe ich mir den Löffel an den Mund, schmatze ein wenig herum und tue ihn dann wieder in den Teller zurück - so, wie es Eltern machen, wenn sie das Sand-Eis oder die Blätterkuchen ihrer Kinder probieren sollen. Anscheinend reicht ihr das. Nur von dem Brot breche ich ein Stückchen ab, schiebe es mir in den Mund und lasse es dort solange aufweichen, bis ich es schlucken kann. Siedendheiß fällt mir dann ein, dass man in der Zone auf keinen Fall irgendwas in den Mund nehmen soll. Die Nuklide, die auf diese Weise in den Verdauungstrakt gelangen, können die schlimmsten Krebserkrankungen auslösen. Aber jetzt ist es zu spät. Mit einem mulmigen Gefühl schiebe ich Teller und Brot von mir. Sie scheint ein wenig enttäuscht, fasst sich aber nach kurzer Zeit. Ihren eigenen Teller hat sie blitzsauber gekratzt und auch ihr ganzes Brot aufgegessen. Meine Reste wandern wieder zurück in die Speisekammer."

Woher hat sie die Lebensmittel gehabt? "Ich war mir nicht sicher. Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht einmal, wo sie selbst herkam ... es schien mir immer noch möglich, dass sie von außerhalb der Zone stammte und nur nach Pripyat gekommen war, um ihre seltsamen Spielchen zu spielen. Das Essen konnte sie ja von draußen mitgebracht haben ... Sie goss jedenfalls etwas von der Brühe aus dem Wassereimer in die Spüle und wusch unsere Teller und das Besteck darin. Dann rieb sie das Geschirr mit einem fleckigen, fadenscheinigen Küchentuch trocken und stellte es auf ein verbogenes Abtropfgestell. Es war gespenstisch, diese Imitation eines ordentlichen Haushalts inmitten von diesem ganzen Schmutz und Verfall. Dabei summte sie lustig vor sich hin; ich konnte nur zuschauen und staunen. Als sie fertig war, sprang sie aus der Küche und kam kurz darauf mit etlichen zerfledderten Büchern und Heften wieder. 'Domashneye zadaniye', sagte sie, schlug eines der Bücher auf und begann andächtig, etwas in ihr Heft zu schreiben. Mir kam es so vor, als mache sie Denkaufgaben oder löse Rätsel. Oder tat sie so, als ob sie Hausaufgaben machte? Spielte sie auch, dass sie hier zur Schule ging? Ich wusste es nicht. Eine Weile ertrug ich diese Farce noch, dann stand ich abrupt auf."

"Ich hatte mich selten so ... zerrissen gefühlt, wie damals, als ich da vor ihr gestanden bin. Ich konnte unmöglich länger bei ihr bleiben, aber ich konnte doch auch nicht einfach gehen ... Sie sah sie mich verwirrt an. 'Was willst Du eigentlich von mir?' frage ich sie aufgebracht. 'Was soll ich hier?'. Meine Hilflosigkeit macht mich wütend, und das spürt sie. Und ich spüre, dass sie das spürt, und schon tut es mir wieder leid. Sie kann doch nichts dafür ... und verstehen kann sie mich ja auch nicht ... Ich zeige meine Handflächen und hebe die Schultern, sehe sie fragend an. 'Brauchst Du Hilfe?' Sie sagt etwas, stellt mir wohl eine Frage, keine Ahnung... verlegen wende ich mich ab und mein Blick fällt auf eine Fotografie, die neben der Eingangstüre an die Wand gepinnt ist. Es ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, stark ausgebleicht, doch ich erkenne drei Personen darauf, zwei große und eine kleine, die auf einem weiten Platz stehen, eingefasst von Blumenrabatten und Bäumen. Im Hintergrund sieht man Passanten und einige große quaderförmige Gebäude. Die drei stehen ganz eng beieinander, obwohl rundherum viel Platz ist. Sie halten einander umfasst, und trotzdem das Bild alt und grobkörnig ist, glaubt man zu sehen, wie sie in die Kamera lächeln. Ich gehe näher heran."

"Die Frau ist vielleicht dreißig. Sie trägt eine Kurzhaarfrisur mit Seitenscheitel, ähnlich dem Schnitt der jungen Lady Diana, dazu einen Rock und ein kurzärmeliges Oberteil. Die Saumabschlüsse ihrer Ärmel und die Taille sind mit hellen Streifen und einem kleinen Rüschensaum versehen. Sie ist nicht wirklich hübsch ... hat ein eher herbes Gesicht mit kräftiger Nase und einem breiten Mund, doch sie strahlt Zuverlässigkeit und Fürsorge aus. Der Mann steht an ihrer linken Seite und hat den Arm um ihre Schulter gelegt. Er ist groß, beinahe einen Kopf größer als sie, und sehr schlank, fast schon mager. Er ist schwarz angezogen - schwarze Hose, dunkles Hemd, schwarzes Jackett - und auch seine Haare sind schwarz oder doch sehr tiefbraun, während sie eher dunkelblond ist. Seine Frisur ist typisch Siebziger: schulterlang, Seitenscheitel, ausgeprägte Koteletten. Er hat einen Schnauzbart, der aber seine eher weichen Gesichtszüge auch nicht männlicher wirken lässt. Seine linke Hand liegt auf der schmalen Schulter des Kindes vor ihnen, während die Frau beide Arme vor dessen Rumpf verschränkt hat. Das Kind, ein Mädchen, steht im Vordergrund; seine Nasenspitze befindet sich genau im Mittelpunkt des Bildes. Sie ist ungefähr sechs Jahre alt, trägt ein Rüschenkleid mit Karos und Rauten. Ihre langen, blonden Haare sind streng nach hinten gezopft und mit einer großen Schleife geschmückt. Sie hält ein großes, festes Gebäckstück in beiden Händen, ein Kuchen, Hefekranz oder eine Art Brot, mit einer Kerze darauf. Sie ist sehr hübsch und sehr fröhlich. Während die Eltern still lächeln, dankbar und stolz, lacht sie übers ganze Gesicht, denn sie weiß: ihre Zukunft ist offen und wartet nur auf sie. Ihr Glück wird ewig währen. Und dieses Mädchen ist sie ..."

An dieser Stelle müssen wir den Zeugen fast gewaltsam unterbrechen. Doch ist dies' die Frage, die für uns im Mittelpunkt seiner Aussage steht: wie konnte das Mädchen, dass er in Pripyat angetroffen hat, dasselbe sein wie auf einem mehr als dreißig Jahre dem alten Foto? "Natürlich sah sie anders aus. Sie war älter als auf dem Bild und völlig vernachlässigt. Auf dem Foto sah man ein sechs- oder siebenjähriges Kind, gut genährt und hübsch angezogen. Gesund und fröhlich. Dort auf der Küchenbank saß eine spindeldürre, total verdreckte und in Lumpen gehüllte Neun- oder Zehnjährige. Vielleicht war sie auch älter. Jedenfalls sah sie krank aus. Sie war so blass und hatte diese dunklen Augenringe ... die Haut schorfig und voller Flecken ... ihre Haarfarbe war ... undefinierbar ... vielleicht dunkelblond, vielleicht hellbraun, aber vor allem total dreckig und fettig. Der größte Unterschied aber war die Traurigkeit und ... diese Verlassenheit, die sie ausstrahlte. Es umgab sie wie ein Mantel." Dann war es nicht dasselbe Mädchen? Eine lange Weile bleibt der Zeuge still. Wir wollen unsere Frage eben wiederholen, als Claus G. so tief Luft holt, dass es fast wie ein Aufschluchzen klingt. Dann nickt er. "Doch. Es war dasselbe. Die Augen waren dieselben wie auf dem Bild. Ihre Nase auch, und auch der Mund. Es gab keinen Zweifel. Sie war dieselbe."

Wir finden keine Gelegenheit mehr, den Zeugen noch einmal zu stoppen. Der Rest seiner Geschichte sprudelt nur so aus ihm heraus. "Als sie mich von hinten berührt hat, bin ich furchtbar zusammengefahren. Ich war so in das Bild vertieft ... und weil ich so erschrecke, erschrickt sie ebenfalls, findet das aber gleich schon wieder komisch. Sie kichert, dann nimmt sie mich an der Hand und führt mich ins ehemalige Wohnzimmer, wo sie mich auf ein gefährlich wackeliges Sofa nötigt. Eine Staubwolke steigt auf, als ich mich niederlasse. Wie viel Bequerel die wohl enthält? Mich ekelt vor dem zerschlissenen, völlig verdreckten Kunstfaserbezug, aber ihr zum Gefallen bleibe ich sitzen, während sie - 'Zhdat!' - schon wieder aus dem Zimmer springt und kurz darauf mit einem mächtigen, alten Fotoalbum zurückkommt. Sie trägt es wie ein Ordenskissen auf den Unterarmen vor sich her, legt es andächtig auf den zersplitterten Nierentisch und setzt sich neben mich."

"'Kak eto budet', sagt sie und schlägt das Buch auf. Jede Seite hat so eine milchige Schutzfolie ... ihr Knistern weckt Erinnerungen an Zeiten, als man sich Bilder nicht nur auf Monitoren angeschaut hat. Das war so, damals, in einer Welt, die heute so fern ist wie für mich als Kind die Nazizeit war. Auf den Seiten altertümliche, fleckige Schwarz-Weiß-Aufnahmen, mit Fotoecken eingeklebt. Zum Schluss hin nehmen die Farbbilder zu. Und da ist Pripyat, wie es einmal war - voller Leben, voller Freude. Ich sehe Menschen, die flanieren auf breiten, sauberen Alleen, fahren auf Fahrrädern und Mopeds und in kastenförmigen Autos ... sie schieben Kinderwägen - in einem solchen Wagen bin auch ich einmal gelegen - sie stehen in Gruppen, in ihren besten Kleidern, Wolken von glänzenden Luftballons über ihren Köpfen. Sie tragen Trachten und Kostüme wie Weihnachtsmänner, aber die Mützen haben zwei Zipfel - 'Maslineza', sagt das Mädchen, als es auf dieses Bild deutet ... Sie stehen an Schaltern und vor Theken. Sie haben sich in Mengen gesammelt, während ihre Kinder die Uniformen der 'Jungen Pioniere' zur Schau tragen. Sie spazieren am Flussufer entlang, lässig, mit hoch erhobenen Köpfen. Sie marschieren auf Paraden, stolz, rote Banner auf den Schultern. Sie bevölkern die Gehwege und Straßen und Höfe und die Parks, die Spielplätze, Sportplätze, die Bäder und Hallen, die Geschäfte und Restaurants. Sie lachen und tanzen und machen Musik. Da picknicken sie unter der Statue des Prometheus. Da feiern sie Hochzeit auf einem Floß inmitten des funkelnden Flusses. Und hinter ihnen erheben sich, wie stumme Riesen aus einem nie gehörten Märchen, die Blöcke des Atomkraftwerks von Tschernobyl und der gigantische, rot-weiße Abluftkamin schaut herab auf das fröhliche Treiben herab, als wollte er fragen: wie lange noch?"

"Das war Pripyat, früher einmal, und wenn ich es mit dem vergleiche, was heute noch übrig ist, schnürt es mir das Herz ab. Warum geht immer alles so zu Ende, das das Schöne zum Hässlichen wird und die Fröhlichkeit zur Trauer? Warum endet immer alles in Chaos und Zerstörung? Ist das der tiefere Grund unseres Daseins? Und wenn es so ist, wozu dann die ganze Last unseres Lebens? Wozu werden wir unter Schmerzen geboren, wachsen auf mit tausend Mühen? Wozu lernen wir? Wozu schaffen und bauen wir? Als ob es für die Ewigkeit wäre, doch nach spätestens zwei Generationen sind wir selbst vergessen und unsere Werke meist nur noch lästige Überbleibsel ... so viel Vergangenheit, die niemand haben will."

"'Kogda prikhod mat, Nana?' Sie muss ihre Frage zweimal wiederholen, bis sie zu mir durchdringt, so tief bin ich in meine trüben Gedanken versunken. Natürlich verstehe ich nicht. Ich fühle mich so müde - als wenn ich hundert Jahre alt wäre. Ich will nur noch schlafen. 'Was willst du, Kind?' 'Mat, gde?' 'Ich weiß nicht, was du willst. Ich kann dir nicht helfen. Ich muss jetzt gehen.' Schwerfällig stemme ich mich hoch, komme schwankend auf die Füße. Mir ist schwindelig und mein Kopf tut auch schon wieder weh. Ein Blick auf die Uhr: in einer knappen halben Stunde geht mein Bus. Erst? Seit ich mit ihr zusammen bin, fließt die Zeit so zäh wie Sirup. Ich schaue auf sie herab. 'Mat, gde, Nana?' beharrt sie. Ich schüttele nur stumm den Kopf und wende mich ab."

Der Zeuge vergräbt sein Gesicht in den Händen und schweigt; als er sie schließlich wieder nach unten nimmt, zittern sie. Seine Stimme schwankt jetzt, der Atem ist gepresst. "Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich sie mitnehmen sollen? Ich dachte ... ich dachte, vielleicht würde ich Sergej Bescheid sagen, dass ich sie gesehen hätte ... damit er die Behörden verständigt ... oder sonst wen ... vielleicht aber auch nicht ... wenn sie eine Streunerin war, würde sie sicher lieber nichts mit der Miliz zu tun haben wollen. Verdammt ... ich wusste es einfach nicht ... was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?"

Mittlerweile zittert Claus G. am ganzen Leib. Er wirkt wie ein Verdammter, der sein Geständnis eilig los werden muss, um auf diese Weise vielleicht zur Erlösung zu gelangen. "Da steht sie vor mir, so klein, so aufrecht, so verzweifelt. 'Ty yest nana?' Ich schüttele wieder den Kopf. Ich verstehe immer noch nicht. Da packt sie das Album und blättert es hastig durch bis zur letzten Seite. Dasselbe Foto wie in der Küche, nur in groß, und sie tippt wie wild auf den Mann und zeigt dann auf mich. 'Ty yest nana?' Sie schreit fast. Und jetzt verstehe ich. Jetzt endlich verstehe ich."

"Dies' ist ihr Zuhause. Hier lebt sie. Hier wartet sie. 'Njet, njet, Nana', sage ich. Die Worte sind schwer wie Blei, kaum, dass ich sie über die Lippen bringe. Aber sie hat mich gut verstanden. Sie starrt mich ungläubig an, lange, lange ... und obwohl ich es schon bedaure, schüttele ich noch ein Mal den Kopf. Ich zeige auf mich. 'Njet, Nana.' Denn das ist die Wahrheit: ich bin nicht der, den sie braucht. Diesen Menschen gibt es nicht. Nicht mehr. Keiner wird kommen und sie von hier fortholen. Niemand mehr, der nach ihr sucht oder der sie vermisst. Sie ist das Mädchen von Pripyat. Sie wird für immer hier bleiben. Wenn ich 'Da' gesagt hätte - 'Ja' -, dann hätte ich ihr Schicksal teilen müssen. Dann wäre ich ebenfalls gefangen, hier, in der Zone, in ihrer Vergangenheit und in diesem ganzen Zerfall und der Fäulnis. Und das wollte ich nicht. Ich bin ein Feigling, so feige, ich weiß - doch um nichts in der Welt wollte ich das."

"Und ich sehe, wie sie begreift. Und wie ihr Gesicht zerfällt. Es tut weh, das anzusehen ... Entsetzen, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit. Zum Schluss bleibt nur diese Traurigkeit. Wie ... wie kalte Schlacke in einer endlosen Nacht."

Das Zittern hat nachgelassen. Dafür hat Claus G. angefangen zu weinen, wahrscheinlich, ohne es selbst zu merken. Seine Tränen fließen, doch seine Stimme schwankt nicht mehr. Sie ist jetzt tonlos, sein Gesicht völlig ohne Ausdruck. Seine Augen nehmen nichts mehr wahr. Sein Mund bewegt sich mechanisch. "Sie stößt mich von sich weg, panisch, mit steifen Fingern. Sie keucht ... so ... wie ein kleines, gequältes Tier ... was hab' ich getan! Gott, was hab' ich getan! Ich will ja alles wieder gut machen! Ich will sie an mich reißen, sie trösten, sie retten, sie mitnehmen, ihr ein neues Leben schenken, weit fort von der Traurigkeit und diesem ganzen Niedergang. Ich will all' ihre Einsamkeit auf mich nehmen. Doch sie ... sie dreht sich um und rennt hinaus."

"Ich stehe da wie betäubt, bis ich eine Türe schlagen höre. Dann erst gehe ich ihr zögernd nach, durch den ruinierten Flur. Ich suche sie, öffne ein Zimmer nach dem anderen, sehe ein Bild der Verwüstung nach dem anderen. Doch die letzte Tür ist verschlossen. Hier wird sie sein. Außen klebt ein Holzschild mit ihrem Namen oder so, in Form eines kleinen Vogels. Doch es ist auf Kyrillisch und ich kann kein Kyrillisch ... mit Leichtigkeit drücke ich die Türe ein - sie hängt nur noch an einem Scharnier - doch der Raum dahinter ist leer. Es muss ihr Zimmer sein, ein Kinderzimmer, nach den Resten der Möbel zu urteilen, und man sieht auch, dass hier jemand schläft, in diesem ganzen Dreck und Müll ... in der Ecke eine zweite tote Katze, genauso scheußlich wie die erste ... doch es ist niemand zu sehen. Ich schaue aus dem geborstenen Fenster hinunter in den zugewachsenen Hof - nichts. Viel zu hoch, um hinaus zu springen, und wenn ja, dann läge sie jetzt zerschmettert da unten. Ich durchsuche das Zimmer, ich suche die ganze Wohnung ab, überall - nichts. Sie ist nicht mehr da." Konnte sie das Appartement nicht verlassen haben? "Wahrschei- scheinlich ... wird wohl so gewesen sein. Oder sie hat sich versteckt. Nur, dass die Türe zum Kinderzimmer von innen verriegelt war. Der Schlüssel steckte noch ... innen, mein' ich."

Wieder entsteht eine längere Pause. Die Tränen des Zeugen sind versiegt. "Die Zeit lief mir davon, jetzt, wo sie nicht mehr bei mir war. Außerdem hatte ich schreckliche Angst, vor allem möglichen ... Ich habe noch ein paar Photos gemacht, und dann bin ich gegangen und hab' sie im Stich gelassen, wie alle anderen vor mir und alle anderen, die vielleicht noch kommen werden. Erst bin ich gelaufen, und dann bin ich gerannt und habe den Bus eben noch erreicht, als sich die Gruppe dort zum Abzählen versammelt hat. Ich habe einfach so getan, als wäre ich eben erst gekommen, und niemand hat auch nur ein Wort zu mir gesagt. Sergej hat mich angeschaut, als sähe er mich zum ersten Mal. Es war alles so einfach ... Später, auf der Rückreise ... aber was soll das? Ich bin müde. Ich mag nicht mehr. Wir sollten hier Schluss machen." Warum hat er die ganze Sache in seinem Internet-Blog veröffentlicht? "Hab' ich gar nicht. Ich habe nur über Pripyat berichtet und meine Fotos hochgeladen. Nichts von ihr. Man soll sie in Ruhe lassen. Sie tut niemandem etwas und niemand soll ihr etwas antun. Sie hat genug gelitten. Sie leidet immer noch..."

Noch eine letzte Frage brennt uns auf den Lippen, obwohl klar ist, dass wir den Zeugen durch unsere Nachforschungen erheblich unter Druck setzen: bestand denn irgendeine äußerliche Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Mann auf dem Familienfoto? Entschieden schüttelt Claus G. den Kopf. "Bis auf die Brille überhaupt nicht. Der Mann auf dem Bild war viel größer als ich und dunkelhaarig. Ich weiß nicht, wie sie mich mit ihm verwechseln konnte ... aber ich weiß auch nicht, was die Einsamkeit aus ihrem Verstand gemacht hat ... vielleicht war sie einfach nur völlig verzweifelt."

"Was wollen Sie noch hören? Seit Pripyat ist mein Leben ziemlich am Arsch. Ich habe ständig Kopfschmerzen. Tagsüber mache ich mir Vorwürfe ... und fast jede Nacht träume ich von ihr. Ich sehe sie im Dunkeln durch die leeren Straßen der Geisterstadt laufen und suchen. Sie sucht immer, überall in der Zone. Manchmal hat sie ein Tier bei sich, für das es keinen Namen gibt. Das Tier beschützt sie, aber helfen kann es ihr nicht. Sie will mit dem Tier sprechen, doch das Tier antwortet nicht. Dann träume ich, dass sie neben mir liegt, in ihrem kaputten Kinderbettchen, unter der halbvermoderten Decke, und sich vor Sehnsucht in den Schlaf weint. Ich höre ihre kleinen Schniefer und Schluchzer, und ich weiß, ich bräuchte nur die Hand auszustrecken, meine große, warme Hand, und sie ihr auf den Kopf zu legen und sie wäre getröstet. Aber ich kann nicht - ich schaffe es einfach nicht. Weil ich so ein Feigling bin."

Der Zeuge scheint ebenso am Ende der Geschichte wie seiner Kräfte angelangt zu sein. Wir überlassen ihn der Erinnerung und Scham und ziehen uns leise zurück. Bei unserem letzten Blick zurück sitzt Claus G. still da, die Hände vor dem Gesicht, und wiegt sich sanft hin und her.

+++

Unsere Ausführungen enden hier. Natürlich bleiben viele Fragen offen, nicht nur, was die Vergangenheit betrifft. Wer das Mädchen wirklich ist, was aus ihr werden soll, wie lange sie in der sterbenden Stadt noch ausharren muss? Ob es weitere Sichtungen geben wird? Ob womöglich dieser Bericht einen Anlass für offizielle Nachforschungen geben mag? Wir wollen es nicht hoffen, denn in einem hatte unser letzter Zeuge sicherlich recht: das Mädchen und seine Geschichte gehören für immer nach Pripyat.

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