Der letzte Sapiens - 1. Aufbruch
von Rouven Bronk (spinowachs)

 






DER LETZTE
SAPIENS
























Science-Fiction
Roman

Rouven Bronk











Alles
ist schön hier,
selbst das
Bedauern

Albert Camus



Wenn sich in Europa die Nationalisten durchsetzen,
dann werden wir geschreddert!

Joschka Fischer, ehemaliger Vize-Kanzler und Außenminister













Inhalt

Der Aachener Science-Fiction Autor Paul trifft einen Außerirdischen, der auf der Flucht vor dem Ethikrat des Planeten Anderran ist. Mit Hilfe eines ihm überlassenen Gerätes für Zeitreisen gehen Paul und sein Freund André auf eine spannende Reise in das Jura der Erde vor 150 Millionen Jahren. An ihrer Seite stehen die intergalaktischen "Zwillinge": Privatdetektiv Tom und Maler Dennis, die aus einer Parallelwelt stammen.
Unterdessen stehen auf dem anarchistischen Planeten Anderran die Politik und das Gesellschaftssystem auf der Kippe, denn die Technologie der Zeitreisen spaltet die Bewohner und schafft immer mehr Probleme, bis hin zu einer drohenden Zerstörung des Multiversums. Um zu verhindern, dass die Situation außer Kontrolle gerät, wird ein anderranischer Suchtrupp durch Raum und Zeit ins Jura der Erde geschickt, um die Terraner aufzuspüren und wieder in ihre Zeit zurückzubringen. Obwohl idealistische Pazifisten, verfallen einige der Außerirdischen den materiellen Reizen, die die Erde zu bieten hat. Auf Diebstahl, Habgier und Intrige geschieht bald der erste Mord.



Aachen, 14.02.2020















Fünf Kapitel











1. Kapitel


Aufbruch

Von meinem Wohnort Aachen aus besuchte ich im Monat September die quirlige Kleinstadt Herzogenrath. Ich war zu Fuß gegangen und mir fiel schon unterwegs die unvergleichliche Ruhe auf, die mich auf meinem Weg dort hin begleitet hatte. Normalerweise nervte dann spätestens auf der stark befahrenen Durchgangsstraße in Herzogenrath der Verkehrslärm, während auf den schmalen Gehwegen und in den Einkaufspassagen für gewöhnlich das Volk flanierte. Doch heute sah ich in der gesamten Stadt keinen einzigen Menschen; noch nicht einmal ein aufdringlicher Hund lief mir vor die Füße. Türen und Fenster aller Häuser schienen verrammelt zu sein, kein Leben auf den Straßen, keine der üblichen Motorengeräusche, kein Bus und keine Bahn, kein Pkw unterwegs. Alles war ruhig, ja mehr noch: Die Stadt schien tot zu sein.
Auf dem Straßenasphalt und den Dächern der Häuser hatte sich ein dünner, rötlich schimmernder Staub niedergelegt; einem Leichentuch gleich schien er den Ort für die Ewigkeit abgedeckt zu haben. Es war gespenstisch und neben der anfänglichen Beklemmung stellte sich nun ein Anflug von Panik bei mir ein. Ich versuchte, mich zu beruhigen, steckte mir eine Zigarette an und setzte mich zum Rauchen auf eine alte vergammelte Parkbank.
Ich war ursprünglich zum Besichtigen der mittelalterlichen Burganlage in die Stadt gekommen und wollte einen ruhigen Tag verleben. So ruhig allerdings hatte ich mir diesen nicht vorgestellt, und es war auch nicht mein Wunsch gewesen, eine Stadt vorzufinden, in der nur noch ich zu existieren schien. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand einer dieser völlig überdimensionierten allradbetriebenen SUV, den ich mir einmal näher anschauen wollte. Ich musste unbedingt in Erfahrung bringen, was hier vorgefallen war. Meine Neugierde war groß, aber meine Furcht nicht minder.

Der Morgen hatte schon nicht sonderlich gut begonnen. Wie man so schön sagt: Mit dem verkehrten Fuß zuerst aus dem Bett. Wie auch immer, ich kippte beim Aufstehen das Glas Wasser um, welches ich auf einem Nachttisch abgestellt hatte. Fängt ja gut an, dachte ich bei mir, wischte das Nass mit einem Taschentuch auf und bereitete mir anschließend das Frühstück mit einem ordentlich starken Filterkaffee zu. Heute wollte ich auf alle Fälle einen relaxten Tag verbringen, nachdem ich zuvor in hektischer Betriebsamkeit eine ganze Menge Dinge erledigt hatte, die in den Schubladen meiner Wohnung langsam zu verstauben drohten.
Als Schriftsteller war ich nicht sonderlich erfolgreich gewesen in den letzten Jahren. Nachdem ich feststellen musste, dass mit Essays im Grunde kein Geld zu verdienen war, versuchte ich es mit Science Fiction. Über diverse Internetportale hatte ich mir mit meinen Storys zwar einen gewissen Namen gemacht und auch einen Verlag an der Hand, der aber hatte bedauerlicherweise wenig Interesse an Zeitreisen und Paralleluniversen. Der Erfolg war also eher mäßig und so war ich weiterhin auf Transferleistungen des Staates angewiesen, sprich: Ich bezog Arbeitslosengeld und konnte mich hiermit und den diversen Zuwendungen aus anderen Quellen so leidlich über Wasser halten. Einen Wagen konnte ich mir nicht leisten und musste daher auf das Angebot der öffentlichen Verkehrsmittel zurückgreifen.
Nachdem ich nochmals einen Blick auf meine letzte Story geworfen hatte – betitelt war diese mit „Tod einer Stadt“ – bekam ich wieder dieses nervöse Zucken der Augenlider, welches mir signalisierte: So gibt das nichts! Ich fand den Plot wirklich gut, schien aber wohl der Einzige zu sein, der diese Meinung vertrat. Ich begann, mich damit abzufinden, dass die Geschichte vom letzten auf Erden wandelnden Homo Sapiens mir nicht mal das Geld für eine Currywurst bescheren würde. So schrieb ich also wieder mal für meine Schubladen, oder für mein verletztes Ego, welches schon recht bandagiert und zugepflastert war aus meiner Hausapotheke – hauptsächlich mit Kopfschmerztabletten.



Schritt für Schritt kam ich dem Monstertruck näher. Niemand saß darin und ich fragte mich, ob ich vielleicht halluzinierte. Vor zehn Jahren etwa hatte ich mal im Drogenrausch eine intensive Erfahrung damit und kletterte Spiderman gleich die Hauswand meines Wohnblocks hoch und landete in der Wohnung eines Nachbarn und schließlich in der Klappse! Nun musste ich an den Film „Andromeda – Tödlicher Staub aus dem All“ denken, der mich als Jugendlicher zutiefst beeindruckt hatte.
Doch plötzlich bewegte sich etwas hinter mir. Ein baumlanger, unrasierter Kerl legte seine Pranke auf meine Schulter und ich fuhr herum, trat aber sofort einen Schritt zurück.
>Du gehörst nicht in diese Zeit!< meinte der Typ und sprach es in einem akzentfreien Deutsch, was nicht selbstverständlich war in unserem schönen Dreiländereck.
>Den Eindruck habe ich auch< entgegnete ich und meinte es ernst.
Er streckte mir hastig eine Apparatur mit den Worten entgegen, ich solle eine Reihe von Symbolen drücken, um wieder in meinem Zimmer in Aachen zu landen, und vor allem wieder in meiner Zeit. Dies war ja nicht meine Zeit, denn so wie ich ihn verstand, war Krieg ausgebrochen und ein AKW hochgegangen und die Zeit im Verhältnis zu meiner Zeit um fünf Jahre fortgeschritten. Aber im Grunde sollte ich das eigentlich gar nicht erfahren dürfen, doch weil der Typ ein vermeintlicher Verräter war und verfolgt wurde, war das jetzt auch egal. Auf meine Frage, wie ich mal eben so fünf Jahre in die Zukunft gelangen konnte, meinte der Kerl, ich sei wahrscheinlich durch ein Zeitloch gefallen. Komisch nur, dass ich davon nichts mitbekommen hatte; musste wohl in der Nacht passiert sein, als ich tief und fest geschlafen hatte.



Aus den Aufzeichnungen von Tom Hazard, Privatdetektiv

Oakland stand im Schatten von San Francisco, hatte nicht die Faszination und Strahlkraft einer Hippiemetropole, aber ich war ja auch kein Hippie und konnte es mir ganz bestimmt nicht leisten, den ganzen Tag bekifft in irgendwelchen Kommunen rumzuhängen.
Seit Tagen hing über der Stadt eine Glocke aus Hitze und Smog und machte das Leben nicht gerade einfacher für mich. Gestern hatte ich einen gewalttätigen Ex-Knacki der Justiz zugeführt und gegen Abend sprang eine junge Selbstmörderin vom Dach unseres Hauses – ich sah noch schemenhaft wie der Körper an meinem Fenster vorbei in die Tiefe stürzte und fragte mich, ob ich nicht doch wieder aufs Land nach Idaho zu meinem Onkel Herbert ziehen sollte. Der hatte eine Ranch mit tausenden von Rindviechern und sonstigem Getier. Ich könnte dort als Vorarbeiter einen Job bekommen, der gar nicht schlecht bezahlt sein würde. Aber der Preis wäre die Aufgabe meiner Autonomie, meiner Freiheit. Noch war ich einfach nicht so weit, diesen Schritt zu unternehmen.
Anne war heute Mittag zu einem Kurzbesuch in mein Büro gekommen und meinte >>Tom, lass uns heiraten, wir sind nun schon so lange zusammen, und du hast mir versprochen, dass wir in unseren Flitterwochen an die Keys nach Florida fliegen<<. Die Vorstellung, mich mit Machete bewaffnet bei brütender Hitze durch eine sumpfige von Moskitos verseuchte Landschaft zu schlagen, trieb mir Schweißperlen auf die Stirn, was nicht sonderlich verwunderte – das Thermometer zeigte auch in Oakland 40 Grad an, und ich fragte mich, ob meine Verlobte nicht begonnen hatte, so langsam den Verstand zu verlieren.
Ich goss mir einen Bourbon ein, entnahm dem Kühlschrank eine Menge Eiswürfel, wovon ich mir eine Handvoll durch das Gesicht rieb. Wenn Außerirdische von einem Eisplaneten Oakland besuchen würden, dann wäre dies garantiert nur eine Stippvisite, denn wahrlich, es war kaum auszuhalten, und ich hatte noch eine ganze Reihe von Aufträgen zu erledigen. Und dann meine Verlobte, die einfach nicht locker ließ mit dieser gottverdammten Heirat.
Ich hatte John, den Hausmeister, vergessen! John schuldete mir noch 100 lupenreine Dollars und ich konnte das Geld verdammt gut brauchen, denn immerhin war Monatsende und üblicherweise war ich wieder mal Pleite. Das Telefon klingelte, die Sache mit John musste warten. Am anderen Ende krächzte mir eine weinerliche Stimme die Muschel voll, ich solle unbedingt ins St. Jakobs kommen. Es war mein alter Kumpel Dennis, der sich wieder mal mit Drogen vollgepumpt hatte. Ich gab ihm allenfalls noch ein, zwei Jahre, dann würde er das Zeitliche segnen. Wir kannten uns allerdings schon seit unserer Kindergartenzeit und das verbindet. Tragisch war, dass Dennis beim Georgetown Massaker seine ganze Familie verloren und dieses Trauma nie wirklich überwunden hatte. Drogen waren allerdings auch keine Lösung. Ich nahm einen kräftigen Schluck, goss noch einmal ein und dachte über meinen Alkoholkonsum nach. Alkohol war auch eine Droge und ich musste wirklich aufpassen, denn ich trank inzwischen jeden Tag mindestens eine halbe Flasche Bourbon. Allerdings arbeitete ich sehr hart und beschwichtigte damit mein schlechtes Gewissen.
Dennis schien verzweifelt zu sein. Er musste wieder einmal in die Entgiftung, denn die Drogen hatten ihm den letzten Schneid genommen. Ich beschloss also, gegen alle meine Geschäftsprinzipien zu verstoßen, den Abbot-Auftrag zu verschieben und mich um meinen Freund zu kümmern. Ich packte ein paar Sachen zusammen, fischte die Autoschlüssel aus der leeren Kaffeetasse und verließ mein Büro, um mich hinter das Steuer meines alten Buick zu klemmen.

>Du siehst verdammt scheiße aus, Dennis!<.
Beim Anblick meines Kumpels fiel mir einfach nicht ein, zu lügen. Sein Gesicht schien eingefroren – und das bei der Hitze - die Augen traten aus den Höhlen und er schien um Jahre gealtert, seit ich ihn vor vier Wochen das letzte Mal gesehen hatte. Die Ordensbrüder vom Heiligen St. Jakob taten ihren Dienst wie gewohnt und kannten Dennis schon als Stammgast in ihrer Einrichtung. Auch mich kannten sie und vertrauten mir, weshalb ich auch nicht auf Drogen kontrolliert wurde, was mir natürlich nur Recht war.
>Thomas, du musst mich hier raus holen! Ich gehöre hier nicht hin, und du auch nicht<. Das war das erste Mal, dass mich Dennis mit Thomas ansprach – er musste in der Tat schwer krank sein. Ich versuchte im Folgenden und scheinbar endlos lange zu erklären, dass es für ihn die beste Therapie sei, wenigstens noch ein paar Wochen zu bleiben, bis er sich körperlich wieder einigermaßen hergestellt habe. Aber das ging bei ihm – wie immer – ins eine Ohr rein und zum anderen raus. Ich gab es auf.
Ich war schon im Begriff, aufzustehen und diese Einrichtung und Dennis auf Nimmerwiedersehen den Rücken zuzukehren, als er einen futuristisch aussehenden Gegenstand aus einem Stoffbeutel, den er unter dem Tisch deponiert hatte, hervorzuziehen.
>Letzte Nacht hatte ich Besuch aus der Pegasus Galaxie<.
Bei diesen Worten fiel mir sofort die Science Fiction Serie „Stargate Atlantis“ ein. Einerseits wurde zwar mein Interesse geweckt, andererseits, als ich Dennis` irre Augen sah, als dieser die kryptischen Symbole auf der Skala dieser ominösen Apparatur betrachtete, konnte ich nicht umhin, am Verstand meines Freundes zu zweifeln. Während wir miteinander redeten und zu keinem Ergebnis kamen, hatte sich in unserem Rücken etwas zusammengebraut und das sah nicht gut aus. Schwergewichtige muskulöse Krankenpfleger steckten die Köpfe zusammen und der Dunkelhäutige unter ihnen deutete mit dem Zeigefinger auf uns. Wenig später setzte sich das Pflegetrio in Gang und nahm Kurs auf uns. Auch Dennis hatte inzwischen die unheilvolle Situation erkannt:
>Los, Tom, raus hier in den Garten!< Ich zögerte keinen Augenblick und schon stolperten wir mehr oder weniger in Richtung Gartenportal. Wir hatten schon die Türschwelle passiert und konnten das sonnenverbrannte Grün einer ehemaligen Rasenfläche erkennen, als Dennis erneut stolperte und ich über ihn fiel. Ich konnte noch das wutschnaubende Geheul unserer Jäger vernehmen, als Dennis beim Niedergang eines der Symbole auf der Apparatur berührte und es um uns herum schlagartig dunkel und dann wieder hell wurde. Alles ging rasend schnell: Wir wurden wie durch eine Art Strudel gezogen und herum gewirbelt, und ich musste an die Serie „Time Tunnel“ denken. Wenn ich mit dem Trinken aufhöre, dann schraube ich auch meinen Science Fiction Konsum herunter, dachte ich, als der Strudel zum Stillstand kam und wir förmlich ausgespuckt wurden in einen Raum, der ein Wohnzimmer zu sein schien.


Nachdem ich dieses bizarre Erlebnis in Herzogenrath hatte, glaubte ich, hervorragend gerüstet zu sein, um meinen aktuellen Roman nun doch fertigzustellen zu können. Allerdings muss ich zugeben, waren die Vorfälle auch sehr beunruhigend und nicht leicht zu verstehen. Ich war also durch die Zeit gereist, und nachdem ich das scheinbar richtige Symbol auf dem Apparat gedrückt hatte, war ich wieder zurück in meiner Wohnung in Aachen. Um mich davon zu überzeugen, dass auch die Zeit stimmte, schaltete ich die Glotze ein. Der Flachbildschirm präsentierte mir das Ergebnis, welches mich zufriedenstellte: Es war der 06. September 2017, ein Mittwoch. Die Reise allerdings durch Zeit und Raum hatte mich geschafft und ich war durstig. Ich begab mich in die Küche zum Kühlschrank, hatte gerade die Tür geöffnet, als es im Wohnzimmer einen Blitz zu geben schien und es kurz darauf knallte, als hätte jemand mehrere Dutzend aufgeblasene Papiertüten auf einmal mit der flachen Hand zum Platzen gebracht. Daraufhin vernahm ich ein Poltern und das Aufstöhnen mehrerer Personen. Wäre ich doch besser im Bett geblieben heute morgen, dachte ich ein wenig resigniert.
>Halt, keinen Schritt weiter!< der Typ zielte mit einem Apparat auf mich, den ich schon kannte. Ich war mir ziemlich sicher, dass dieses Gerät nicht als Waffe fungierte und so konnte mir die Gestalt keine Angst einjagen.
>Schon gut, alles in bester Ordnung!< versuchte ich die Situation zu entschärfen. Da standen sie also: Zwei Typen aus Amerika - oder besser - aus dem Amerika einer Parallelwelt! Der mit der „Waffe“ in der Hand hatte starke Ähnlichkeiten mit meinem Freund André, den ich schon länger nicht mehr gesehen hatte und vielleicht schon verstorben war infolge seiner Opiatsucht. Der, der da ziemlich ruhig neben „André zwo“ stand, ähnelte tatsächlich mir! Ich konnte es kaum glauben, aber nahm es zur Kenntnis, denn es passte schließlich ja auch in die bisherige Kette der Vorkommnisse.
>Ich bin Tom, Privatdetektiv aus Oakland und das hier< dabei zeigte er auf den recht entnervt dreinschauenden Mann neben sich >das ist mein Kumpel Dennis, seines Zeichens, freier Künstler, leider aber auch manchmal zwangsweise Insasse der gut organisierten Einrichtung vom Heiligen St. Jakob<. Die Ironie seiner Worte war offenkundig und hinterließ im Gesicht seines Freundes Dennis deutliche Spuren des Missfallens erkennen.
Wenn ich bedachte, was ich bis dahin so erlebt hatte – immerhin sollte in fünf Jahren die Welt untergehen oder auch nicht - hielt ich mich eigentlich ganz gut und glaubte, die Situation souverän im Griff zu haben. Ich lud die „Reisenden“ ein, Platz an meinem Esszimmertisch zu nehmen, damit wir in Ruhe die Situation analysieren konnten. Nach ein paar Tassen Kaffee und etwas Kartoffelsalat, den ich noch vom Vortag übrig hatte, schienen wir drei gestärkt und wieder einigermaßen klar zu sein. Uns allen war von Beginn an nicht entgangen, dass uns etwas verband und auch, dass wir nur gemeinsam die Situation meistern konnten. Wir waren uns aber überhaupt nicht im Klaren darüber, ob das Raum-Zeitgefüge durch irgendwelche Gründe durcheinander geraten war, oder die beiden Apparaturen maßgeblich entscheidend waren für die Sprünge durch Raum und Zeit. Und was war mit „meinem“ Fremden, der auf der Flucht zu sein schien? Wir mussten unbedingt Antworten auf diese Fragen erhalten. Es ist das Eine, zu glauben, dass es Parallelwelten gibt, etwas völlig anderes ist es, tatsächlich zwischen mehreren Welten zu reisen und dabei auch noch die Gesetzmäßigkeiten der Zeit aufs Gröbste zu verletzen - Einstein würde sich im Grabe herumdrehen!
>Wir sollten meinen Freund André aufsuchen, ich bin davon überzeugt, nur zu viert können wir die Rätsel, mit denen wir es zu tun haben, lösen< ich war in der Tat von dem überzeugt, was ich da von mir gab, ohne allerdings zu wissen, ob André überhaupt derzeit in der Lage war, bei einem solchen Unternehmen mitzumischen.
>Bevor wir das tun, sollte Dennis uns einmal erzählen, wie er an den Apparat gekommen ist< Tom deutete auf die Apparatur, die nun auf dem Tisch neben Kaffeekanne und Milchtüte lag.
>Nicht nur du hattest Kontakt zu dem Alien< meinte Dennis und schaute mich dabei an, nicht ohne Stolz, und er schien in der Tat etwas aufzublühen, während sein fahler Teint allmählich eine leicht rötliche Farbnuance erhielt.
Toms Freund erzählte, wie der Fremde eines Tages in der Klappsmühle in Oakland auftauchte, sich dort aber ausschließlich Dennis offenbarte. Dennis vermied es, in der Klinik jemandem von seinem Treffen mit dem Außerirdischen zu erzählen, was nur allzu verständlich schien. Wer glaubt schon in der Psychiatrie einem Suchtmittelabhängigen auf Entzug, die Story von einem Alien Besuch aus einer Parallelwelt?! Ziemlich bekloppt wäre das und würde allemal dazu führen, dass man sehr, sehr ruhig gestellt würde, sabbernd und furzend zwar, aber ansonsten sehr, sehr ruhig!



Aus den Aufzeichnungen von Tom Hazard, Privatdetektiv

Ich wäre viel lieber wieder in Oakland gewesen, auch wenn es dort ziemlich heiß war bei meiner „Abreise“. Die Fahrt mit dem Bus war entsetzlich. Es war eng in dem Vehikel, schmutzig und laut. Wir saßen zusammengepfercht beieinander und Paul erzählte von seinem Freund André, den wir im Begriff waren aufzusuchen. Ich bekam nur die Hälfte mit, ständig wurde von irgendwelchen Fahrgästen die Taste für das Haltesignal gedrückt, und der Ton, der dabei entstand, ging durch Mark und Bein und ließ mich jedes Mal zusammenfahren. In Oakland und San Francisco war ich schon einiges gewohnt, aber das öffentliche Beförderungssystem von Aachen war das Allerletzte! Ich sehnte mich danach, gemütlich in meinem alten Buick durch die Gegend zu schaukeln und an der Bucht von Frisco einen Stopp einzulegen, um den Sonnenuntergang zu erleben bei einem oder zwei Bourbon. Wobei ich beim Thema bin: Paul war trockener Alkoholiker und seit mehreren Jahren abstinent. Aber beruflich erfolgreich war er nicht, lebte mehr oder weniger von der Fürsorge und seine Bücher oder was auch immer er da schrieb, verkauften sich nicht wirklich gut. Ich befand mich zwar selbst auch nicht unbedingt ständig auf der Überholspur des Lebens, aber immerhin konnte ich von meinem verdienten Geld ganz gut über die Runden kommen, und selbst Dennis, der alte Suchtknubbel, hatte eine Galerie an der Hand, die ihm immer wieder eines seiner Bilder für viel Geld abkaufte, und so schaffte auch er es, für ein bescheidenes Auskommen zu sorgen. Würde er nicht ständig sein Geld in Drogen umsetzen, könnte auch Dennis sich ein Auto leisten und käme vielleicht auch mal aus seiner schäbigen alten Kaschemme raus, in der er nun schon seit mehr als zehn Jahren lebte.
Was mich mit Paul verband, war unsere Vorliebe für Science Fiction, nur mit dem Unterschied, dass er die Geschichten schrieb, ich dafür konsumierte sie lediglich. Nach den aktuellen Vorkommnissen allerdings konnte ich mir nicht mehr vorstellen, jemals noch wirklich unbefangen eine Folge Stargate oder Voyager anzuschauen, denn schließlich war ich nun mitten drin - in was auch immer. Als Detektiv konnte ich mich damit nicht zufrieden geben, ich musste herausbekommen, was da gespielt wurde, wer hinter den Reisen steckte, wer dieser Reisende war, der sich immerhin bei Dennis mit Namen Ortas vorgestellt hatte.



Als André die Tür öffnete, war ich echt von den Socken. Der Mann sah richtig erholt und gepflegt aus und hatte sich ein völlig neues Outfit zugelegt. Wie er da vor uns stand mit den schütteren langen blonden Haaren und dem dunkelblauen Overall, auf dem Ornamente der Himmelsscheibe von Nebra abgebildet zu sein schienen, jedenfalls meinte ich eine Mondsichel und das Abbild der Sonne sowie Sterne zu erkennen, erinnerte er mich an einen Zauberer, der sich gerade für eine Vorstellung zurechtgemacht hatte. Wir umarmten uns herzlich und tauschten einige freundliche Worte aus, die von Respekt und Verständnis geprägt waren, wie es bei uns üblich war. Allerdings scheuten wir auch niemals davor zurück, unbequeme Wahrheiten ziemlich schonungslos und ehrlich zu äußern; dies schloss auch ehrliche Kritik hinsichtlich unserer Werke aus Malerei, Musik und Literatur mit ein. Ich stellte André meine neuen Bekannten Dennis und Tom vor, und er lud uns sofort mit gastfreundlicher und offenherziger Geste ein, ihm in seine aufgeräumte und sehr saubere Wohnung zu folgen.
Dennis und André waren sich auf Anhieb sympathisch. Ich fragte mich, ob der Motor hierfür ihre diskrete Zurückhaltung war, die offenkundige „verwandtschaftliche“ Beziehung der beiden oder eine ganz tiefsitzende Vertrautheit mit einem Gegenüber, den man schon ein Leben lang glaubte zu kennen und zwar besser als sich selbst. Wahrscheinlich war es von allen drei Aspekten etwas, was die zwei Menschen zu Seelenverwandten machte.
Es dauerte nicht lange und die zwei Künstler saßen am Klavier und ein Boogie Woogie erfüllte das Wohnzimmer. Das brachte eine ungeheuer gute Stimmung in die Bude, was dem Nachbarn von André gar nicht Recht war, denn der trommelte mit den Fäusten gegen die Wand und ließ damit unmissverständlich sein Missfallen über die Geräuschentwicklung in Andrés Wohnung erkennen. Ich saß währenddessen mit Tom auf der Couch und wir wippten mit den Beinen zum gelungenen Klaviersound. André und Dennis verstanden sich blind auf der Klaviatur des Blues. Wir konnten gar nicht genug bekommen und applaudierten zum grandiosen Auftritt der zwei Virtuosen. In der Vergangenheit hatten mich Andrés Musikstücke eher etwas traurig gestimmt, sie waren voller Melancholie oder kamen etwas behäbig daher und waren eher von einem ruhigen Jazz geprägt, als von Tempo, Heiterkeit und Optimismus. Allerdings entwickelte er stetig sein Improvisationstalent und hatte trotz seiner Sucht einige Erfolge auf dem Gebiet der musikalischen Interpretationen aus Klassik, Blues und Jazz zu vermelden. Inzwischen hatte er auch ein Buch für Kinder geschrieben, denen das Werk einen Einstieg vermitteln sollte in die Welt des Klavierspielens. Ich hatte seine Bemühungen auf diesen künstlerischen Gebieten achtungsvoll begleitet. Andererseits hatte André es hervorragend verstanden, mich zu motivieren und meine eigenen Talente zu erkennen. Letztlich wurde die Kunst im Laufe der Jahre zu einem Lebensinhalt, der von nicht zu unterschätzender Relevanz für meine Existenz und Abstinenz wurde.
In einer musikalischen Pause tranken wir Kaffee, aßen eine Kleinigkeit und tauschten uns über den bisherigen Stand der Dinge aus. Wir waren uns darüber einig, dass wir einerseits mit den zwei Apparaten über eine ungeheure Macht verfügten, denn immerhin konnten wir mit den Geräten Zeit und Raum „überlisten“ und theoretisch reisen, wohin wir nur wollten: In die Zukunft, in die Vergangenheit und in parallele Welten. Andererseits waren wir praktisch nicht imstande eine genaue und exakte Bestimmung und Bedienung der Geräte vorzunehmen, und das war Voraussetzung für ein sicheres Reisen durch das Multiversum, denn genau darum handelte es sich. Wir waren nicht nur nicht alleine in einem Universum, in einem einzigen scheinbar unendlichen Weltall, nein, es gab derer gleich eine ganze Reihe von Universen, also ein Multiversum. Wir hatten mehrere Optionen erörtert: Eine davon bestand darin, einfach zu warten, bis dieser Ortas wieder auftauchte. Die andere, wesentlich verführerische war die, aufs Geratewohl eine „Adresse“ auf einem der Geräte einzugeben und zu schauen, was passiert. Wieso verfügten wir eigentlich über zwei dieser Geräte? Eines hätte für unsere kleine Gruppe vollauf gereicht. Die Frage konnte wahrscheinlich nur der geheimnisvolle Ortas beantworten.
>Na ja, vielleicht gibt es ja auch jenseits des Planeten Erde so etwas wie geplante Obsoleszenz<. Dies ging von meiner Seite in die Richtung von Tom, denn immerhin handelte es sich bei der gezielten minderwertigen Herstellung von Produkten um eine amerikanische „Erfindung“. Tom verstand sofort, allerdings hatte ich ihn, ohne es zu wollen, in seinem Nationalstolz verletzt. Ich hatte ihn eigentlich nicht für einen Patrioten gehalten, aber die Amerikaner, und zwar auch die jenseits unserer Welt, tickten da wohl etwas anders als so mancher Europäer. Darüber hinaus war seinerzeit die geplante Obsoleszenz vom Obersten Gerichtshof der USA auch verboten worden.
>Was wir in Amerika produzieren ist längst nicht alles für den Müll – mein Buick ist schon über fünfzig Jahre alt und rollt und rollt und rollt< machte sich Tom ein wenig Luft und spielte dabei auf die ehemalige Werbung für den VW-Käfer an.
>Keep on rolling Baby< machte Dennis verbal auf sich aufmerksam. Der hatte sich, bis auf seine musikalische Aktivität am Klavier, kommunikativ etwas zurückgehalten. Im Gegensatz zu André, der ja ebenfalls drogenabhängig war, sah dieser deutlich gezeichneter aus als mein Freund, und ich hatte den Eindruck, dass er einen ziemlich unangenehmen Entzug durchmachte. Vor diesem Hintergrund verspürte ich einen deutlichen Respekt auch vor diesem Mann, da er uns doch mit André zusammen eine wirklich vortreffliche Vorstellung am Klavier abgeliefert hatte. Das war schon ein Kraftakt unter den Umständen und eine Willensbekundung gegen die Sucht!
>Ich muss euch etwas mitteilen< meinte Dennis >Ich denke, ich weiß wie man die Apparate bedient!<.
Wir fühlten uns, wie vor den Kopf gestoßen! Da saßen wir in Andrés Wohnung und rätselten, wie wir nun weiter vorgehen sollten, und dann so etwas!
>Tut mir leid, aber ich war total derangiert, als Ortas mir den Code des Geräts erklärte. Ich muss mich schon sehr konzentrieren, um das alles noch auf die Reihe zu kriegen – ist nicht einfach, nicht einfach!<
Dennis stützte seine Ellbogen auf den Tisch ab und seine Hände fuhren wie zur Beruhigung und zum Nachdenken über die Stirn und den Hals. Ich konnte Dennis gut verstehen, aber ein wenig früher hätte er uns doch informieren können. Kommunikationsprobleme schienen universellen Charakter zu haben, oder besser, multiversellen, das war mir nun klar. Tom hatte die ganze Zeit geschwiegen, und als ich ihn so ansah, dachte ich über unsere kosmische Verwandtschaft nach. Ich kam zu dem Schluss, dass wir alle verschieden waren. Mein Doppelgänger war nicht wirklich ein Doppelgänger oder gar ein Zwilling. Bei aller äußeren Ähnlichkeit: Die soziale Prägung hinterlässt überall und zu jeder Zeit ihre ganz eigenen individuellen Spuren, und das ist in einer Parallelwelt nicht anders, und der Mensch ist eben nicht nur das Ergebnis seiner Gene. Ich hatte den Eindruck, dass Tom längst nicht so strukturiert war wie ich, und das vor dem Hintergrund, dass dieser sein Geld als Detektiv verdiente, empfand ich sogar als ein Handicap. Vielleicht war ich aber auch nur voreingenommen, und es war mir tief im Innern eher peinlich, einen „Zwilling“ an der Seite zu haben, und dann auch noch jemanden, der mir etwas voraus zu haben schien: Tom stand wirklich mit beiden Beinen im Leben, konnte von seinem verdienten Geld existieren, war im Gegensatz zu mir völlig unabhängig und musste zu keiner Behörde als Bittsteller.
>Was ist los?< unterbrach Tom meine Gedanken.
>Ich dachte über meinen Freund André nach< schwindelte ich ihn an.
>Ach, dann erzähl mal von deinen Gedanken!< schaltete sich jetzt mein Freund ein.
Ich führte eine Rede über Freundschaft - ganz allgemein - und blickte abwechselnd jeden Einzelnen dabei an und kam dann ganz speziell auf André zu sprechen, indem ich mich hoch erfreut darüber zeigte, dass dieser ganz offensichtlich seine Drogenkarriere beendet hatte. Es war noch nicht lange her, da nahm ich manchmal an, dass mein Freund schon tot wäre. Meine Hoffnung, dass dieser noch jemals die Kurve kriegen würde, tendierte fast gegen Null.
>Ich habe in Warstein eine Therapie gemacht und das war wirklich gut für mich. Das ist jetzt drei, vier Monate her. Methadon nehme ich fast gar nicht mehr!<
>Super!< entgegnete ich meinem Freund >Das ist viel mehr, als man erwarten konnte. Und das vor dem Hintergrund der hohen Dosierung und deines Beikonsums - wirklich allerhand!<.
>Ich unterbreche ja ungern eure interessante Unterhaltung, aber wir wollten doch an die Apparate ran!< schaltete sich jetzt Dennis ein.Und auch Tom fühlte sich genötigt, verbal wieder etwas in den Ring zu werfen:
>Du hast Recht. Machen wir das! Wir sollten diesen Ortas wiederfinden, um herauszufinden, was hinter seinen Besuchen steckt, denn ohne Grund wird der bei euch beiden nicht aufgekreuzt sein<


Bis zum nächsten Morgen hatten wir es im Großen und Ganzen geschafft, dem Gerät seine Geheimnisse zu entreißen. Die zwei oberen Reihen, die fremdartige Symbole anzeigten – nur eines war uns bekannt und zwar das der Erde, welches ein umgekehrtes V mit einem kleinen Kreis auf der Spitze zeigt – bestimmten die Reiseziele im Multiversum. Die mittlere Zahlenreihe musste genutzt werden, um den Zeitpunkt für das Eintreffen am Zielort zu bestimmen. Ganz unten auf der Apparatur, die übrigens schlicht und einfach gebaut war und in einem metallic-grau daherkam, befand sich eine Art Drehscheibe, die letztlich aber ein Monitor war, auf dem man eine Justierung für die Ortsankunft vornehmen konnte, sozusagen eine google earth Software für das Multiversum. Das Gerät ist so genial einfach strukturiert, dagegen ist die Bedienung eines Smartphones „höhere Wissenschaft“, dachte ich mehrmals und äußerte es auch. Die Jungs lächelten, und wir waren froh, dass wir nicht an einer unüberwindbar vermuteten Hürde gescheitert waren. Wir philosophierten noch eine ganze Zeitlang über das Thema Realität und hatten Andrés Kaffeevorrat inzwischen erheblich dezimiert.
>Über sieben Milliarden Menschen, das heißt: Sieben Milliarden Realitäten, denn jedes Individuum lebt in seiner eigenen Realität<, meinte ich und Tom entgegnete:
>Und nun sind wir gewiss, dass es neben dieser enormen Quantität, auch noch die Qualität und den Luxus von Reisen in Parallelwelten gibt<.
Die leichte Ironie seiner Worte war für mich nicht zu überhören, und ich pflichtete Tom bei, dass wir vor einer enormen Herausforderung standen – und das vor allem mental. Hätten wir gewusst, was da noch alles auf uns zukommen würde, hätten wir vielleicht anders gehandelt und die Geräte in die Gelbe Tonne geworfen.
>Ratatouille!< stieß ich schließlich seufzend hervor.
>Wie bitte?< wollte Dennis von mir wissen.
>Ratatouille, das ist so eine Gemüsesauce mit Zucchini und Tomaten, essen wir meistens mit Nudeln zusammen< klärte mein Freund die anderen auf.
Wir stellten sehr schnell fest, dass wir alle Hunger hatten. Glücklicherweise verfügte André inzwischen über einen formidablen Vorrat an Lebensmitteln in seinem Kühlschrank. Ich ging mit meinem Freund in die Küche und wir bereiteten ein Mahl zu, das es in sich hatte – dank des eruptiven ungarischen Paprikapulvers, welches ich sehr großzügig in die Tomatensauce mischte.
>Das lässt uns nochmals den Sinn für die Realität schärfen< meinte ich zu André, der nicht besonders glücklich schien über mein allzu lockeres Handling mit dem Gewürzpulver.
Ansonsten waren wir zwei schon immer ein hervorragendes Team in der Küche gewesen, es machte einfach Spaß, zusammen zu kochen.


Die Pegasus Zwerggalaxie ist der galaktische Begleiter der bekannteren Andromeda Galaxie und von der Erde etwa drei Millionen Lichtjahre entfernt. Der Planet Erde findet in etwa seine Entsprechung im Planeten Anderran, der als dritter Gesteinsplanet von insgesamt neun Trabanten um eine etwa fünf Milliarden Jahre alte Sonne seine Bahn zieht. Anderran ist ein Planet des Wassers: Nur ein Viertel der Oberfläche ist trockenes Land. Das Leben spielt sich hauptsächlich auf den klimatisch bevorzugten größeren Hauptinseln am Äquator ab. Der Planet hat nur 20 Millionen Bewohner und gut die Hälfte davon siedeln auf der Hauptinsel Kongress, die etwa halb so groß wie das Europa der Erde ist. Die recht geringe Anzahl seiner Bewohner resultiert aus der Tatsache, dass Überbevölkerung ein Resultat von Armut ist und die gibt es auf dem Planeten nicht. Dass die Anderraner ein im Vergleich zur irdischen Rasse größeres Körperwachstum erreichen, ist der hervorragenden Ernährungssituation zu verdanken und der absoluten Absenz von Hungerkatastrophen und Mangelerscheinungen, und das seit Generationen. Die auf Anderran entwickelte humanoide Rasse hat eine ethisch hochentwickelte friedliche Zivilisation geschaffen, allerdings auch mit einer fremden Technologie, die Reisen in weit entfernte Galaxien und zudem Zeitreisen ermöglicht.
Ortas hatte sich über mehrere politische Leitlinien hinweggesetzt und saß nun in einer „Gefängniszelle“ in der größten Stadt des Inselkontinents Kongress in Auroville ein. Der Raum war groß genug für eine Einzelperson und durchaus komfortabel, hatte ein gut gepolstertes Bett und war auch sonst ordentlich möbliert, und die Tür stand offen! Im Gegensatz zu den meisten Knästen auf der Erde, das reinste Penthouse, dachte Ortas. Er wusste, Zeitreisen galten auf Anderran als pädagogische Lehreinheit, und allenfalls waren sie noch erlaubt als touristische Ausnahme nur in Begleitung von Fachpersonal. Die Reisen sollten die Moral schärfen und einen gesunden Index schaffen, der das ethische Profil seiner Bewohner schärft und sein Handeln in Einklang mit dem Ideal der Herrschaftslosigkeit bringt. Gerade die Erde im Sonnensystem der Milchstraße galt als hervorragendes bzw. abschreckendes Beispiel für exzessive Gewalt und abartiges Barbarentum degenerierter Staatskörper und alles vernichtender Kriege. Aus diesem Grunde wurde die Erde sehr gerne als Reiseziel gebucht und galt bei der Akademie für bildende Moralphilosophie seit Jahrzehnten als Topfavorit, um aufzuzeigen, wohin Willkür und übertriebenes Machtstreben führen können und was dies unter Humanoiden anrichtet.
Nachdem man Ortas bei seinem ersten Besuch auf der Erde vorschriftsmäßig jemanden an seine Seite gestellt hatte, dies aber nicht seinen Vorstellungen von Anarchie sowie einer diskreten Kontaktaufnahme mit den Erdenbürgern entsprach und er sich überdies von seiner damaligen Begleiterin reglementiert fühlte, hatte er sich entschlossen, das nächste Mal alleine zu reisen, obschon dies nicht erlaubt war. Beim späteren Kontakt mit den vier Erdbewohnern hatte er diesen zwei der Multiverser Geräte überlassen – das wohl ernsthaftere Vergehen, als das Alleinreisen. Es war aber Ortas feste Überzeugung gewesen – und war es immer noch – dass auch die Menschen auf der Erde in den Genuss dieser Technologie kommen sollten. Denn ähnlich wie Akademiekollege Leartas war auch Ortas davon überzeugt, dass eine verwandtschaftliche Beziehung bestand zwischen den Bewohnern der Erde und den Anderranern. Dass sich im selben Zeitkontinuum auf zwei Planeten zwei menschliche Rassen entwickelt haben sollten, konnte kein ernsthaft denkender Anderraner annehmen - auch Ortas nicht - dies berührte aber eines der sensibelsten Themenbereiche auf Anderran, neben neuen Interpretationen der anarchistischen Lehre vom Zusammenleben der Individuen.
Ortas konnte die Anklagepunkte gegen ihn durchaus nachvollziehen, empfand aber viele Beschäftigte aus den verschiedensten Institutionen von Anderran als ziemlich dekadent gewordenen und für die Anarchie sogar gefährlichen Mob, dem es zu widerstehen galt und mithin eine Opposition zu entwickeln. Mit seiner Einschätzung um die wirklichen Gefahrenpotenziale stand er in der anderranischen Gesellschaft nicht alleine – das wusste er ganz genau und es beruhigte ein wenig das angespannte Nervenkostüm.
Er hatte gerade seine Zelle verlassen, um zur Befragung vor dem Komitee zu eilen, als ihm der Traum wieder einfiel, den er letzte Nacht gehabt hatte und ihm seither soviel Unbehagen bereitete. In dem Traum war Ortas in einem Astronautenanzug auf einer ihm fremden Welt gelandet und vor ihm zu seinem Füßen saß ein nacktes Kleinkind auf seinem feuerroten Bobbycar an einem dieser klischeebeladenen Sandstrände irgendeines Planeten in den Weiten des Alls. In der Linken hatte das Kind ein kleines Schäufelchen, mit dem es immer wieder Sand auf das Plastik Vehikel schaufelte. Zu Ortas meinte es, er solle doch bitte den Sand vom Bobbycar entfernen, was er auch vorsichtig tat mit seinen Fingern, die in dem dicken schweren Anzug steckten. Das Kind beobachtete missmutig die Anstrengungen des Ortas, und jedes Mal, wenn er ein wenig Sand entfernt hatte, schaufelte der Kleine wieder neuen auf den Wagen und meinte zu ihm >Wenn noch Sand auf dem Bobbycar ist, dann darf ich nicht nach Hause kommen, hat meine Mutter mich gewarnt, also mach schon!< Aber so sehr Ortas sich auch anstrengte, der Kleine kippte immer soviel neuen Sand auf das Bobbycar, wie er es schaffte, von ihm zu entfernen – eine Sisyphusarbeit, dachte er im Traum. Und auch der Kleine kämpfte gegen den Strom der Zeit, so sehr er sich auch bemühte, er steckte mit seinem Vehikel im Sand fest und kam nicht von der Stelle; seine kleinen nackten Beinchen, die noch Babyspeck erkennen ließen, erreichten nicht einmal den Boden des Strandes, an dem die beiden sich befanden. Weit entfernt am Horizont versank ein riesiger rotglühender Feuerball ganz langsam und ein letztes Mal im blauen Meer dieses Planeten. Es war das Letzte seiner Art, dachte Ortas, und war schweißgebadet aus diesem seltsamen Traum erwacht.



Der Superkontinent Pangaea war längst zerbrochen. Südlich des Äquators begann sich Madagaskar und Indien von der Afrikanischen Platte bzw. von Gondwana zu lösen. Später bildeten sich im Indischen Ozean die Seychellen, dessen Pflanzenbewuchs bisweilen an die Botanik des Mesozoikums erinnert. Im Oberjura gleicht Europa größtenteils einer Wasserwelt und das Klima ist eher subtropisch. Man könnte sich in der Karibik wähnen. Deutschland und die vielen anderen Länder gibt es noch nicht. An die Stelle, wo unser Staat in 150 Millionen Jahren präsent sein wird, hat das Tethys Meer und der kommende Nordatlantik die größten Teile des ehemaligen Pangaeas überspült. Dennoch gibt es Land an dem Ort, wo sehr viel später Deutschland sein wird: die sogenannte Rheinische Insel, an deren Südrand sich Korallenriffe befinden, die von allerlei Getier bevölkert werden und einem nördlichen Bereich, der eher brackig ist und nicht die Lebensfülle aufweist wie der Süden. Regelmäßig wird das Land von einem Monsun heimgesucht, der auch die anderen Inseln „Europas“ immer wieder mit starkem Dauerregen und heftigen Orkanen überzieht.

150.172.017 Millionen Jahre vor unserer Zeit, 07. September, Donnerstag Nachmittag, 14.13 Uhr, Nordrand der Rheinischen Insel
Der Allosaurier, ein Vorfahre des berüchtigten Tyranno Saurus Rex, war aus dem Nichts auf der Bühne erschienen und hatte sich auf einen nicht ganz ausgewachsenen Iguanodon gestürzt. Anschließend begann er mit seinen mehrere Dutzend vorhandenen Sägezähnen Fleischstücke aus dem Opfer herauszureißen; dabei hielt er den mächtigen Vegetarier mithilfe seines Eigengewichts und den stummelartigen Vorderarmen, die jeweils drei messerscharfe Krallen an den Händen hatten, am Boden.
Offenbar hatte er die Halsschlagader des Opfers zerfetzt, denn das Blut spritzte in mehreren Fontänen zu allen Seiten hin weg, während sich aus dem Dickicht langsam die zwei Jungtiere des Raubsauriers und der soeben erlegten Beute näherten.
Die Szene war so unwirklich, dass es mir beinahe unmöglich erschien, sie einzuordnen und als real existent zu akzeptieren. André, Tom und Dennis lagen neben mir hinter einer Düne und beobachteten die mesozoische Schlachterei. Wir befanden uns 150 Millionen Jahre vor unserer Zeit, wobei sich das Rheinland auf dem Globus viel näher südlich befand und Deutschland den Rhein noch gar nicht kannte und die gesamte Topografie eher den karibischen Eilanden der Bahamas entsprach. Klimatisch verhielt es sich entsprechend: Es war tropisch warm, die Luft drückend schwül und am Horizont zogen Cumulonimbus Wolken auf, und vielleicht drohte sogar ein Hurricane über die Inseln hinwegzuziehen.
>Da haben wir ja nochmal Glück gehabt, dass wir nicht direkt auf dem Servierteller gelandet sind!< meinte André, während die Zähne des Allosauriers tief in das Fleisch des vormals friedlichen Pflanzenfressers stießen.
>Da wäre ich mir nicht so sicher mit dem Glück< entgegnete Dennis, der nach einer rückwärtigen Drehung sichtlich erschauderte.
Im Hintergrund hatte sich eine Herde kleinerer Compsognatheae zusammengerottet und schien uns zu beobachten. Der Compsognathus – griechisch: zierlicher Kiefer - wird von der Wissenschaft als eher klein wie ein Truthahn beschrieben. Auch seine Zähne waren klein, aber scharf. Vermutlich verschluckten sie ihre Beute am Stück, konnten bestimmt aber auch unter Zuhilfenahme ihrer Dreifingerklauen Fleischbrocken aus größeren Opfern herausreißen. In „Jurassic Parc“ wurden die Tiere als äußerst klug präsentiert und gingen zusammen mit ihresgleichen auf die Jagd. Hollywood schien mit seiner Annahme Recht zu haben, denn die Tiere bereiteten sich allem Anschein nach darauf vor, ihre Beute einzukreisen – und die vermeintliche Beute waren wir! Wir hatten zwar immer noch unseren Multiversal Transporter, um uns vom Acker zu machen, aber der zeigte zu unserem doppelten Entsetzen an, dass wir erst in fünf Monaten würden den Ort verlassen können, da sich vorher kein Wurmloch aufbauen ließ, um eine Passage zu gewährleisten. Weil der Allosaurier mit seiner Beute beschäftigt war und nun auch die beiden Jungtiere mit dem großen Fressen begangen, entschlossen wir uns, über die Düne zu kriechen und einen etwa zwei Kilometer entfernten Fluss zu erreichen, der uns von den Sauriern wegführte.
Wir hatten gerade die Oberkante der Düne erreicht, als fürchterlicher Lärm durch die Gegend hallte. Eine solche Akustik hatte noch niemand von uns vernommen, und sie war tatsächlich markerschütternd. Aus einem kleinen See nahe der Zwergsaurier stießen überraschend und sehr schnell mehrere Urzeitkrokodile hervor und packten sich eins nach dem anderen die kleinen Fleischfresser, dabei vermischten sich die Schmerzensschreie der Opfer mit den grausigen Tönen, die den Kehlen der Monster Krokodile entstiegen. Wir wollten uns das nicht mehr weiter anhören und ansehen und begannen nun zu rennen, so weit denn eine hohe Geschwindigkeit möglich war auf einem Untergrund aus Sand und Kies.
Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, bis wir das Ufer des Flusses erreichten, der mit einer Art Schilf bewachsen war, aber viel mächtiger als das Schilf des Holozäns, eher baumartig als ein Gras. Es waren tatsächlich Schachtelhalme, die es schon seit dem Zeitalter des Devons auf der Erde gibt. Dazu gesellten sich die zahlreichen Baumfarne, die sich weiträumig über ein welliges Plateau verteilten. Dies konnte eigentlich keine Insel sein: Der Allosaurier und der Iguanodon waren viel zu gewaltig gewachsen für ein kleines Eiland und auch die Topografie passte nicht wirklich als Indiz für eine Insel. Und doch war es eine Insel, zwar in etwa mit den Ausmaßen des späteren Großbritannien vergleichbar, aber eine Insel, umspült von der Tethys und dem Nordmeer. Und da gehörten wiederum auch die kleinen Zwergsaurier hinein, die eigentlich ihr Paradies hätten finden können, wären sie nicht von den Monster Krokodilen, die immerhin bis zu sechs Meter lang werden konnten, gefressen worden.
André hatte immer noch seinen blauen Zaubermantel an, und irgendwie passte diese Kleidung zu dem, was bisher passiert war. Ich war wirklich stolz, einen solchen Freund zu haben. Er hatte es tatsächlich geschafft - und es grenzte schon an Zauberei - sich aus dem Dreck, in dem er sich befunden hatte, wieder herauszuwühlen.
>Ich habe Kopfschmerzen und Herz-Rhythmusstörungen< seufzte ich leise in Richtung Andrés Ohr, damit unsere beiden Freunde nicht hören konnten, wie es um mich stand.
>Und ich habe meine Pillen vergessen< entgegnete André, dem es noch schlechter ging als mir. Er hatte sichtlich Entzugserscheinungen.
Die Luft im Jura hatte einen höheren Sauerstoffgehalt, was eigentlich nicht negativ zu bewerten war, aber auch der Kohlendioxidgehalt war höher und zwar um das vierfache dessen, was wir aus unserer Zeit gewohnt waren, außer vielleicht auf der Wilhelmstraße in Aachen, wo die Kraftfahrzeuge unserer so fortschrittlichen Gesellschaft die fossilen Brennstoffe verdampften, denen wir in Form von Schachtelhalmen und Baumfarnen leibhaftig und eben noch nicht zersetzt und über Jahrmillionen fossilisiert, gepresst, gestreckt, gestaucht und gefaltet gegenüberstanden.
Um uns herum war es still geworden. Den Fluss hatten wir lebend und unverletzt erreicht. In einigen hundert Metern schien sich das Gewässer in einem Delta zu öffnen, um sich anschließend ins Nordmeer zu ergießen. Gesäumt war das Ufer von niederwüchsigen Schachtelhalmen, die mal krautig, mal eher fleischigen Wuchses daherkamen. Essen konnte man das bestimmt nicht, dachte ich, und mir wurde gewahr, dass wir ein ernsthaftes Problem hatten: Ein Nahrungsmittelproblem!
Da es noch keine Blütenpflanzen im Jura gab, war auch nicht damit zu rechnen, irgendwo essbares Obst vorzufinden. Wir hatten nicht im geringsten damit gerechnet, für mehrere Monate gefangen zu sein in einer Welt, die uns im Grunde völlig fremd war. Zwar hatten die Apparate von Ortas einiges drauf, wie wir inzwischen festgestellt hatten, aber einen gedeckten Tisch konnten die uns bestimmt nicht bereiten.
Tom und Dennis standen schon wieder auf den Beinen, während André und ich immer noch auf dem Boden kauerten.
>Wir sollten nach Spuren des Außerirdischen suchen< begann Tom in unsere trostlose Runde zu sprechen >Dieser Ort hier war der letzte, den der Mann auf seinem Gerät einprogrammiert hatte. Jedenfalls sagen uns das die Daten<. Tom schaute in Richtung Dennis, der sich den Rucksack abnahm und ihn öffnete, um den Multiversal Transporter zu entnehmen.
>Ja, wahrlich ein Zauberkasten, dieses Gerät!< tippte auf die Rückseite, und eine kleine Flamme schoss aus einem Ventil auf der Oberkante, an der sich Dennis eine Zigarette anzündete.
>Sau-Aas!< stieß ich hervor, und war tatsächlich hocherfreut und zugleich belustigt über die Demonstration von so viel Geschick und glücklichem Umstand. Trotz meiner Herz-Rhythmusstörungen schlich ich zu Dennis rüber und steckte mir an dem Gerät eine von meinen Zigarillos an. Tat das gut, nach den ganzen Strapazen, sich endlich mal wieder dieser Leidenschaft hinzugeben. Ich machte zwei, drei tiefe Züge, und mir ging es gleich viel besser, und an Essen dachte ich auch nicht mehr.
>Wieso gerade das Jura?< murmelte Tom vor sich hin und Dennis entgegnete:
>Der Mann scheint ein Faible für Saurier zu haben<. Er inhalierte den Rauch seiner Zigarette und blies kleine blaue Kringel in die mesozoische Luft.
>Das ist in der Tat sehr seltsam. Vielleicht ist Ortas aber auch Zoologe und möchte die Tiere Vorort studieren< stellte ich eine Vermutung an.
>Ich fürchte, da können wir momentan nur Rätsel raten. Wir müssen diesen Ortas einfach finden; der Mann ist uns ein paar Erklärungen schuldig< schloss Tom den Dialog zwischen uns ab.



Anarchie war als Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf Anderran das Ergebnis einer langen politischen und historischen Entwicklung inklusive einiger Rückschritte und Fehlschläge - Anarchie war eben auch ein Lernprozess. Grundlage und auch Ursprung des Erfolgs der Anderraner war sicherlich die hohe Priorität einer gesamtgesellschaftlichen Ethik, die den geistig-moralischen Konsens aller Bewohner erforderte, und zwar wirklich aller Bewohner. Der Ethik-Konsens beinhaltete beispielsweise Gewaltverzicht ebenso, wie den Schutz und Respekt vor der natürlichen Umwelt. Darum gab es keine Gefängniszellen im herkömmlichen Sinne und auch keinen Raubbau beim Ausschöpfen von natürlichen Ressourcen.
Die Bewohner von Anderran berieten und entschieden im Kollektiv – hierarchische Strukturen gab es nicht. Ja, mehr noch: Niemand wünschte sich ernsthaft, dass ein anderer oder eine andere über jemanden Macht ausübte und bestimmte, wie sie oder er das Leben zu führen hatte. Im Zuge der Egalität aller Anderraner setzte ein beispielloser Boom des Wissenstransfers ein. Teilhaber am Wissensschatz waren alle Bewohner des Planeten. Jeder forschte an irgend etwas oder hatte Reagenzgläser und sonstige Apparaturen bei sich Zuhause stehen. Andere erprobten sich in elektronischen Tüfteleien und setzten sich zum Ziel, irgendeine Verbesserung durchzuführen in den öffentlichen Gebäuden der Stadt. Wiederum andere waren Experten auf dem Gebiet der Molekularbiologie, oder wie Ortas Frau Lesalee, eine hervorragende Arzneimittelkundlerin. Sie hatte sich inzwischen ganz und gar der Heilkunde verschrieben, denn Krankheiten und den Tod gab es auch auf Anderran.
Ortas war inzwischen beim Verhör erschienen. Das Wort „Verhör“ existierte eigentlich gar nicht, es handelte sich eher um eine Art sondierende Unterredung. Der Anderraner war weder beglückt, seine ehemaligen Kollegen von der Akademie für Moralphilosophie wiederzusehen, noch hatte er Furcht vor ihnen. Er war durchaus bereit, zu kooperieren. Kooperation und Konsens waren schon lange wichtige Teilbereiche der Soziologie und schließlich auch verankert im Staatswesen von Anderran.
>Da hast du uns ja was schönes eingebrockt< begrüßte ihn Lesalee, die ähnlich großgewachsen war wie Ortas, und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die linke Wange.
>Und rasieren könntest du dich auch mal wieder< fügte sie hinzu.
>Danke für deine erstaunliche Empathie an diesem wunderschönen Morgen< entgegnete Ortas ironisch.
Ein Mitarbeiter des Ethikrates hieß alle Anwesenden willkommen – ein Dutzend an der Zahl – und bat darum, Platz zu nehmen an einer etwas überdimensionierten langen Tafel. Als alle saßen, verlas jemand das Protokoll und die Tagesordnung, denn mit einem kurzen Palaver war nicht zu rechnen. Das kann eine lange Sitzung werden, lang wie der viel zu lange Tisch, dachte Ortas. Das war nun mal der Preis der Anarchie: Endlos lang erscheinende Diskussionen und Sitzungen. Geduld war etwas, was jeder Mensch irgendwie mitbringen musste, sonst war er gnadenlos verloren auf diesem Planeten!


Während wir alle vier am kiesigen Ufer zwischen den Schachtelhalmen saßen und Zigaretten rauchend dem sanften Gurgeln des Wassers lauschten, hatte dies beinahe meditativ beruhigenden Charakter bekommen, sodass keiner von uns bemerkte, wie sich im Südosten über der Tethys ein Unwetter zusammenbraute. Die Wolken hatten sich weiter verdichtet und wurden zusehends dunkler, beinahe schwarz. Und schon zuckten erste Blitze aus der Mitte der Kumulation hervor und der Hall des nachfolgenden Donners ließ uns endlich aufhorchen.
>Tja, das war`s dann wohl< Tatsächlich war ich genervt und hätte so gerne noch ein wenig mich langgestreckt und erholt von den Strapazen, aber allem Anschein nach war es mit der Ruhe jetzt vorbei.
>Und wir haben noch nicht einmal die Gegend genauer untersucht< Tom schaute besorgt in Richtung der Gewitterwolken. Stimmt, sinnierte ich weiter, und so wie es aussah, mussten wir nach Süden durch das wellige Hügelland ziehen, das mit Wäldern aus Baumfarnen, Kiefern und Mammutbäumen bewachsen war. Hier an der Nordküste gab es scheinbar nichts, was unsere Nahrungsmittelvorräte hätte ergänzen können. Da im Jura sich die Gräser noch nicht entwickelt hatten, konnte es auch kein Getreide geben. Wir hatten in unseren Rucksäcken gerade mal Energieriegel für zwei, drei Tage und ausreichend Wasser für die gleiche Zeit. Wobei Wasser hier nicht das Problem schien, denn das kühle Nass des Flusses hatten wir schon gekostet, und es war gut, jurassisch gut! Der Multiversalcomputer hatte uns dank seiner genialen Technik auch eine Karte offeriert, auf dem die mitteleuropäischen Eilande, inklusive der Insel auf der wir uns befanden, abgebildet waren. Es gab mehr als 20 Inseln, wobei die Iberische die Größte schien. Wir hatten uns während der Rast am Fluss damit vertraut gemacht und mussten bedauerlicherweise aber feststellen, dass die Detailgenauigkeit zu wünschen übrig ließ. Schließlich gab es hier kein google earth oder ein vergleichbares System. Die Karten waren digitale Aufzeichnungen, von wem auch immer auf das Gerät transferiert worden.
>Wir folgen am besten dem Fluss nach Süden!< Toms Ton hatte etwas Gebieterisches, was mir gar nicht gefiel. Selbst sein Freund Dennis schaute ihn mit gerunzelter Stirn an, verkniff sich aber, etwas zu sagen. Dafür sorgte André beinahe für einen ersten Eklat zwischen uns.
>Wer hat denn dich zum Führer bestimmt?< und schaute Tom dabei direkt in die Augen, während es um uns herum immer dunkler wurde. >Führer befiel, wir folgen dir!< parodierte ich Adolf Hitler, wobei ich dies glücklicherweise aber so leise tat, dass dies ausschließlich André mitbekam, und der hatte immer vollstes Verständnis für meine Marotten gehabt.
>In meinem Job bin ich es gewohnt, die Initiative zu ergreifen, und im übrigen haben wir wohl kaum Zeit, hier diskutierend noch lange herumzusitzen!< Tom zeigte auf das Wasser der kommenden Nordsee, welches begonnen hatte, sich merklich vom Land zurückzuziehen. Das war kein Spiel von Ebbe und Flut, sondern sah ganz nach den Vorboten eines Tsunamis aus. Wir mussten unseren Plan ändern; in aller Ruhe durchs Land zu ziehen war jetzt nicht mehr opportun. So schnell wie möglich mussten wir auf das Plateau, welches sich weiter östlich vom Fluss erstreckte. Es war unbedingt nötig, so hoch wie möglich über dem Meeresspiegel zu sein, bevor die Fluten hier alles unter sich begraben, stellte ich mit ziemlichem Entsetzen fest.


Aus den Aufzeichnungen von Tom Hazard

Paul hatte eine gute Kondition. Ich hatte mitbekommen, wie er seinem Freund erzählte, er habe Herz-Rhythmusstörungen. Der Mann glaubte, ich hätte das nicht gehört. Alle Achtung, dachte ich, dafür rennt er, als wäre der Teufel hinter ihm her! Er war jetzt etwa 100 Meter vor mir, fiel auf die Schnauze, stand wieder auf, fiel wieder auf`s Maul, stand erneut auf und lief weiter. Respekt! So etwas hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Ich musste mich erinnern, wie ich am Lake Michigan an der Grenze zu Kanada einen Fall hatte, der relativ gut voran ging, und die Zeit erlaubte es mir, etwas Sport zu treiben. Ich lud damals Dennis zu mir ein, mich beim Laufsport zu begleiten. Wir spulten gemeinsam einige Kilometer am See runter. Das war jetzt etwa fünf Jahre her, nein, es würde erst in 150 Millionen Jahre in der Zukunft stattfinden. Stimmt, ich musste noch etwas warten, bis ich mich selbst am Lake Michigan laufen sehen würde. Ich schüttelte den Gedanken wieder ab; die Situation war schon unbehaglich genug.
Paul rutschte wieder auf dem Kiesbett aus, rappelte sich aber wieder auf. Die Distanz zu ihm hatte sich etwas verringert. André und Dennis lagen jetzt gewaltig zurück und auch das Meer war weiter auf dem Rückmarsch. Der Fluss schien dahinzufließen, als würden ihn die Umwälzungen nicht im Geringsten etwas anhaben. Wahrscheinlich würde er noch Millionen Jahre sein Bett behalten.
Ich war so in Gedanken verstrickt, dass ich den Ast, der vor meinen Füßen auftauchte, zu spät bemerkte, und nun legte auch ich mich flach. Dabei hatte ich mir das rechte Hosenbein aufgerissen und das Knie begann zu bluten. Hart sein, dran bleiben, machte ich mir Mut, rappelte mich wieder auf, um bloß nicht den Kontakt zu Paul zu verlieren. So liefen wir etwa eine halbe Stunde, bis langsam das Plateau erschien, auf dem sich immer dichter werdender Koniferenwald erstreckte. Ab hier mussten wir nun gehen und klettern. Das Gelände ließ keine andere Alternative mehr zu. Hier und da unterbrach auf dem Plateau ein Riesenmammutbaum die Monotonie des niederen Koniferenbestandes. Ich war erstaunt, auch einige Araucarien zu erkennen. Später sollte man mich darüber aufklären, dass es dieses Bäume schon seit dem Beginn der Trias auf der Erde gab, also gut 250 Millionen Jahre.
Paul hatte gerade das Plateau erreicht, als mir klar wurde, dass die Abenddämmerung eingesetzt hatte. Wir hatten alles Pech der Galaxien wie Scheiße an unseren Schuhen kleben; ich stolperte erneut, konnte mich aber noch so gerade wieder fangen. Paul begann in der Ferne mit den Armen zu wedeln und zu rufen. Ich hörte, wie er die Namen unserer beiden Schlusslichter rief: André, Dennis, lauft!!! Ich hatte es fast geschafft, war beinahe angelangt auf einem felsigen Vorsprung am Rande des Plateaus. Die beiden Jungs hinter mir hatten noch gut 500 Meter vor sich – die Bedauernswerten! Die Drogen hatten Spuren hinterlassen – bei beiden. Konditionell hatten die wahrlich nicht mehr viel zu bieten.
Die kommende blaue Nordsee, die eigentlich eher wie die Südsee daherkam, war nun grau und bedrohlich geworden, aber auch von einer geheimnisvollen Schönheit. Ich kletterte die letzten Meter, oder kroch sie eigentlich, denn ich pfiff aus dem letzten Loch. Ich musste mit dem Rauchen aufhören, und jetzt im Oberjura hatte ich die besten Voraussetzungen, um mit diesem Laster zu brechen, denn Kentucky Tabak würde ich hier wohl nirgends bekommen. Und auch meinen geliebten Straight Bourbon würde ich mir die nächsten Monate wohl abschminken müssen.



Ich hatte Tom auf dem Weg nach oben auf das Plateau erfolgreich abgehängt. Mir war es allerdings ein Rätsel, wie ich unter diesen Bedingungen so rennen und klettern konnte und dann auch noch Wettkampf Gefühle entwickelte. Ich war ja schließlich nicht im Aachener Stadtwald, wo ich einige Male bei einem Benefizlauf der Beste meiner Altersklasse geworden war. Primär für meine Schnelligkeit und Ausdauer war ein anderer Aspekt verantwortlich:
Ich hatte eine unglaubliche Angst, von einer Wasserwand verschluckt zu werden. Das Zusammentreffen mit den Sauriern hatte mich nicht so erschreckt, wie zu realisieren, dass da eine ungeheuer entfesselte, alles verschlingende Naturgewalt auf uns zurollte. Eher hätte ich mich von einem Allosaurus fressen lassen, als unter Wasser gedrückt zu werden, völlig ohne Chance, jemals noch lebend wieder die klare Luft oberhalb der See einatmen zu können. Das Gefühl, ersticken zu müssen, kam einem Trauma gleich. Darum rannte ich, was das Zeugs hielt. Oben angekommen realisierte ich, dass es noch weiter ging. Das Plateau markierte noch nicht die höchste Stelle der Rheinischen Insel. Einige Kilometer weiter Richtung Süden ging es erneut bergan. Intuitiv war mir klar, dass hier Endstation war. Entweder die Höhe reichte aus, um uns vor den Wassermassen zu retten, oder eben nicht. Im zweiten Fall würden wir im Jura unser nasses Grab finden.
Den letzten Gedanken gerade zu Ende gedacht, traf mich etwas am Hinterkopf und erzeugte alsbald einen Schmerzimpuls. Es war ein Kiefernzapfen, den der Wind von einem der Bäume gerissen hatte. Und dann realisierte ich auch, dass der Wind sich zum Sturm entwickelte. Als wenn das alles noch nicht gereicht hätte, fing auch der Boden unter meinen Füßen an zu beben und sich nach allen Seiten hin zu bewegen. Natürlich, einem Tsunami ging immer ein Beben voraus, aber hier schien auch das Kausalitätsprinzip nicht mehr zu greifen. Vielleicht hatte aber auch das ursächliche Beben von unserem Ort so weit entfernt stattgefunden, dass es uns erst jetzt mit Verzögerung, bedingt durch die Dichte des Gesteins, erreichte.
Tom hatte nur noch ein paar Meter vor sich bis zum Kamm. Ich sah, dass er große Mühe hatte, und als er nur noch eine Armlänge entfernt war, reichte ich ihm die Hand und zog ihn auf das Plateau.
>Danke!<. Tom rang nach Luft. Als wir beide wieder auf den Beinen waren, gaben wir Dennis und André durch unsere Gesten zu verstehen, dass sie sich beeilen sollen, denn längst hatte sich am Horizont eine Wassersäule von ungeheuren Ausmaßen gebildet und würde schon sehr bald an der Küste zusammenbrechen und die Fluten gegen die Hänge drücken oder sie überspülen.
Einige Pterosaurier - Flugsaurier mit acht Metern Flügelspannweite - hatten sich entschlossen, die Insel zu verlassen und sich nach sicheren Gefilden abzusetzen.
Ich schaute nach oben:
>Tja, leider können wir das nicht!< bedauerte ich leicht seufzend und blickte den prähistorischen Segelfliegern wehmütig hinterher.
>Da sind die beiden!< Tom zeigte auf unsere Freunde. Wir zogen sie die letzten Zentimeter den Hang hoch. Andrés Zaubermantel war nur noch ein Fetzen. Kein gutes Omen, dachte ich und kümmerte mich um meinen Freund, der, nachdem er durchgeatmet hatte, zu schimpfen begann:
>Was macht ihr beide für einen Stress? Das Wasser ist doch noch Kilometer entfernt!<.
Ich war da anderer Ansicht.
Die schäumende Krone mit samt Wasserwand begann in die Tiefe zu stürzen und dann lärmend und gewalttätig den Grund der See und des Ufers aufzuschlitzen, ihm das Geröll und Gestein aus seinem Herzen zu reißen, um uns den ganzen Schotter anschließend auf den noch trockenen Boden vor die geschundenen Leiber zu schleudern.
>Du hast Recht< meinte André, als dieser sah, wie sich die Walze aus Wasser, Gestein und Schlamm immer näher auf unseren Standort zubewegte. Nun begann auch der Boden wieder zu wackeln, und wir wurden glatt von den Füßen gerissen und mussten aufpassen, nicht den Hang herunterzustürzen.
>Das ist ja das absolute Inferno!< schrie Tom, der wieder mit gebieterischem Ton und Geste uns bedeutete, den Hang zu verlassen, um weiter Richtung Süden zu laufen. Ich verstand ihn nicht: Wenn das Wasser uns erreichte, würden wir nirgendwo mehr hingehen, und so blieben wir auch, wo wir gerade mehr schwankend als stehend uns aufhielten. Tom nahm das ohne Protest hin, weil auch er wohl einsah, dass es keinen Zweck mehr haben würde, schon gar nicht bei dem Sturm und bei den Beben, weiterzugehen.



Als der große Leartas, der noch größer gewachsen war als der durchschnittliche Anderraner, zu seiner Rede ansetzte, war es nach anfänglicher Unruhe im Raum, schlagartig ruhig geworden. Leartas, auch „Chales – Das Schwert der Anarchie“ genannt, stammte von einer relativ kleinen Insel am Äquator, war aber schon sehr früh nach Kongress gekommen, um bei der Akademie für Moralphilosophie mitzuarbeiten. Ortas vermutete, dass Leartas heimlich an seiner Rhetorik feilte, um schließlich doch in die Politik einsteigen zu können, und so die Arbeit in der Akademie nur ein Vorwand war, um seine wahren Absichten zu verschleiern.
>Als in grauer Vorzeit unsere Ahnen noch in den Sümpfen des Karbons von Terra nach dem Getier des Bodens jagten, um ihren entsetzlichen Hunger vor allem nach Wissen und Gerechtigkeit zu stillen, kamen sie in Wahrheit immer mehr vom Pfad der Tugendhaftigkeit und des klaren Geistes ab. Die Götter ihrer Welt von Avalaos vernebelten den Geist und machten sie blind für Fortschritt und Aufbruch. Die Egiden geschrieben für die Ewigkeit haben für so manchen hier am Tische das Zeug für das größte Märchenbuch aller Zeiten, für andere ist es allenfalls interessante Lesekost, wiederum andere sehen ein Mythen gebundenes Werk, welches nie entschlüsselt werden wird, die meisten sehen in dem Buch eine Art Ableger der Bibel beziehungsweise des Korans von Terra. Wie auch immer man sich entscheiden mag in seiner Beurteilung: Die Beeinflussung der Menschen von Anderran, zumindest derer, die schon lange nicht mehr unter uns weilen, war transzendent und findet seinen Nachhall in der Deutungshoheit von Gesetzgebung, Moral und Ethik auch unserer Zeit<.
>Das gilt es, erst einmal zu beweisen< widersprach Zolan vom Rat für Ethik.
Leartas schien völlig unbeeindruckt und führte seine Rede fort.
So kannte Ortas ihn: Ein Stoiker, vom Altertum der Erde beeinflusst. Die vielen Reisen und die dauernde Beschäftigung mit der Philosophie dieses völlig kleinen und eigentlich unbedeutenden Planeten der Milchstraße fanden seinen Niederschlag im Gebaren, Denken und Verhalten des Anderraners. Als so unbedeutend konnte man die Erde eigentlich nicht bezeichnen, wenn man diese Tatsache in eine Gesamtanalyse einfließen ließ.
Nach einer schier endlos lang erscheinenden Reise durch die Egiden kam Leartas zum eigentlichen Punkt seiner Rede, dem Sinn und der Maßstabsgenauigkeit der anarchistischen Gesetzgebung im Verbund mit der Lebensweise der Anderraner, dem Streit über die Richtlinienkompetenzen in den verschiedenen Akademien und Arbeitsgruppen und den Herausforderungen für die Zukunft, vor allem in Verbindung mit Zeitreisen durch das Multiversum.
Die Thematik nahm eine ungeheure Bandbreite ein und hätte an diesem Tage niemals auch nur annähernd und zufriedenstellend erörtert werden können. Also wurde denn auch der Beitrag des Leartas vom nicht minder geistreichen Schoonas vom wissenschaftlichen „Rat zur Erforschung von Konsequenzen aus Zeitverschiebung und Einmischung in historische Zusammenhänge auf fremden Himmelskörpern“ unterbrochen. Die Anwesenden waren alle überaus dankbar für das Interruptum.
Lesalee, kompetente und respektierte Ärztin und Arzneiforscherin sowie Freundin von Ortas, brachte es auf den Punkt. Sie, die die Pharmazie auf einen neuen bedeutenden Stand zu bringen gedachte, erhob sich von ihrem Stuhl und setzte zum Reden an:
>Wir haben alle den hervorragend recherchierten und analysierten Gedanken unseres Freundes Leartas von Dikos gelauscht. Als ethische Momentaufnahme mag sein Beitrag mit einfließen in die Beurteilung eines vorgeblichen fehlerhaften Verhaltens meines Freundes Ortas und wissenschaftlichen Mitarbeiters der Akademie für Moralphilosophie<.
Im folgenden verstand es Ortas Freundin geschickt und durchaus beeindruckend die persönliche Eigenmächtigkeit im von Ortas zu relativieren. Eine förmliche Anklage gegen den Mann hatte es tatsächlich nie gegeben, allerdings war sein Handeln dermaßen gefährlich gewesen, dass es nicht ohne Folgen schien für die ohnehin schon politisch angespannte Lage auf Anderran. Dass Ortas zwei der Multiverser auf der Erde zurückgelassen hatte und vier Erdlinge im Äther der Zeit verschwunden waren, konnte man weder ignorieren, noch konnte man damit beginnen, die gesamte anarchistische Ideologie auf Anderran in Frage zu stellen, indem man damit anfing, ein Hochsicherheitsgefängnis zu bauen oder gar die Todesstrafe für Landesverrat einzuführen. Das hätte zweifellos den Untergang des bisherigen Systems bedeutet.
Auf dem Planeten gab es im Zuge seiner historischen Entwicklung eine politische Symbiose von Anarchie und Demokratie. Das äußere demokratische Skelett wurde erst komplettiert durch seine anarchistischen Organe. Diese Konstitution hatte sich bisher bewährt, allerdings auch Federn gelassen, als die lange Zeit fruchtbarer und innovativer Ergebnisse, die sich aus den Zeitreisen ergaben, nachließen und einer zunehmend skeptischen Betrachtung und einer kritischen, aber auch gefährlichen Entwicklung wichen.
Manchmal schien es, als ginge auf Anderran eine Ära des Friedens und Lernens zu Ende und ein neuer, völlig ungewisser Zeitabschnitt würde nun für die seit langer Zeit von Gewalt und Zerstörung verschonte Welt der Anderraner beginnen.
Ortas war ein kritischer Mensch und gewiss auch ein Oppositioneller im Hinblick auf die Zweideutigkeit, was den Lerneffekt aus den Zeitreisen anbelangte, aber er hätte niemals die Anarchie als solche geopfert, um seine politischen Interessen durchzusetzen. Die Lage war sehr ernst, denn wenn es so weiterging wie bisher, würde sich das System selbst abschaffen oder eine gewalttätige Konterrevolution würde dies tun.
Fakt war, dass entgegen seinen Beteuerungen, sich Anderran schon vor langem in die Geschehnisse auf anderen Welten, aber vor allem die der Erde eingemischt hatte. Nicht erst Ortas hatte dies getan. Nur unterschieden sich seine Ziele, die mit den Besuchen auf der Erde verbunden waren, von denen seiner meisten Kollegen. Er wollte Paul, Tom, Dennis und André mit der Wahrheit konfrontieren, dass sie nicht alleine im Universum sind. Ortas versprach sich davon eine Mithilfe bei der Suche einer Lösung des Problems auf Anderran und gleichfalls wollte er der Verschwiegenheit gegenüber der Erde insgesamt ein Ende setzen. Er empfand das Verhalten der Anderraner schon immer als voyeuristisch, gegenüber den gesamten Bewohnern der Erde, und dem sollte ein Ende gesetzt werden!
Nachdem jemand am Tisch auf einer eingebauten Konsole einen Knopf gedrückt hatte, begann sich in der Mitte des Raumes ein Hologramm aufzubauen. Für Ortas war unschwer zu erkennen, dass es sich bei den vier Menschen um seine „Erdenfreunde“ handelte.
>Den Technikern des Ethikrates ist es mittels Koppelung der zwei Multiversaltransporter auf der Erde und einem Transporter hier in Kongress gelungen, die Verschwundenen ausfindig zu machen, und ich beantrage hiermit die Zurückverbringung der Vier in ihre Zeit und die Löschung ihrer Erinnerung an alles, was bisher geschehen ist!< Zolan deutete auf die Personen, die sich offenbar auf einer Art Plateau in irgendeiner Wildnis befanden und schaute dann in die Runde und erwartete alsbald eine Antwort auf seine ziemlich unverblümte Forderung.
Zolan kam Ortas vor, wie ein schlecht erzogener Materialist der Erde, wie ein großes, ungestümes Kind, welches beginnt herumzubrüllen, wenn es nicht sofort sein Spielzeug bekommt. Er war so jemand, den Ortas insgeheim verachtete, und vor allem Zolan war es, der den gesamten Ethikrat schon vor einigen Jahren in Misskredit gebracht hatte, indem man die Rotation seiner Mitglieder auf unbestimmte Zeit ausgesetzt hatte. Das kannte Ortas von der Partei „Die Grünen“ von der Erde, die einst als radikal ökologische Partei mit anarchistischen Zügen gestartet und schließlich als kapitalistischer Vorhang in den pompösen Sälen der staatstragenden Parteien geendet waren.
Die Politik der Erde hatte Ortas sehr fasziniert, so sehr, dass er manchmal gerne dort mitgemischt hätte. Es schien ihm alles so viel lebendiger, als auf Anderran, wenn auch voller Widersprüche - widersprüchlich allerdings ging es auch auf diesem Planeten zu, beendete er seine Gedanken.
>Teil Eins deiner Forderung mag ja noch erfüllt werden können, aber der zweite Teil geht wahrhaftig in eine Richtung, die hier und heute niemals entschieden werden kann. Sie tangiert im höchsten Maße das Persönlichkeitsrecht eines oder mehrerer menschlicher Individuen und bedeutet die direkte Einmischung in die inneren Angelegenheit einer fremden Welt mittels Gewalteinwirkung!< Schoonas brachte es auf den Punkt, und Ortas war überaus dankbar, dass er diesen Part nicht bringen musste. Er empfand, es wäre klug, als gemaßregelte Person hier am Tisch, Zolan nicht verbal zu attackieren. Offiziell hatte zwar der Ethikrat genau sowenig Macht wie ein Beirat, eine Kommission oder dieses Treffen heute, aber durch die Aufgabe des Rotationsprinzips war ein Tabubruch begangen worden, der die Weichen zu stellen schien auf eine Zukunft, die Ortas manchmal Angst machte. Und auch Lesalee, seine Frau, betrachtete diese Grenzverschiebungen im Gefüge des Staates als sehr gefährlich.
>Ich werde sie wieder in ihre Zeit zurückbringen!< ging nun Ortas doch in die Offensive.
>Deine Kooperation stimmt mich durchaus zuversichtlich, lieber Ortas< entgegnete Zolan.
>Ich werde es vermerken, muss allerdings darauf bestehen, dass jemand vom Rat für Ethik mit dir reist< ergänzte Zolan in einem Ton, der völlig unmissverständlich war, und Ortas wusste, dass ihn niemals mehr irgend jemand auf diesem Planeten vorbehaltlos auf Reisen schicken würde. Lesalee aber schien zufrieden mit dem Zwischenergebnis des heutigen Tages, denn sie lächelte Ortas mit diesem komplizenhaften Lächeln an, welches er so sehr liebte an ihr. Die zwei standen auf, wie auch die restlichen Teilnehmer. Das Hologramm wurde beendet, es zeigte noch gerade etwas, das wie eine riesige Wasserwand aussah, dachte Ortas, aber machte sich darüber weiter keine Gedanken. Schoonas, Leartas sowie Lesalee und Ortas standen noch eine Weile zusammen und bekundeten ihre Solidarität, vielleicht war es aber auch viel mehr, vielleicht war es die kommende Keimzelle einer neuen Generation von Anderranern. Das aber wusste niemand wirklich an diesem Tage, trotz Zeitreisen und Parallelwelten.


Die kleine Oppositionellengruppe um Ortas hatte sich in den Karsthöhlen von Kongress verabredet. Sie bewältigten die etwa 500 Kilometer lange Strecke von Auroville bis zu dem Karstgebiet im Zentrum des Inselkontinents mit den öffentlichen, elektrisch betriebenen Hubschraubern. Das Verkehrssystem auf Anderran arbeitete völlig emissionsfrei. Die Speicheraggregate (Akkus) wurden aufgeladen an dezentralen Stellen, die überall und gut erreichbar auf den Inseln von Anderran verteilt waren. Die hierfür benötigte Energie wurde durch Wasserstofffusion hergestellt.
Wasser war auf dieser Welt zu genüge vorhanden und über Solarenergie wurden die Fabriken betrieben und auch die meisten der anderen Gebäude auf Anderran. Das Bestreben war es, einen möglichst geschlossenen umweltschonenden Energiekreislauf zu etablieren, was auch funktionierte, vor allem dank der ausreichenden Sonnenenergie durch das Zentralgestirn. Am Äquator schien zudem die Sonne an den meisten Tagen des Jahres und hier lebte auch die Mehrzahl der Bewohner dieser Welt. Dort wo Anderraner abgeschieden auf kleinen Eilanden lebten, erzeugten meist Photovoltaikanlagen die benötigte Energie oder es wurde Strom geliefert, der durch die unter der Wasseroberfläche im Meeresboden verankerten Leitungssysteme zu ihnen nach Hause floss.

In einer der Kathedralen eines großen Seitenarmes etwa einen Kilometer vom Haupteingang entfernt stand in der Mitte unter einer durchsichtigen Glocke aus zentimeterdickem Plexiglas das Erste Artefakt, welches die Zeitreisen der Anderraner erst ermöglicht hatte. Der Fund wurde vor rund zweihundert Jahren gemacht und stammte ganz offensichtlich von einer technisch höher entwickelten Zivilisation als der anderranischen. Die Menschen auf diesem Planeten hätten wohl kaum in der hundert tausendjährigen Evolutionsgeschichte des Sapiens ein solch hohes Niveau erreichen können, welches ihnen ermöglichtet hätte, die dunkle Energie und die dunkle Materie des Universums zu nutzen, um Wurmlöcher zu kreieren und mit deren Hilfe durch Raum und Zeit zu reisen.
>Wir sind da< Schoonas war sichtlich erleichtert, den Treffpunkt an diesem geschichtlich so bedeutsamen Ort erreicht zu haben.
Er war mit seinen 80 Jahren nicht mehr der Jüngste und stützte sich beim Gehen auf einem Stock. Ortas und seine Frau umrundeten den Artefakt und lasen auf einer Hinweistafel die Historie von Bergung und Erforschung des Universal Transporters. Sie kannten sie eigentlich auswendig, aber man wollte unter der Menge von Touristen und sonstigen Besuchern in der Höhle nicht unnötig auffallen und benahm sich so, als würde man dem Karst einen gewöhnlichen Besuch abstatten.
Von der Kathedrale führten eine ganze Reihe von Wegen in abseitige etwas ruhigere Ecken, und es gab sogar einige kleinere kapellenartige Räume in die die Besucher sich auf Bänken niederlassen konnten, um zu ruhen oder zu meditieren. In einer dieser Räume, von dessen Decke ein paar äußerst filigrane und leicht lumineszierende Stalaktiten hingen, ließen sich die vier Anderraner zum Gespräch nieder. Sie wussten, hier waren sie ungestört.
>Du wirst dich darauf einstellen müssen, dass Zolan dich bei deiner Reise begleitet< begann Leartas ohne Umschweife.
>Und Zolan wird bestimmt noch jemanden mitnehmen, dem sein vollstes Vertrauen gilt< ergänzte Ortas.
>Wer könnte das denn sein?< wollte Lesalee wissen.
Schoonas lächelte wohl wissend.
>Dich, er wird dich dabeihaben wollen!?< meinte Lesalee ungläubig.
In der Tat war Schoonas - ebenso wie Leartas - bekannt für seine unbestechliche Art, die Wahrheit zu sagen und galt als kühler Kopf und Stratege sowie als Verfechter der alten anarchistischen Ethik von totaler Herrschaftslosigkeit und war ein klarer Gegner von Macht und Eitelkeit. Aber in Hinblick auf Krisenentwicklungen und den schwindenden Ressourcen auf Anderran, zeigte er sich durchaus kompromissbereit in so manchen staatstragenden Entwicklungen, so auch seinerzeit beim Einfrieren des Rotationsprinzips im Ethikrat.
>Ich kann das nicht glauben< schaltete sich jetzt auch Ortas ein.
>Ich werde mein bestes tun, um den Schaden, den du auf der Erde angerichtet hast, wieder gutzumachen – natürlich in Kooperation mit allen Beteiligten an dieser Mission< erwiderte Schoonas den noch immer etwas verdutzten Mitstreitern. Niemandem war der Schatten auf gefallen, der stets und überaus diskret den vier Anderranern gefolgt war.
>Schoonas, die Laus im Fell des Zolan< grummelte Leartas mehr vor sich hin, als in die Runde.
>Wie bitte?< wollte Schoonas wissen.
>Ach, nichts, ich bewundere gerade die klerikale Optik dieses Raumes< entgegnete Leartas, wohl wissend, dass Schoonas ihm das nicht abgenommen hatte.



Ich starrte wie gebannt auf die gigantische Menge an Meerwasser, die begonnen hatte, die Strömung des Flusses zu stoppen und inzwischen sogar umzukehren. Hierbei potenzierte sich die Kraft der tödlichen Wassermassen und ließ den Fluss über seine Ufer treten. Als eine weitere Monsterwelle vom Meer aus sich gegen das Land wendete, den Küstensaum aufriss und tonnenweise Schlamm und Kies und Schotter gegen das Plateau drückte, erreichte auch uns eine meterhohe Welle, ergoss sich über den Rand des Plateaus, riss uns endgültig von den Beinen und schleuderte uns wie Spielzeug durch die Gegend. Ich konnte noch beobachten, wie Andrés Zaubermantel zerriss und dachte, das war`s dann wohl!
Als ich wieder aus der Bewusstlosigkeit erwachte, brauchte ich einige Zeit, um zu realisieren, dass es dunkel war. Am Himmel stand ein Dreiviertelmond, der um einiges größer erschien, als zu meiner Zeit in Aachen. Durch die verringerte Nähe zur Erde wirkte der Mond tatsächlich größer im Jura. Ich fühlte mich entsetzlich schwach und hatte Schmerzen an der linken Hand. Ein vorsichtiger Optimismus bewog mich aber dazu, anzunehmen, dass ich mir nichts gebrochen hatte.
>André< wiederholte ich einige Male den Namen meines Freundes, der aber nicht antwortete. Ich rief auch nach den anderen, aber niemand erwiderte meine zaghaften Rufe in der dunklen Nacht des Jura auf der Rheinischen Insel. Wieso mussten wir ausgerechnet in diese Kette negativer Ereignisse hineingeraten, dachte ich bei mir, und war ziemlich resigniert, trotz meiner bisherigen Zuversicht, die ich mir im Laufe der letzten Jahre angeeignet hatte, wohl auch weil ich inzwischen einen relativ gesunden Lebenswandel einem destruktiven, begonnen hatte vorzuziehen. Aber dies hier, so schien es mir, brachte meine Selbstbeherrschtheit und den Zweckoptimismus ins Wanken. Ich kroch an den Stumpf eines Mammutbaums, der ausgehöhlt war, und in dessen Innerem das morsche Holz eine Art Polster bildete, aus dem ich eine Unterlage bereitete, auf der ich mich lang legen konnte. Die Baumscheibe war so gewaltig, hier hätten wir alle vier drin nächtigen können. In mir machte sich eine unglaubliche Traurigkeit breit bei dem Gedanken, ich könnte meinen Kumpel André auf diesem gottverdammten Planeten im Jura verloren haben. Ich spürte eine große Einsamkeit in mir und hätte mir am liebsten eine Flasche Schnaps an den Hals gesetzt, um diese Trauer zu betäuben.
Jetzt wusste ich auch, wieso meine Hand schmerzte: Ich hatte bei der Attacke der riesigen Wassermengen meinen Rucksack mit aller Macht und meiner linken Hand festgehalten, ja mich darin förmlich verkrallt. Hätte ich dies nicht getan, wäre der Rucksack wohl samt Inhalt und vor allem, was das Wichtigste war, wäre der Transporter wohl auf nimmer wiedersehen davon gerissen worden. Der Rucksack und in ihm der Garant für unserer Heimreise, für meine Heimreise, war noch da, und ich war so sehr erleichtert, dass ich tatsächlich einschlief.
Als ich das zweite Mal erwachte, stand André vor meinem „Bett“.
>Hey, es ist schon Morgen, raus aus den Federn!< woher nahm der Kerl bloß diesen sprühenden Witz und Lebenswillen - und das in dieser Situation?!
>Schon gut, schon gut< stöhnte ich und erhob mich aus dem „Nest“ des Mammutbaums, wobei mir André seine Hand entgegenstreckte, und ich ihm die andere gesunde Hand reichte. Ich war überglücklich, ihn wiederzusehen, und wir bereiteten uns erst einmal einen löslichen Kaffee, wobei es schwierig war, eine einigermaßen trockene Stelle zu finden, auf der wir uns niederlassen konnten. Während wir tranken, realisierte ich, dass hier oben auf dem Plateau die Verwüstungen längst nicht so extrem waren, wie angenommen. Die meisten Bäume hatten Orkan und Beben standgehalten. Die Welle, die uns durch die Gegend geschleudert hatte, war schon so abgeschwächt gewesen, dass sie kaum noch Schaden anrichten konnte. Die größten Zerstörungen hatte es unterhalb des Plateaus gegeben. Hätten wir es nicht rechtzeitig hier hoch geschafft, wäre das unser Ende gewesen. André und ich waren uns in dieser Einschätzung der Lage einig. Was aus Tom und Dennis geworden war: Wir wussten es nicht. Wir wollten beide zuerst unsere Wunden versorgen und dann das weitere Vorgehen beraten.



Zolan war nur 1,75 Meter groß, für einen Anderraner ziemlich klein. Aber er verfügte über die Qualitäten eines Terriers; wenn er sich einmal verbissen hatte, ließ er so schnell nicht mehr los. Er schien nicht per se bösartig zu sein, aber eine gewisse Aggressivität war schon sein Eigen. Nun saß er mit Rhena, seiner Vertrauten und Kollegin aus dem Ethikrat, in einer Kneipe von Auroville. In der Stadt trafen Menschen aller Berufsgruppen aufeinander, Menschen verschiedener Hautfarben, von den unterschiedlichsten Inseln eingereist und schließlich hier geblieben. Auroville, ein Leuchtfeuer der Kultur und Wissenschaft, hatte die Maximalgröße mit 25 Tausend Einwohnern erreicht und war im Aufbau einer Spiralgalaxie nachempfunden und wirkte in seiner Attraktivität wie ein Magnet auf die Bürger von Anderran. Überall gab es Versammlungsorte in der Stadt. Kommunikation und Bildung förderte die Sozialisation und verhinderte ein unkalkulierbares Wachstum von Kriminalität. Da es kein monetäres System gab auf diesem Planeten, wurden auch keine Mieten fällig. Häuser und Wohnungen konnten grundsätzlich von jedem Bürger in gleichem Maße kostenlos bezogen werden. So wurde Missgunst vermieden, die Egalität gefördert und der innere Frieden gewahrt. Der Name Auroville wurde gewählt in Anlehnung an die gleichnamige Stadt in Südindien auf der Erde. Und hier lag auch der Kern des aktuellen Problems auf Anderran: Auf der einen Seite verachtete man die Terraner als habgierige Egomanen und auf der anderen Seite kopierte man förmlich alternative Idealvorstellungen und Lebensweisen. Es war genau das, was Ortas als „voyeuristisches Prinzip“ beschrieb: Man pickte sich die Rosinen aus dem Kuchen und warf den Rest den Schweinen zum Fraß vor!
Rhena und Zolan hatten es sich an einem kleinen runden Holztisch unter einer Art Baldachin bequem gemacht, tranken Ale und waren bereits ein wenig berauscht von dem Getränk, was aber ihre konzentrierte Konversation nicht behinderte. Im Hintergrund hörte man dezente Synthesizerklänge.
>Wie konnte es eigentlich passieren, dass dieser Paul von der Erde von einem Moment auf den anderen in der Zeit wechselte und plötzlich inmitten eines Krieges wieder auftauchte?<. Rhena beschäftigte diese Frage schon seit längerem, und da war sie nicht die Einzige, der es so erging. Im Grunde kannten aber alle die Ursache dafür oder zumindest erahnten sie diese.
>Die Raumzeit hat Schaden genommen. Wir haben uns viel zu viel eingemischt – vielleicht hätten wir niemals den antiken Transporter reaktivieren dürfen< Zolan sprach wie Rhena sehr leise, nicht weil sie etwas zu verbergen hatten, sondern eher aus Frustration über die politische Entwicklung auf Anderran.
>Jetzt sprichst du schon wie einer dieser Oppositionellen Mystiker< meinte Rhena, ohne anklagenden Ton in der Stimme.
>Schoonas könnte dir erklären, was es mit den Paradoxien auf sich hat, wenn sich Zeitlinien verschieben, die Kausalität absurd wird<.
>Ich weiß, und am Ende steht die Explosion ganzer Welten, vielleicht die Zerstörung eines ganzen Universums. Und weil alles miteinander verknüpft ist, kann auch ein Multiversum nicht mehr existieren, wenn ihm ein wichtiges Bindeglied aus der Kette herausgerissen wird<.
>So ist es< antwortete Zolan.
>Wenn es die Paradoxien nicht beschleunigen würde, würdest du sie töten, stimmt`s?<
>Ja< gab Zolan unumwunden zu.
>Mehrfacher Mord würde aber der Sache nicht gerecht; die Risiken für alle Zeitabläufe sind einfach zu groß. Wir werden sie betäuben, und dann verfrachten wir sie zurück, da wo sie hergekommen sind, ohne Erinnerung an irgend etwas von dem, was sie erlebt haben außerhalb ihres Kontinuums<.
Rhena gab zu Bedenken, dass Schoonas nicht wirklich zu trauen war und Ortas schon gar nicht.
>Darum kommst du ja auch mit und hilfst mir bei der Jagd auf die Vier<
>Vier gegen Vier<
>Ja, wie in einem dieser Western von der Erde – du weißt schon<
>Ja, ich weiß. Nur dass wir bewaffnet sind und gut vorbereitet, unsere Gegner aber nicht!<
Zolan trank noch ein Ale und auch Rhena genehmigte sich noch ein Glas. Am Ende des Abends waren sie schon etwas zuversichtlicher geworden und in den Gesichtern der beiden zeigte sich so etwas wie ein zufriedenes Lächeln.



Es war der gleiche Raum, in dem Ortas schon einmal gesessen hatte, und auch die Konstellation der Teilnehmer an dieser Runde war die gleiche. Zolan eröffnete mit den Worten:
>Ich schlage vor, um weiteren Schaden von unserer Welt und natürlich auch den zeitlichen Zusammenhängen abzuwenden, dass noch an diesem heutigen Tage neben Ortas, der Kollege Schoonas, meine wehrte Kollegin Rhena und ich aufbrechen werden in das Jura der Erde, um die vier Menschen aufzuspüren und sie wieder in ihre Zeit zurückzubringen<.
Das kam recht selten vor, dass eine Versammlung einen so forschen Start hinlegte. In der Regel begann alles viel gemächlicher, aber Ortas sollte es Recht sein, denn er hatte wenig Interesse daran, dass diese Sitzungen ausuferten; er wollte die Rehabilitation und nicht mehr in seine Zelle zurück, auch wenn er den Raum nach Belieben verlassen konnte.
>Lieber Zolan, ich bitte darum, mir eine Frage zu beantworten< entgegnete Ortas Freundin mit bedeutungsvoller Stimme.
>Sicher, Lesalee, frag nur< antwortete Zolan beinahe emotionslos.
>Es ist mein Freund Ortas, dem der Vorwurf gemacht wird, sich gegen bedeutende Richtlinien in Wissenschaft und Soziologie gestellt zu haben. Ortas aber hat diese Dinge nicht aus Eigennutz getan, sondern um Schäden, die längst geschehen sind, offenzulegen. Um es kurz zu machen: Ich möchte wissen, wer in der Vergangenheit die universellen Zeitabläufe beeinflusst hat oder zumindest im Verdacht steht, dies getan zu haben?<.
>Ich schließe mich der Frage der äußerst kompetenten und sympathischen Ärztin Lesalee an, und hätte gerne - um ganz konkret zu werden - eine komplette Auflistung aller Zeitreisen der letzten drei Jahre!<.
Die Forderung von Leartas war absolut korrekt und das Kompliment an Ortas Freundin entsprach einer gewissen Jovialität gegenüber Lesalee und Ortas. Obwohl es so etwas wie joviales Verhalten auf Anderran eigentlich gar nicht gab - war die Jovialität doch eher ein Attribut bekannt aus Machtstrukturen und Gesellschaften, die die Ungleichheit anstelle von Egalität gesetzt hatten - war sein Verhalten und seine Einstellung dennoch geprägt von Respekt gegenüber dem Paar, weil diese in der Tat sehr gewissenhafte, umsichtige und zutiefst humanistische Persönlichkeiten waren. Die Frage war immer: Wo setzte man die Prioritäten in einer Gesellschaft. Eine Solidargemeinschaft würde die „Wertigkeit“ einer Person nicht nach seiner Dominanz im persönlichen Auftreten beurteilen, sondern eher danach, wie konstruktiv seine persönlichen Beiträge wären für den Zusammenhalt der Gesellschaft - und nicht deren Spaltung. Die Wertschätzung für eine Person ergab sich daher auch nicht aus dem Berufsstand eines Menschen.
Die Frage nach der Liste aller Zeitreisen richtete sich an Schoonas vom wissenschaftlichen Rat für Zeitverschiebungen, obwohl auch Zolans und Rhenas Arbeitsbereich über eine Liste verfügen musste. Aber Schoonas war derjenige, der sich mit seinen Mitarbeitern ganz akribisch mit dem Thema Zeit und Konsequenz und Paradoxie beschäftigte und auf dem aktuellen Stand der Dinge sein musste.
Nun musste kein Diener die Liste suchen - Untergebene und Sklaven gab es nicht und auch keine Minijobber - stattdessen erschien inmitten des Raumes erneut ein Hologramm, diesmal mit den Namen und Daten aller Zeitreisenden der letzten drei Jahre. Lesalee lud sich die Daten auf ihren Kommunikator, der einem Smartphone von der Erde glich. Leartas tat es ihr gleich. Dann ging alles sehr schnell: Zolan und Rhena händigten die Waffen aus, die sie für die Reise benötigten, Betäubungsgewehre und Gewehre gegen aggressive Saurier. Bis auf Ortas konnten sich alle mit den entsprechenden Waffen eindecken. Rhena, Zolan und Schoonas schritten schon in den Nebenraum, um sich für den Transport fertig zu machen, während sich Ortas von Lesalee verabschiedete.
>Ich wünschte, du könntest mitkommen< meinte Ortas.
Er hätte sie gerne an seiner Seite gehabt, und es wäre bestimmt auch möglich gewesen, allerdings hätte dies unglaublich viel Aufwand bedeutet, die verschiedenen Gruppen davon zu überzeugen, wie wichtig es wäre, sie mit auf die Reise zu schicken. Lesalee hatte vollstes Vertrauen in ihren Freund und war sich sicher, dass er heil aus dieser Sache rauskam. Als die beiden sich zum Abschied umarmten, übertrug Lesalee Ortas ihre zuvor gespeicherte Liste auf sein Gerät.
>Danke! Ich denke, die Namen werden mich schon noch beschäftigen< flüsterte Ortas leise in ihr Ohr und schritt ebenfalls in den Raum, wo die anderen Reisenden mit ihren Waffen und Multiversern, den Multiversaltransportern, schon warteten.
So ein Tempo in solch einer brisanten Angelegenheit, wenn wir da nicht einen Fehler gemacht haben, dachte Lesalee, und wurde sich immer sicherer, dass sie den Abreisetag hätten unbedingt verschieben müssen. Schoonas, der zuvor noch in Opposition zu Zolan stand, zeigte keinerlei Widerstand mehr und protestierte auch nicht gegen die Art der Bewaffnung. Lesalee schüttelte frustriert den Kopf im Weggehen, Ortas bekam dies nicht mehr mit.

Vor den Toren Aurovilles befanden sich auf den grünen Hügeln die Aranka Felder, die bestellt wurden, um Produkte für die Arzneiwirtschaft herzustellen. Lesalee und Leartas besuchten die dortige Arbeitsbrigade und wollten bei der Ernte mithelfen. Dort wurde ihnen berichtet, dass das überhand genommene Wachstum der Gräser zu einem Rückgang der Aranka Produktion geführt hatte, die Gräser entzogen der Aranka auf Dauer die Lebensgrundlage. Nun begann man damit, mit einfachen Gerätschaften und per Handarbeit einen Teil der Gräser zu entfernen.
Bei den nächsten Bestellungen der Böden musste man unbedingt darauf achten, dass Böden und Anbau so gestaltet wurden, dass sich gar nicht erst so viel Gras entwickeln konnte. Die Landwirtschaft und vor allem der Anbau von Arzneipflanzen geschahen nach streng ökologischen Kriterien. Salben, Öle und Tinkturen aus Aranka sowie homöopathische Globoli genossen einen sehr guten Ruf und wurden in der Medizin erfolgreich und in einem breiten Spektrum eingesetzt.
Mit Aranka wurden Sportverletzungen behandelt und Gelenkschmerzen gelindert, und auch eingesetzt bei Entzündungen, Prellungen, Verstauchungen, Insektenstichen und Zahnfleischentzündungen. Die Aranka schien ein wahres Wundermittel oder zumindest ein sehr vielseitig einsetzbares Heilkraut und eine schöne Blume obendrein. Vielleicht brauchte auch Ortas ein mittleres Wunder, dachte Lesalee, als sie mit Leartas und den Erntearbeitern durch die gelb blühende Aranka Landschaft schritt. Es war ein herrlicher Tag auf Anderran, die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen auf die Oberfläche des Planeten, und am Horizont zeichnete sich kein einziges Wölkchen ab, welches Anlass geben konnte, dass sich jemals etwas an diesem friedlichen Zustand ändern würde.



Der Wirbel war nicht wirklich ein Wirbel, eher eine Art Massage, dachte Ortas. Er genoss es sichtlich, durch den Transporterstrudel zu reisen, auch wenn die Gefahr nicht unerheblich war, am anderen Ende nicht mehr materialisiert zu werden. Dann wären nämlich sämtliche Atome des Menschen in den unendlichen Dimensionen des Multiversums verteilt worden. Ortas dachte darüber nicht weiter nach; eher beschäftigte ihn die Frage, warum Zolan mit dem Tempo so dermaßen auf die Tube gedrückt hatte und alle anderen dem Tempo gefolgt waren. Er kam sich überrumpelt vor und entwickelte eine ziemliche Wut auf Zolan.
In seinem Verstand wuchs immer mehr die Erkenntnis heran, dass Zolan etwas zu verschweigen hatte oder gar in einer Verschwörung gegen das System von Anderran verwickelt war. Vielleicht ergab die Liste, die Lesalee ihm auf seinen Kommunikator übertragen hatte, etwas konkretes, ein Name vielleicht, den Ortas kannte und der in Zusammenhang stehen könnte zu einer Revolte oder ähnlichem. Gegen diese optimistische Ansicht sprach, dass grundsätzlich niemand versucht hatte, die Liste so schnell und völlig ohne Probleme auf den Tisch zu legen. Ortas wollte bei der nächsten ungestörten Gelegenheit sich die Zeit nehmen und das Dokument, welches nicht unerheblich lang war, durchzuarbeiten.
Als die Anderraner auf der Erde des Jura materialisierten, waren sie nur noch zu dritt: Es war Schoonas, der fehlte. Ortas war sichtlich geschockt und wusste zuerst nicht, wie er reagieren sollte. Rhena und Zolan schienen nicht sonderlich erschüttert zu sein und schauten sich recht zügig und mit regen Blicken nach einem geeigneten Platz zum Übernachten um. Es war später Nachmittag und die Sonne begann sich langsam unterhalb der Wipfel der riesenhaften Mammutbäume zu verziehen. Was geht hier nur vor, dachte Ortas, und ihn beschlich das Gefühl, einem Komplott ausgeliefert zu sein.
>Was schaust du so drein, lieber Ortas? Wir müssen einen Platz herrichten für die Nacht<. Zolan untermauerte mit unmissverständlicher Geste seine Aufforderung, indem er einen imaginären Spaten durch die Luft schwang. Dieser Bastard, dieser erbärmliche, er hat Schoonas auf dem Gewissen! Er muss irgendwie den Transporter manipuliert haben, um Schoonas in den Weiten des Alls verschwinden zu lassen. Zolan der Mörder, schoss es Ortas durch den Kopf! Aber solange er keine Beweise für diese schreckliche Erkenntnis hatte, beschloss er, sich nichts anmerken zu lassen.
>Hast du vielleicht etwas mit Schoonas Verschwinden zu tun?< wollte Rhena von Zolan wissen, der aufgefallen war, wie teilnahmslos er war, als offenbar wurde, dass sie einen Mann auf ihrer Reise verloren hatten.
>Wollen wir die Sache nun gemeinsam durchziehen oder nicht?< war die barsche Antwort.
Rhena ließ sich nicht beirren und meinte:
>Von Mord ist nie die Rede gewesen. Artefakte sammeln ist das eine, aber jemanden töten ist was völlig anderes!<
Zolan hatte die Worte verstanden und ließ Rhena einfach stehen, ohne zu antworten und begann stattdessen damit, den Multiverser so zu programmieren, dass das Gerät mit einem fächerähnlichen Strahl eine Lichtung in den Wald zu fräsen begann. Viel hätte nicht gefehlt und Ortas wäre beinahe vom Strahl erfasst worden.
>Bist du wahnsinnig geworden!< schrie Ortas in Richtung Zolan. Er wusste nun endgültig Bescheid und musste unbedingt auf der Hut sein, denn sonst würde er dieses Abenteuer nicht überleben.
Nach Beendigung der Arbeit mit dem Multiverser sah die entstandene Lichtung aus, als wäre sie vertikutiert worden. Das gehäckselte Schnittgut war einfach mit dem Fächerstrahl in den angrenzenden Wald abgeleitet und dort verteilt worden. Eine wahre Pracht und Freude für jeden Garten- und Landschaftsbauer, so empfand es Zolan. Und Gartenbau kann durchaus auch gefährlich sein, dachte er weiter, und grinste ein zynisches Grinsen.



Hier unten gab es keine Pfade, keinen Asphalt, keine Infrastruktur. Damit auch keine Hotels, keinen Supermarkt, keine lärmenden stinkenden Autos, nicht einmal Hunde, die einem ständig vor die Füße liefen. Kein Fahrrad, kein Moped, keine U-Bahn, keine Straßenbahn. Am Himmel waren nirgends Flugzeuge zu erkennen, kein einziger Satellit zog seine Bahn durch den Orbit der Erde; nirgends verließ eine Rakete die Rampe eines Weltraumbahnhofs, um Menschen zum Mond oder Mars zu bringen. Trotz unserer Multiverser hatten wir kein Internet, es gab natürlich auch kein Fernsehen, keine Datenautobahnen, kein Google. Nicht einmal Radio, und überhaupt, als Bedingung für all die wunderbaren Segnungen der Moderne: Keine Elektrizität. Damit aber auch keine Atom- und Kohlekraftwerke und die zwangsläufige Zerstörung von Umwelt und Beeinträchtigung von Mensch, Tier und Pflanzenwelt. Die Erde war zwar nicht wüst und leer, aber der Mensch hatte hier seinen Fußabdruck noch lange nicht hinterlassen. Das würde noch etwa 150 Millionen Jahre dauern. Diese Zustände hätten uns selig machen können, wären wir nicht zivilisatorisch total abhängig gewesen. Hier draußen in der Wildnis zu überleben glich einem Roulette Spiel. Die Chancen standen nicht sehr gut. Es galt: Fressen oder gefressen werden – und das im wörtlichen Sinne! Und wir hockten hier fünf Monate fest. Fünf Tage, fünf Wochen ja, aber fünf Monate, das schien endlos lange. Andererseits war es schon wieder abstrakt und komisch: Wir hatten mit den Geräten theoretisch die Macht über Raum und Zeit und doch waren wir hier völlig auf uns selbst zurückgeworfen.
>Oberste Priorität muss die Beschaffung von Nahrung haben< meinte André zu mir, während ich an dem Multiverser herumfummelte.
>Recht so< entgegnete ich.
>Was machst du da?< wollte mein Freund wissen.
>Ich versuch mit dem Gerät Dennis zu lokalisieren<
Es schien mir ganz vernünftig zu sein – allerdings eine Ortung vorzunehmen ohne Satellit, war normalerweise unmöglich. Es sei denn, die Geräte funktionierten auch auf einem völlig simplen analogen Wege, dem des Funks von einem Gerät zum Nächsten, ohne irgendwelche Zwischenstationen und Verstärker.
Statt eines harmlosen Funksignals schoss wieder diese Flamme aus dem Gerät und hätte beinahe die dünnen blonden Haare meines Freundes versengt.
>Hey, was machst du jetzt< André fand das gar nicht lustig.
>Entschuldigung< ich legte das Gerät zur Seite. Wir hatten schon genügend Schrammen und zum Glück keine Brüche davongetragen; uns nun auch noch durch ungeschicktes Verhalten, sich gegenseitig zu verletzen, das hätte gewiss unsere Situation und die Chancen zu überleben, weiter verschlechtert.
>Hallo – ihr zwei!< vernahmen wir die Stimme von Tom. Der hatte auch Dennis im Schlepptau. Mit dieser Situation hatte sich die Herausforderung der Ortung erledigt und André hatte seine Haare auf dem Kopf behalten.

Es war inzwischen Mittag geworden, der zweite Tag im Jura. Ich hatte mich dazu entschlossen, den anderen von meinem Erlebnis in Herzogenrath zu erzählen.
>Bei allem, was inzwischen passiert ist, vergesse ich nicht, dass ich auch schon in die Zukunft gereist bin< begann ich mit meiner Erzählung.
Tatsächlich hatte ich mich in der Zeit bewegt, ohne dass ich den Multiverser dazu benutzte.
>Wie auch immer es geschehen ist, fünf Jahre nach meiner aktuellen Zeit schien eine globale Katastrophe im Gange zu sein< fuhr ich meinen Bericht fort.
>Und was meinte Ortas zu der Sache?< wollte Tom wissen.
>Ortas war es eigentlich, der mich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Krieg war< gab ich zur Antwort.
>Sind ja nicht gerade die besten Aussichten für eine Rückkehr aus dem Jura< meinte André dazu, und Dennis gab ihm Recht.
>Für mich sieht das ganz so aus, als wenn die Zeit aus dem Ruder gelaufen wäre und dieser Ortas steckt ganz tief in der Sache drin. Dazu passt, dass der ja auf der Flucht zu sein scheint< Tom hatte das für meinen Geschmack ganz richtig analysiert.
>Nehmen wir mal an: Dieser Ortas kommt aus einer Gesellschaft, in der Zeitreisen an der Tagesordnung sind und dieser Ortas oder auch irgend jemand anderes hat in der Zeit herumgepfuscht, so wird man vielleicht versuchen, die ganze Sache wieder ins Reine zu bringen<.
>Und Ortas wieder einzufangen und uns ebenso< ergänzte ich Toms Worte.
>Es spricht ja schon mal für sich, dass man ganz offensichtlich kein Interesse hat an höherer Stelle, dass auf der Erde ein Weltkrieg ausbricht< versuchte Dennis sich und uns aufzumuntern.
>Sehe ich auch so< gab Tom zur Antwort und führte weiter aus >Es sollte es uns also nicht wundern, wenn wir schon sehr bald Besuch erhalten werden<.
Wir kamen nach unserem Gespräch zu dem Resultat, dass wir uns nun ganz und gar auf unser Überleben auf diesem Planeten konzentrieren sollten. Wenn Ortas und seine Kumpanen auftauchten, dann würden wir schon sehen, wie es weitergeht.
Die Sonne begann schon langsam ihren Zenit zu überschreiten und wir entschlossen uns zum Aufbruch. Da wir alle vier verdammtes Glück gehabt hatten, als uns die Auswirkungen des Tsunamis von den Füßen gerissen hatte, konnten wir relativ unverletzt unsere Reise über die Rheinische Insel fortsetzen.
Wir wollten bis zum Abend, und bevor es in der Dunkelheit zu gefährlich werden würde, so viele Kilometer wie möglich hinter uns bringen. Die Wälder auf dem Plateau waren – wie gesagt – von dem Orkan nicht allzu sehr beschädigt worden. Es waren eher einzelne alte morsche Riesenmammutbäume, die gefällt vom Sturm ganz klar belegten, dass es ein Unwetter gegeben haben musste. Das Marschieren gestaltete sich dennoch schwieriger als erwartet. Wir mussten immer wieder Hindernisse überqueren, über Baumstämme klettern, auf abgerissene Äste achten und kleine bis mittlere Wassergräben und Tümpel umgehen. Das war ganz gewiss nicht der Aachener Stadtwald! Es erinnerte mich eher an eine Wanderung, die ich schon mal im Innern der Insel Gomera gemacht hatte. Dort existierte ein alter Lorbeerwald, der sich aus den Nebeln speiste, die sich bildeten, wenn die heiße Luft des Nord-Ost Passats aus der Sahara herüberströmte und mit dem kalten Nass des Atlantiks reagierte. Aber dies hier erinnerte auch an die Redwoods, die kalifornischen Wälder mit ihren Mammutbäumen. Und dann gab es da noch die subtropischen Wälder im Südosten Australiens, denn dort gab es noch eine Vegetation, die tatsächlich und frappierend der mesozoischen ähnelte, mit den riesenhaften Baumfarnen, Bärlappgewächsen und Schachtelhalmen. Ich war ein Bewunderer dieser Vegetation, allerdings hatten dichte Wälder auch immer etwas Bedrohliches für mich und auch für die meisten anderen Menschen, die ich kannte, auch wenn sie dies nicht wirklich zugeben wollten. In Wahrheit wusste man nie, was hinter dem nächsten Baum lauerte, welche Gefahr einen dort erwartete. Unsere Vorfahren führten einen ständigen Kampf um das nackte Überleben; die meiste Zeit waren sie tatsächlich eher Gejagte als Jäger. Und wir hatten als „Homo Digitalis“ gewiss immer noch Reste der Gene in uns, die daran erinnerten, wer wir wirklich waren: Verletzliche und höchst sensible Kreaturen. Zwar kamen wir ursprünglich aus der Wildnis, waren intelligent und widerstandsfähig, aber litten auch allzu oft an Selbstüberschätzung und kriegerischer Aggressivität. Nicht, dass ich Tom, der vor mir her watschelte wie eine Ente, töten wollte, aber ich spürte, wie mir immer mehr die bedrückende Enge des Waldes inklusive der hohen Luftfeuchtigkeit zu schaffen machte und ich eine überaus miese Laune bekam. Wir schlichen genau zum rechten Zeitpunkt auf eine kleine Lichtung zu, und so beschlossen wir, eine Pause einzulegen.


Aus den Aufzeichnungen von Tom Hazard

Ich war froh, meine sechsschüssige Smith & Wesson dabei zu haben, dazu genügend 44er Magnum Patronen, um eine ganze Herde Compsognateae zu erledigen. Paul hatte seine Bedenken geäußert, sich genau in der Lichtung zu positionieren, weil wir dort zu angreifbar wären, vor allem durch diese kleinen bissigen Minisaurier. Stimmt, die Riesen würden wir früh genug erkennen, aber diesen kleinen heimtückischen Biestern zollte auch ich Respekt! Wir saßen noch keine fünf Minuten, als es in den Büschen zu rascheln begann.
>Vielleicht ist es ja Ortas mit Gefolge - oder auch alleine< meinte Dennis sehr leise zu mir.
Ich nestelte an meinem Colt, beließ ihn aber noch im Rucksack. Ich wollte nicht, dass die anderen mitbekamen, dass ich ihnen gegenüber mit der Waffe im Vorteil war. Zumindest wollte ich noch damit warten. Wenn es wirklich erforderlich schien, davon Gebrauch zu machen, dann würden wir schon weiter sehen. Jedenfalls war in meinem Job als Detektiv eine ausreichende Bewaffnung absolut unerlässlich. Ich hatte mich schon früh für den Colt entschieden, weil die 44er mit nur einem relativ gut platzierten Schuss einen ungeheuren Schaden anrichten konnte und geradezu den Respekt der Gegnerschaft herausfordern musste! Ich war nicht wirklich ein Waffennarr, aber wie jeder halbwegs vernünftige Amerikaner, musste ich in der Lage sein, mich immer und angemessen verteidigen zu können, wenn es die gesetzlichen Vertreter – aus welchen Gründen auch immer – nicht tun konnten. Und aufgrund meines Berufes, den ich durchaus ernst nahm - und gedachte, auch professionell auszuüben - konnte und wollte ich auf ein anständiges Arbeitsgerät nicht verzichten. Mir war schon nach kurzer Zeit unseres Kennenlernens klar, dass Paul eine völlig andere Sicht der Dinge vertrat, aber das taten die Deutschen ja ohnehin. Ich würde die nie verstehen in ihrem pazifistischen Eifer. Wieso hatte die amerikanische Politik so lange nur die Deutschen unterstützen können, die jede Hilfe geradezu borniert als Hinterhalt und Tücke ansahen, zumindest in letzter Zeit war das so.
>Psst< machte jemand.
Gut, dass ich meine Waffe im Rucksack gelassen hatte.
Aus dem Dickicht steckte ein etwa katzengroßes Tier, welches an den Tasmanischen Teufel erinnerte, seine rattenartige Schnauze in die Lichtung.
>Das ist ein Säugetier, eines unserer Vorfahren< meinte Dennis, der sich in der Klappse anscheinend etwas angelesen hatte zum Thema Mesozoikum, und fuhr fort >Es ist wahrscheinlich ein Gobiconodon<.
Ich war total erstaunt, und wir alle waren wirklich überrascht und auch hoch erfreut, einen Kenner der Materie unter uns zu haben.
>Wenn ich den jetzt erschießen würde, dann könnte das unter Umständen...< Paul ließ mich nicht zu Ende reden. Ich hatte nicht vor, etwas derartiges zu tun und dafür auch noch meinen strategischen Vorteil aus der Hand zu geben. Nein, noch war es nicht so weit.
>Könnte sein, dass die gesamte Evolutionslinie einen anderen Verlauf nimmt, wenn wir dieses Tier hier und jetzt töten sollten< meinte Paul zu mir.
Ich war der Meinung, dass wir jederzeit die Zeit veränderten, beginnend mit unserem Auftauchen im Jura. Und ich war überzeugt, dass auch Paul das so sah.
Der „Tasmanier“ kam langsam näher. Natürlich kannten diese Viecher keine Menschen, schienen aber neugierig zu sein. Ich stellte fest, dass ich Hunger hatte, und musste wieder an meine Waffe denken. Aber dafür eine 44er Patrone zu verschwenden, schien mir unsinnig zu sein. Zudem würde der Einschuss das ganze Tier in tausend Fetzen reißen und damit unser Essen über die ganze Lichtung verstreuen. Vielleicht dachte auch der Säuger gerade ans Fressen und malte sich aus, wie er an einem unserer Beine knabberte, wohl meinend, er hätte da ein paar harmlose Schenkel aus der Nachbarschaft vor seiner Schnauze. Paul meinte, wir sollten es Trumpy nennen, nach einem amerikanischen Präsidenten Trump.
>Unser Präsident ist Felix Mastersson von den Demokraten< klärte ich meine Begleiter Paul und André auf, und nun war auch endgültig klar, dass wir aus Parallelwelten stammten, zudem die Deutschen eine Angela Merkel als Kanzlerin hatten, in meiner Welt aber war dies zwar auch eine Frau, die hieß allerdings Annegret von Hülsdonk oder so ähnlich, war so unbeschreiblich hässlich wie der Tasmanier und schien völlig inkompetent zu sein.
Die Deutschen, dachte ich weiter, egal in welchem Universum die auftauchen, nichts als Scherereien mit denen und völlig unangenehme Persönlichkeiten! Angela Merkel – wie spricht man das eigentlich aus?!
Der Hund, die Ratte, der Beutelteufel oder was auch immer für ein Tier das war, kam immer näher und ließ sich schließlich von unserem Freund André streicheln. Der nannte es dann tatsächlich auch Trumpy. Trumpy war etwas größer als eine Katze, vielleicht wie ein mittelgroßer Hund, und es war schwarz-weiß gefleckt wie eine deutsche Kuh, hatte einen buschigen Schwanz und spitze Zähne in einem am Ende spitz zulaufenden Maul. Ein absolutes Kuriosum dieses Tier!
>Es ist bestimmt so zutraulich, weil du ein Faible für Hunde hast< meinte Paul zu André, und der bejahte den Kommentar seines Freundes.
>Vielleicht kann der uns mal nützlich sein< meinte ich in die Runde.
>Wenn er denn so einfach mitkommt< entgegnete Paul.
>Legen wir ihm doch ein Halsband um< André zog sich den Gürtel von seiner Hose ab und legte die Schlinge vorsichtig um den Hals der kleinen Bestie. Er verlängerte den Gürtel mit einigen extrem langen Schnürsenkeln, die André aus seinem Rucksack entnommen hatte.
>Am besten fütterst du ihn jetzt auch noch< meinte Paul sarkastisch zu seinem Kumpel, der nicht weiter darauf einging und dem Tier tatsächlich einen Keks reichte, den Trumpy auch gierig auffraß.
Tatsächlich war ich kurz zuvor noch mental gewillt, den Pseudohund zu erschießen, um ihn anschließend zu schlachten, aber nun, nachdem ich mir etwas zu Essen aus dem Rucksack genommen hatte, war ich durchaus wohlwollender gesinnt gegenüber dieser „Meso-Bestie“, die allem Anschein nach völlig harmlos war.
Ich bereitete mir eine Scheibe Schwarzbrot mit Cornedbeef, beides Mahlzeiten aus der Dose und sehr lange haltbar. Das Brot war übrigens nach einem deutschen Backrezept. Vielleicht war ich in Wahrheit doch nicht so weit entfernt von deutschen Wurzeln und war vielleicht sogar deutscher als mir lieb war und hatte deshalb Ressentiments gegenüber der Nation.
>Ist das Pumpernickel?< wollte André wissen, als er das Brot in meiner Hand erblickte.
Ich reichte allen etwas davon und bekam dafür ein paar von den leckeren getrockneten Obststücken, die Paul und André mitgenommen hatten.
>Getrocknete Früchte – eine sehr gute Idee, die mitzunehmen< merkte ich an.
Wir hatten es uns inzwischen auf der Lichtung recht bequem gemacht und saßen gut gepolstert auf niedrig wachsendem Farn und Bärlapp. Hier konnte man sich langlegen, dachte ich, und tatsächlich war es schon Abend; wir beschlossen, hier zu nächtigen. Um einen provisorischen Unterschlupf zu bauen, besorgten wir uns im angrenzenden Wald Äste sowie Farnwedel und zimmerten eine ganz passable Hütte zusammen. Erst als der Abend fortgeschritten war und wir bei einem Tee vor der Hütte saßen, fiel auf, wie angenehm die Ruhe war. Wir waren müde von der Wanderung, und der Tag zuvor, der uns fast das Leben gekostet hätte, hatte Spuren hinterlassen. Zur Müdigkeit gesellte sich ein gewisser Stolz auf die geleistete Arbeit und unseren Zusammenhalt, so nahmen wir nun mit sehr feinen Sinnen die natürliche Umwelt erstmals richtig wahr – hier im Jura, vor 150 Millionen Jahren.
Was allerdings keinem aufgefallen war, war die Tatsache, dass die Lichtung auf der wir verweilten, niemals natürlichen Ursprungs sein konnte, denn sie bildete ein nahezu perfektes Rechteck und war etwa doppelt so groß wie ein Tennisfeld.



Ich wusste bis dahin gar nicht, dass André schnarchte. Die Geräusche drangen bis nach draußen vor unsere Behausung. Ich hatte noch einige Zeit unter dem jurassischen Sternenhimmel verweilt, um mit Tom ein paar Worte zu wechseln, obschon mich immer mehr die Müdigkeit in die Knie zwang. Trumpy lag zusammengerollt vor der Hütte. Ich hatte es mir verbeten, das Tier mit „ins Haus“ zu nehmen. Tom war der gleichen Ansicht, auch er war nicht gerade ein Freund von Tieren, die aussahen wie Beutelteufel, mehrfach gewaschen und geschleudert und anschließend schwarz-weiß eingefärbt. Einfach ekelhaft, dieses Tier! Man musste sich schon von allen ästhetischen Überzeugungen und Einflüssen lösen, um auch nur ein wenig von dieser kuscheligen Eigenschaft zu entwickeln, die André und auch Dennis besaßen. Beide fanden die Kreatur „total niedlich“!
Wir hatten ein kleines Feuer aus Reisig und einigen Kiefernzapfen entzündet und bräunten auf Ästen gestecktes Schwarzbrot über den Flammen, sofern dies möglich war, Schwarzbrot zu bräunen, politisch gesehen, klar, ist das durchaus möglich, dachte ich, entschloss mich dann aber, Tom einen Verdacht zu äußern:
>Ich weiß, du hast einen Ballermann dabei< Tom wirkte, wie aus einem tiefen Traum gerissen und schaute mich völlig ungläubig an und entgegnete:
>Ich habe was dabei?<
>Meinst du, es entgeht mir nicht, mit was für einer Betriebsamkeit du immer wieder deinen Rucksack überprüfst. Und dann: Du als amerikanischer Privatdetektiv...Im übrigen hast du vielleicht vergessen, ich bin du und du bist ich< ergänzte ich.
>So würde ich es vielleicht nicht ausdrücken, aber wir sind uns eben in vielem nicht sehr ähnlich, lieber Paul< wiegelte Tom ab.
>Das mag schon sein und ich gebe dir Recht, aber die Knarre – ich meine, willst du auf Saurier schießen oder suchst du vielleicht im Jura einen Kautionsflüchtling?<
Wir mussten beide lachen, und das tat auch gut, weil es die Spannung herausnahm aus dieser nicht ganz ungefährlichen Situation. Wenn wir jetzt damit beginnen würden, uns gegenseitig zu misstrauen und zu bespitzeln, dann könnte das ganz schnell unser Untergang sein, dachte ich mit einigem Unbehagen. Ich vermutete, dass Tom dies ähnlich sah.
>Eine Smith & Wesson schießt ganz hässliche Löcher in mächtig fiese Dinosaurier. Im übrigen sterben die in 90 Millionen Jahren sowieso aus, da kommt es auf ein paar weniger auch nicht an< bemerkte Tom lakonisch, wie es häufig seine Art war.
>Wir sollten so wenig Spuren wie möglich hinterlassen< bemerkte ich.
>Ja, natürlich, du hast Recht!<
André war offensichtlich durch die Unterredung mit Tom wach geworden und stand plötzlich im Eingang unserer Behausung. Als Trumpy ihn sah, fing der doch tatsächlich an, mit seinem Schwanz zu wedeln, wie ein Hund!
>Offensichtlich haben wir uns schon stärker als gedacht in diese Zeit eingemischt< ich zeigte auf den Gobiconodon, der ganz klar Haustier ähnliche Verhaltensmuster angenommen hatte und das innerhalb kürzester Zeit.
>Die Ratte scheint schon domestiziert zu sein< führte Tom weiter aus.
Tatsächlich hatte man in Kambodscha schon Ratten als „Minenspürhunde“ eingesetzt. Die ließen sich derart dressieren, dass sie auf Sprengstoffe mit ihren feinen Nasen reagierten und „anschlugen“.
>Vielleicht rettet uns Trumpy eines Tages ja noch den Arsch< meinte ich zu André, der immer noch in der „Tür“ stand.
>Ja, vielleicht< entgegnete André verschlafen und leicht zerknirscht. Schließlich setzte er sich zu uns ans Feuer. Wenig später kam auch Dennis noch hinzu. Eigentlich sprachen wir nicht mehr sehr viel an diesem Abend und in der Nacht. Der Mond, wenn er hin und wieder einmal durch die Wolken brach, erhellte dann die Lichtung wie die Flutlichter ein Fußballfeld.
Wir hatten die Unterkunft gebaut, weil wir nicht wussten, was noch auf uns zukommen würde an Unwetter in dieser Nacht, aber es schien alles ruhig zu bleiben. Wir beschlossen, am nächsten Tag nicht weiter zu marschieren, sondern die Umgebung nach Essbarem abzusuchen. Vielleicht gab es Pilze oder so etwas, oder auch das eine oder andere Nagetier, was wir erlegen konnten. Vielleicht war Trumpy ja sogar als „Jagdhund“ zu gebrauchen. Unsere Stimmung hob sich etwas, als uns klar wurde, dass wir nicht völlig ohne Optionen dastanden - in den Bergen der jurassischen Insel.
Wir wollten gerade erneut einen Versuch starten, in unsere Schlafsäcke zu kriechen, als wir am Rande des Feldes eine Kreatur beobachteten, die einem Archaeopterix sehr ähnelte. Sein Krächzen glich einer Elster und war deutlich von uns zu vernehmen. Dies war das erste Geräusch eines Vogels, das wir auf dieser Welt bisher gehört hatten. Man muss sagen: Vorläufer eines Vogels, denn der Archaeopterix war weit davon entfernt ein eleganter oder begnadeter Flieger zu sein, wie wir beobachten konnten, als der die Lichtung eher flatternd wie ein Huhn verließ. In diesem Moment fiel es uns auf:
>Wie mit einem Lineal gezogen!< meinte ich zu Tom, der nickte.
Wir waren sprachlos, als uns erst jetzt aufgefallen war, dass wir auf einer von Menschen geformten Lichtung saßen.
>Ich glaube kaum, dass im Jura schon Menschen existierten< gab Dennis zu Protokoll, der ja schon im Vorfeld und in der Klappse zum Thema Jura einiges gelesen hatte.
>Bleibt nur Ortas, unser außerirdische Freund, von dem wir fast nichts wissen< gab Tom Dennis als Antwort zurück.
Ich bekam eine Gänsehaut, nicht nur aufgrund der Kälte, die sich inzwischen breit gemacht hatte und die das Feuer auch nicht wirklich vertreiben konnte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir unter Beobachtung standen und teilte meinen Freunden diese Befürchtung auch mit.
>Das ist nicht normal und spricht nicht für einen Blitzbesuch des Ortas, einen lupenreinen Tennisplatz im Jura zu kreieren< entgegnete Tom und meinte weiter >Wir müssen auf alles vorbereitet sein< und nestelte dabei wieder einmal an seinem Revolver.
>Jetzt haben wir nicht nur Saurier am Hals, sondern auch noch Außerirdische, von denen wir nicht wissen, was die im Schilde führen< grummelte Dennis vor sich hin.
>Wir sollten nicht so negativ denken. Immerhin waren wir es, die sich auf die Reise gemacht haben, diesen Ortas zu suchen, um Antworten zu erhalten< meinte ich zu Dennis.
Tom war der Meinung, dass es aufgrund der Dunkelheit sinnlos sei, weitere Vermutungen anzustellen, weil wir definitiv in dieser Nacht keine Spuren mehr würden verfolgen können. Wir sollten bis zum Morgengrauen warten und dann die Umgebung absuchen. Vielleicht wäre es angebracht, uns dann in zwei Gruppen aufzuteilen.
>Das machen wir!<. Ich hielt das für eine gute Idee und beschloss, schlafen zu gehen.



Am nächsten Morgen, dem dritten Tag im Jura, taten wir wie beschlossen und teilten uns in zwei Gruppen auf. Ich hatte hervorragend geschlafen und war froh, mich Tags zuvor mit Tom auf einem Niveau unterhalten zu haben, welches uns beiden erlauben würde, trotz der unterschiedlichen Einstellungen, gut zusammenzuarbeiten. Dennoch zog ich es an diesem Morgen vor, mich lieber mit André auf die Suche nach Nahrung zu begeben. Es gab keinerlei Differenzen bezüglich der Konstellation und ich konnte beobachten, wie Tom und Dennis ebenfalls guten Mutes zur Tat schritten und damit begannen, den angrenzenden Wald nach Spuren der vermuteten „Waldarbeiter“ zu inspizieren.
Auf der anderen Seite der Lichtung drangen André und ich weiter in den Dschungel vor. Der Boden war immer noch sehr feucht aufgrund des Unwetters und der damit einhergehenden starken Niederschläge des letzten Tages. Trumpy war auch dabei und André hatte seine wahre Freude, mit dem Tier „Gassi zu gehen“, wobei er darauf verzichtet hatte, Trumpy die „Hundeleine“ anzulegen und so konnte der Gobiconodon sich frei bewegen. Es war ja schließlich sein Revier. Im Gegensatz zu Trumpy taten wir uns recht schwer, in dem Morast voranzukommen.
>Vielleicht haben wir Glück und finden ein Nest mit Eiern drin.< Ich hatte abends zuvor intensiv überlegt, welche Nahrungsmittel eine echte Chance hätten, von uns aufgestöbert zu werden, ohne dabei all zu viel Aufwand zu betreiben und uns auch nicht übermäßig in Lebensgefahr zu begeben.
>Das wäre nicht schlecht. Ich hätte schon Bock auf ein Spiegelei heute morgen< meinte André. Trumpy war inzwischen schon beinahe außer Sichtweite, als das Tier sich recht merkwürdig benahm. Es schien irgendetwas gefunden zu haben, was sein Interesse in Anspruch nahm. Tatsächlich verhielt es sich dabei fast wie ein Hund und umkreiste das Objekt seiner Neugierde und schaute immer wieder zu uns herüber. Nur bellen tat es nicht – noch nicht.
>Seltsam<
>Ja, seltsam< Wir beschlossen, uns das einmal näher anzusehen.
Als wir Trumpy erreichten, saß der auch schon oben auf der Leiche. Es war augenscheinlich eine weibliche, die noch nicht lange hier lag.
>Na, so habe ich mir mein Frühstück nicht vorgestellt< meinte André und zeigte auf den leblosen Körper, der auf dem Rücken lag, die Augen und ein Mund, der zu fragen schien: warum?!
>Ziemlich sicher jemand der Waldarbeiter und ein Alien< mutmaßte ich.
Der Zusammenhang mit der künstlichen Lichtung machte meine Vermutung aber zur Gewissheit und André pflichtete mir bei.
>Ortas!< begann ich laut zu rufen >Ortas!< noch einmal >Das ist nicht mehr lustig hier< fügte ich hinzu.
André schaute mich etwas ratlos an, ließ aber erkennen, dass er von meinen Rufen wenig hielt, denn er schüttelte den Kopf.
Natürlich meldete sich niemand, der auf diesen Namen hörte, außer unsere beiden Freunde aus Amerika, die schließlich beide zu uns stießen.
>Was ist denn das hier?< wollte Dennis wissen.
>Also, wir haben das nicht getan< beeilte ich mich zu sagen, um von vorneherein meine pazifistische Einstellung zu demonstrieren.
>Schon klar< meinte Tom, ziemlich nüchtern.
Ich war das erste Mal wirklich froh, diesen Doppelgänger bei uns zu haben, denn die Art, wie er im Folgenden die Leiche untersuchte, war schon beeindruckend.
>Klarer Fall, die Frau ist ermordet worden, daran gibt es gar keine Zweifel< So wie die Sachlage sich darstellte, brauchten wir nun auch keinen Pathologen mehr.
>Und wie?< wollte ich von Tom wissen.
>Erschossen, sie ist von hinten erschossen worden und die Leiche anschließend auf den Rücken gedreht worden, wahrscheinlich, um festzustellen, ob die Frau auch tatsächlich tot ist<
>Feige und absolut hinterhältig< ergänzte Tom abschließend.
Nun war klar, dass wir absolut nicht sicher waren, weder hier, noch sonst wo. Meine Vermutung war nicht paranoid, dass wir unter Beobachtung standen. Jedenfalls waren ganz in der Nähe niederträchtige Mörder unterwegs. Und als wäre das noch nicht genug, trampelte nun auch noch ein Apatosaurus durch den Wald.
Der war nicht weit entfernt von uns, war aber ein riesenhafter Pflanzenfresser und konnte uns nicht wirklich gefährlich werden, außer, wir liefen ihm direkt vor die Füße. Der Saurier schritt gemütlich durch das Gelände, wobei sein muskulöser Hals mit etwa sieben Metern Länge locker an die schmackhaften Blätter des Ginkgo herankam. Er hatte sich einen Baum ausgesucht, der besonders groß gewachsen war und mit einem satten Grün dem Apatosaurus signalisierte: „Hier kannst du dich erst mal satt fressen“. In fünf Millionen Jahren würde diese Gattung verschwunden sein vom Planeten Erde. Der Ginkgo allerdings hatte in China sogar den Asteroiden Einschlag von Yucatan überlebt, der letztlich aber das Ende aller Saurier markierte.



„Wissen geht über Glaube“ war das Motto der Veranstaltung auf Anderran. Der Plenarraum in Auroville, gegenüber der städtischen Bibliothek, war mit vierzig Teilnehmern bis auf den letzten Platz besetzt. Drei Fraktionen konnten hier ihre Meinungen und Vorschläge äußern. Daneben gab es durchaus auch Menschen, die keiner der Fraktionen angehörte und sowohl der einen als auch der anderen Seite näherstanden. Ortas, der im Jura weilte, wurde ideell bestens von seiner Freundin Lesalee von der Fraktion „Die Gelben“ vertreten. Im Gegensatz zur Forderung der völligen Freigabe der Multiverser und damit den Zeitreisen war eine Gruppe im Raum, die dies strikt ablehnte und dafür warb, die Multiverser und die gesamte Technologie, die damit verbunden war, zu vernichten. Torolei war die resolute und kompetente Frau, die als Sprecherin und Kämpferin für die „Blaue“ Fraktion auftrat. Dann gab es noch die „Schwarz-Rote“ Gruppe des „weiter so, wie bisher“, der auch bedingt der Ethikrat anhing, aber auch für eine gewisse Novellierung bei den bisherigen Regelungen stimmte. Zolan und Rhena waren bisher die Protagonisten dieser Linie gewesen, wobei man nicht genau wusste, wofür sie wirklich standen. Ähnlich verhielt es sich mit Schoonas, der einst für ein Aussetzen des Rotationsprinzips im Ethikrat gestimmt hatte.
>Eigentlich wäre heute ein Grund zum Feiern gewesen, am Tag zum 250 jährigen Bestehen des Friedensvertrags von Anderran< begann Torolei für „Die Blauen“ - so wurde die Fraktion der Gegner der Technologie für Zeitreisen bezeichnet.
>Leider haben sich die Dinge in den letzten Tagen und Stunden derart überschlagen, dass wir nicht umhinkommen, unbequeme und vielleicht auch drastische Maßnahmen zu beschließen, um den Frieden auf Anderran zu bewahren und, was noch viel bedeutender ist, eine eventuelle Zerstörung des Multiversums zu verhindern< sofort erhob sich lauter Widerspruch quer durch die gegnerischen Fraktionen und Meinungen.
>Wissen geht über Glaube< erhob Lesalee die Stimme und fuhr fort:
>Liebe Kollegin, bis auf ein paar Hinweise auf zeitliche Ungereimtheiten oder Paradoxien in den Galaxien, gibt es keinerlei schwerwiegende Vorfälle, die eine fundamentale Abkehr von unseren anarchistischen Prinzipien rechtfertigen würde<.
>Ist es nicht gerade das „voyeuristische Prinzip“, welches dein Freund Ortas anführt, das uns in den Abgrund treibt? - Du sitzt in der falschen Fraktion, meine Liebe!< entgegnete Torolei, die hiermit einen glatten Punktgewinn zu verzeichnen hatte. Lesalee erkannte dies sofort und anstatt in einen Disput zu gehen mit der sehr überzeugenden Torolei, entschloss sie sich erst einmal, den anderen Rednerinnen und Rednern zuzuhören.
Die Gruppe der „Schwarz-Roten“ vom Ethikrat hatten neben Zolan und Rhena noch eine Reihe anderer Leute, die durchaus in der Lage waren, ihre Position überzeugend darzustellen. Schließlich kam die demokratisch anarchistische Ideologie zu einem großen Teil aus den Reihen ihrer Leute, wenn auch die maßgeblichen Protagonisten der Ethiker längst nicht mehr lebten. Malekko war so ein Anderraner, der bis jetzt klug genug gewesen war, den „Blauen“ und „Gelben“ den Vortritt in der Diskussion zu überlassen, denn so konnte Malekko und seine Kollegin Ventia warten, bis die Situation für ihren Auftritt günstig schienen. Die Stimmung für ein „Weiter so wie bisher“ schien sich tatsächlich zu verbessern, bis Torolei die Bombe platzen ließ und scheinbar den Sieg der Zeitreisegegner einläutete. Torolei war über Lesalee an Informationen gekommen, die besagten, dass Zolan und Rhena überaus verdächtig viele gemeinsame Reisen auf der Erde durch verschiedene zeitliche Epochen unternommen hatten.
>Der Ethikrat, liebe Anwesende< begann Torolei >ist nicht der einzige, der über die Mittel verfügt, die Technik der Multiverser so einzusetzen, dass sie als Spionage Einheit fungieren kann< und nun folgte der Eklat. Denn im Plenarraum baute sich das Hologramm vom Mord des Zolan an Rhena auf. Die Bilder zeigten, wie die beiden durch ein Waldstück des Jura marschierten und Rhena seine Kollegin mit einem Gewehr von hinten erschoss. Als Folge entstand ein Tumult im Sitzungsraum, der absolut verständlich und unumgänglich schien. Torolei rief die Versammelten zur Ruhe auf, um mit den Worten fortzufahren:
>Der hier gezeigte Mord an Zolans Vertraute ist das Ergebnis nicht nur ausufernder Zeitreisen, sondern markiert auch die unglaubliche Arroganz von Teilen des Ethikrates sowie deren Habgier und Machtgelüste!< Torolei war noch nicht am Ende:
>Und das hier sind nur einige wenige der Teile, die Zolan und Rhena vom Ethikrat von ihren Plünderungen auf der Erde beiseite geschafft haben< und schmetterte eine blau gefärbte Perlenkette aus der minoischen Zeit der Erde sowie andere, glitzernde und funkelnde Schmuckstücke auf den Boden des Saals.
>Dem Volk das Wasser reichen und selber den Wein saufen!< rief jemand und zeigte auf die Mitglieder der „Schwarz-Roten“, die ziemlich blass und eingeschüchtert auf der rechten Seite im Rund des Plenarraums saßen. Es dauerte ein wenig, bis sich Malekko erhob:
>Diese Tat ist durch nichts zu rechtfertigen und Zolan vom Ethikrat wird zur Rechenschaft gezogen werden für diese frevelhafte Tat!< Malekko tat Recht daran, nichts zu beschwichtigen, denn die Indizien sprachen für einen Mord aus Habgier.
Inwieweit politische Hintergründe maßgeblich wären, müsste sich noch zeigen, meinte Malekko ebenso wie Ventia. Da die Hologramm-Aufzeichnungen nur bruchstückhaft waren, gaben sie keinen kompletten Ablauf der Geschehnisse wieder und so fiel auch niemandem auf, dass Schoonas offensichtlich verschwunden war. Nach Abschalten des Holografen und einer gut geführten und souveränen Rede von Malekko, beruhigte sich die Situation im Plenum etwas. Allen war klar, dass sie noch einmal so gerade an einer handfesten Auseinandersetzung vorbeigeschrammt waren, denn es wurde zuvor gepöbelt, gespuckt, geflucht und außerordentlich hässlich verbal attackiert.
Lesalee erhob das Wort:
>Nun da sich alle beruhigt haben, gebe ich zu bedenken, dass unser bisheriger Standpunkt von der völligen Freigabe der Multiverser nicht mehr gerechtfertigt sein kann. Alle, die maßgeblich und bisher diese Position vertreten haben, werden sich zusammensetzen müssen, um einen neuen Kurs abzustecken<. Torolei kam nicht umhin zu antworten:
>Du bist herzlich willkommen in unserer Gruppe, liebe Lesalee< die beiden Frauen schätzten sich sehr, trotz ihrer bisherigen kontroversen Standpunkte und deshalb nahm Lesalee ihr die Worte auch nicht übel. Auch Leartas, der eigentlich fraktionslos war, fühlte sich genötigt in dieser aufgeheizten Stimmung seine Meinung kund zu tun und trat in die Mitte des Raumes:
>Als Mitglied der Akademie für Moralphilosophie spreche ich heute nicht zu euch, sondern als Freund des geschätzten Ortas und der ambitionierten Freundin und Ärztin Lesalee<.
Leartas war es gewohnt, seine Reden nicht gerade kurz zu halten, aber heute war auch ihm bewusst, dass er alles daran setzen musste, die Versammlung zu einem Ergebnis zu bringen, welches mithelfen sollte, den Frieden auf Anderran zu bewahren. Aus diesem Grund war er heute sehr bemüht, seinen Redebeitrag zu komprimieren.
>Manche nennen mich „Chales - das Schwert der Anarchie“ - das ist natürlich blanker Unsinn!< begann Leartas und strich sich durch seinen langen Vollbart.
>Offensichtlich sind es gerade die Eigenschaften, die im Bereich der Gewalt anzusiedeln sind, die einen Zolan dazu getrieben haben, einen Mord zu begehen. Heute sind es nicht die Schwerter, die wir schärfen müssen, sondern unseren Verstand und die Liebe und Achtung zu einem respektvollen Miteinander auf Anderran!<.
>Wohl war, wohl war!< konnte man hier und dort vernehmen.
Offenbar hatte Leartas den richtigen Ton und auch die passenden Worte gewählt, um deutlich deeskalierend zu wirken. Lesalee fiel ein Stein vom Herzen und selbst die kämpferische Torolei war erleichtert, denn ihr war nicht wirklich an einem Tumult gelegen oder gar einer Revolte auf den Straßen von Auroville.
>Ich schließe mich deinen Worten gerne an< führte Malekko von den „Schwarz-Roten“ weiter aus >möchte aber zu Bedenken geben, dass wir es nicht so ohne weiteres durchgehen lassen können, dass Einbrüche begangen werden in die Wohnungen von Mitarbeitern des Ethikrates<.
Der meinte natürlich das rechtswidrige Eindringen in die Wohnung Zolans, wo das Diebesgut herstammte und wovon Torolei einen kleinen Teil im Plenum präsentiert hatte.
>Was ist eigentlich aus Schoonas geworden, der war nicht zu sehen auf den Bildern?< wollte jemand wissen. Ein anderer rief:
>Kann doch sein, dass Zolan ihn auch ermordet hat und nun auch hinter Ortas her ist<. Wiederum jemand anderes meinte, dass man unbedingt ins Jura der Erde reisen müsse, um Zolan aus dem Verkehr zu ziehen.
>Das werden wir beide tun< antwortete Lesalee und deutete auf Torolei, die etwas verdutzt dreinschaute, dann aber zustimmend nickte.
>Wir sollten jetzt nichts überstürzen< fuhr Leartas fort >Denn, es war gerade das vollkommen unprofessionelle Auftreten aller Akteure und die überhastete Abreise von Zolan, Rhena, Schoonas und Ortas, was uns erst diese Situation beschert hat<.
Das Plenum konnte sich glücklich schätzen, einen so mäßigend und mit ruhiger Hand agierenden Menschen Vorort zu haben, denn so hielten sich überbordende Emotionen in Grenzen, und die Logik und der Verstand konnten die Oberhand gewinnen und gaben der Rettung des Friedens auf Anderran eine realistische Chance.
Der bisherige Verlauf des Plenums hatte deutlich gemacht, dass es ein großes Problem auf Anderran gab. Auf Situationen wie der vorliegende Fall war man absolut nicht vorbereitet. In der Vergangenheit hatte man zu sehr auf Abschreckung gesetzt und auf die humanitäre Ethik sowie logisches Handeln aller Anderraner. Zwar hatten die Besuche auf der Erde aufgezeigt, wie destruktiv und zerstörerisch die menschliche Rasse sein kann; auf der anderen Seite aber gab es einen Abnutzungseffekt und eine Zeit der Gewöhnung und des Vergessens. So fand im Laufe der Zeit eine fatale Abkehr statt vom psychologischen Effekt des Lernens und der Motivation, den Humanismus und den Frieden als zentrale Punkte für den wahren Fortschritt einer Gesellschaft zu begreifen. Kurz gesagt: Die Gesellschaft begann zu degenerieren und eine gewisse Dekadenz begann sich breit zu machen, und da wo einst Solidarität und Großzügigkeit vorherrschten, begannen Machtstreben und Egoismen gewisse Teile der Gesellschaft spürbar zu erodieren.
Hinzu kam, dass nach Anderraner Selbstverständnis es keine zentralen Institutionen gab, die konzentriert und schnell agieren konnten, um gefährliche Situationen und Entwicklungen zu lokalisieren, Lösungen zu finden und entsprechende Initiativen zu ergreifen, um einen vielleicht sogar für das System desaströsen Verlauf zu verhindern. Man könnte sagen, es fehlte schlicht an einer Exekutiv-Gewalt. Da sich Anderran aber dem Pazifismus verschrieben hatte, gab es offiziell weder Militär noch Polizeikräfte. Bisher hatten die gesellschaftspolitischen Vorschaltmodule aus Versammlungen, Plena und Räten es hervorragend verstanden, Feuer zu löschen, bevor sie drohten sich zu einem Flächenbrand zu entwickeln – in der Prävention war Anderran hervorragend aufgestellt – aber nun musste man feststellen, dass eine gewisse Naivität in Verbindung mit Fahrlässigkeit Anderran vielleicht auf eine Katastrophe zusteuern ließ. Karvoleis, ein junger Bursche, der seine politische Heimat in der „reinen Lehre der Anarchie“ sah und für den die Mitbestimmung bei politischen Entscheidungen eine sehr hohe Priorität genoss und sich bei den „Schwarz-Roten“ engagierte, meldete sich zu Wort:
>Ich verurteile das Verhalten von Leuten wie Zolan. Aber wenn wir uns jetzt über die Gesetze und Rechte unserer Mitmenschen hinwegsetzen und einfach zur Tat schreiten, ohne das Volk vorher um Zustimmung zu befragen, ja, ein Plebiszit abzuhalten in dieser politisch so brisanten Lage, dann stehen wir moralisch im Gefolge eines Zolan und werden das Ende von Anderran einleiten!<
>Das waren starke Worte, aber wenn wir jetzt eine Volksbefragung initiieren – und immerhin müssen wir entsprechende Informationen zusammentragen und sie in ihrer Gesamtheit präsentieren, damit sie zu einer Entscheidungsfindung beitragen können. Das kann ewig dauern, bis ein Ergebnis vorliegt. Bis dahin hat vielleicht das Jura auf der Erde schon sein Ende gefunden!< gab Sebana, eine Fraktionslose, zu Bedenken.
Das Dilemma, in dem sich das Plenum befand, war offenkundig. Egal, wie man sich entscheiden würde, die Lage wäre hinterher prekärer, als zuvor. Um nicht völlig die Glaubwürdigkeit bei den 20 Millionen Bewohnern dieser Welt zu verlieren, wurde eine Befragung per elektronischem Wahlverfahren beschlossen. Hierfür war das Abstimmungsergebnis im Plenum zwar knapp, aber dennoch eindeutig, und daran musste man sich halten. Zur Wahl stand für Anderran die Beendigung der Zeitreise Technologie, ein Contra würde das Beibehalten bedeuten.
Manchmal ist es das Beste, überhaupt eine Entscheidung zu fällen, egal welche, besser jedenfalls als diese immer wieder aufzuschieben, dachte Leartas. Zufrieden konnte er dennoch nicht sein. Sich über ein Plebiszit hinwegzusetzen oder das Ergebnis nicht abzuwarten und einfach zur Tat zu schreiten, waren ebenfalls Optionen, auch wenn sie höchst ambivalent waren und moralisch mindestens zweideutig, dachte Leartas weiter. Im Grunde war er bereit, beinahe alles zu tun, nur um den Frieden auf Anderran zu retten.


Zolan hatte nicht die geringsten Skrupel gehabt, die Mitwisserin Rhena zu beseitigen. Auch sein Plan, Schoonas in den Weiten des Alls verschwinden zu lassen, war voll aufgegangen. Der weitere Plan bestand darin, auch Ortas zu erledigen und sich nach Terra abzusetzen, für den Fall, dass man ihm auf die Schliche gekommen wäre bezüglich seiner Raubzüge. Von wegen „Schoonas, die Laus im Fell des Zolan“ lachte er in sich hinein! Niemandem war aufgefallen, dass er über das konspirative Treffen von Ortas und seinen drei Gefolgsleuten in den Karsthöhlen von Kongress Bescheid wusste. Sollte aber alles glatt gehen, dann würde er zurückkehren nach Anderran, um dort seinen Lebensabend zu verbringen, mit all den schönen Dingen und materiellem Wohlstand, den er sich so hart erarbeitet hatte. Zwischen ihm und dem Ruhestand befand sich allerdings noch das „Problem Ortas“, welches er unbedingt aus seiner Rechnung eliminieren musste.
Die angelegte Lichtung im Wald des Jura sollte vorgeblich als Falle für die Terraner fungieren. In einem Moment aber, wo es Zolan günstig erschien, lockte er Rhena in den angrenzenden Wald, um sie dort anschließend zu ermorden. Ortas war zu Zolans Entsetzen nach dessen Rückkehr nicht mehr im Lager. Der war ihm entweder gefolgt und hatte den Mord beobachtet oder, er war sich sicher, dass Zolan ein doppeltes Spiel spielte, und war geflüchtet. Ortas hatte keine Waffen bei sich und befand sich somit gegenüber Zolan erheblich im Nachteil.
Tatsächlich hielt sich Ortas ganz in der Nähe am Rande der Lichtung auf und konnte beobachten, wie Zolan das Zelt abbrach, um die Lichtung zu verlassen. Beide drangen nun weiter in den Wald ein. Ortas hatte einen Vorteil gegenüber Zolan: Er hielt sich viel in der Wildnis auf Anderran auf und konnte durchaus Spuren lesen und im Wald einige Zeit gut klarkommen. Lesalee war tatsächlich eine hervorragende Lehrmeisterin und hatte ihm viele Dinge des Überlebens in der Wildnis betreffend beigebracht. Diesen Vorteil musste Ortas unbedingt nutzen, um das Manko der fehlenden Waffe auszugleichen und letztlich auch um Zolan zu überwältigen, bevor die Terraner hier auftauchten und sich die Situation weiter verschärfte.


Wir hatten an diesem Morgen nicht nur eine menschliche Leiche im Jura gefunden, sondern auch ein Nest mit Eiern darin, die so groß waren, dass wir zwei Wochen davon hätten essen können.
>Mir ist der Appetit vergangen< Andrés nüchterne Feststellung war nur allzu gut zu verstehen. Auch mir war nicht wirklich nach Frühstück zumute. Also setzten wir uns, wieder an unserer Behausung angekommen, an ein Feuer und tranken alle vier einen Becher Kaffee.
>Danke, dass du die Tote begraben hast< meinte ich zu Tom, der kaum eine Regung gezeigt hatte, weder bei der Begutachtung des leblosen Körpers der Frau, noch als er die Leiche unter die Erde des jurassischen Europas verfrachtete. Vielleicht würde man in 150 Millionen Jahren versteinerte Fossilien von der Frau finden und sich erstaunt fragen, wie es möglich sein kann, eine so hervorragend gelungene Fälschung herzustellen. Niemand würde ernsthaft glauben, ein Mensch hätte sich ins Jura verirrt, oder Aliens hätten die Erde im Mesozoikum besiedelt, außer vielleicht ein paar esoterische Spinner, dachte ich weiter, bis Trumpy meine Gedanken unterbrach. Nein, der Gobiconodon hatte nicht gelernt zu bellen, aber er verhielt sich dennoch wieder sehr auffällig.
>Schau, meinte André!< und zeigte in Richtung „Meso-Hund“. Der schien eine Fährte aufzunehmen.
>Das wird ja immer doller mit dem Tier!< schaltete sich nun auch Dennis ein.
>Ich bin ja nicht gerade ein Freund von Haustieren, aber der Pseudodackel ist schon nicht schlecht drauf< meinte Tom und stand auf, um dem Tier zu folgen. André hatte es nicht an der Leine und so konnte Trumpy sich frei bewegen.
>Bitte nicht noch eine Leiche< murmelte ich vor mich hin.
>Ganz meine Meinung< entgegnete André. Wir waren beide nicht wirklich geschaffen für diese Welt.
>Weicheier!< witzelte Dennis. Wir beließen es dabei und enthielten uns weiterer Kommentare und marschierten alle gemeinsam hinter Trumpy her, der plötzlich an einer Vertiefung im Boden innehielt und dann seine Nase schnüffelnd in das Erdreich steckte. Tom hatte den Gobiconodon eingeholt und bückte sich, um nachzusehen was der „Spürhund“ entdeckt hatte.
>Diese Vertiefung hier stammt sehr wahrscheinlich von einem Zelt< und wieder einmal machte sich Toms Beruf als Detektiv mehr als bezahlt.
>Und hier führen relativ frische Spuren direkt auf den Waldrand zu< Tom ging die Spuren am Boden ab und zeigte in die Richtung, in der eine riesenhafte Gestalt aus dem Wald auf die Lichtung trat. Es war Ortas. Ich erkannte ihn sofort. Der hünenhafte Typ mit Schnauzbart und den Pranken hatte sich mir nach meiner Begegnung in Herzogenrath geradezu ins Gehirn eingebrannt. Er hob die Hände in die Höhe mit den Worten:
>Ich komme in Frieden, seid gegrüßt Terraner!<.
Im gleichen Augenblick wurde ein Schuss aus dem Wald abgegeben, der Ortas wie einen Baum fällte und zu Boden warf. Blitzschnell zog Tom seine Smith & Wesson, die er in den letzten Stunden vorsichtshalber am Hosenbund getragen hatte und befahl, uns in Deckung zu bringen. Tom schoss in die Richtung, aus der er den Angreifer vermutete. Erst einen Schuss, dann den zweiten und schließlich noch einen dritten. Die Waffe hatte ein Trommel mit sechs Patronen. Dann humpelte der Attentäter auch schon auf die Lichtung, um anschließend tödlich getroffen, zusammenzubrechen. Tom hatte einen Alien erschossen. Seinen ersten, vermutete ich, während ich am Boden kauerte. Der zweite Anderraner lag ebenfalls einige Meter entfernt, am Bein verletzt, im Dreck. Eigentlich lagen wir bis auf Tom und Trumpy alle im Dreck des Jura. Nie hätte ich gedacht, in eine Schießerei zu geraten, Mord und Intrigen zu erleben; sicherlich gefasst auf gefräßige, gefährliche Dinos, tropische Temperaturen und Unwetter, ja, aber außerirdische menschliche Wesen, die sich bekriegten und wir mitten drin in dieser Auseinandersetzung...das war schon eine etwas andere Nummer!



Die letzten Tage im Jura verbrachten wir nun endlich an der Südküste der Rheinischen Insel. Ortas hatte den Multiverser so programmiert, dass wir einen sogenannten von Ort zu Ort Transport durchführen konnten, der aber, wie wir später noch erfahren sollten, nicht ganz ungefährlich war. An einem mit Korallen besetzten Strand versorgten wir die Wunde an Ortas Bein und genossen das Idyll einer Gegend, die nun wirklich an die Karibik erinnerte. Ich war nie über Europa hinaus in Urlaub gefahren und so war auch dies eine völlig neue Erfahrung für mich. Ich genoss einfach nur die entspannte Erholung. Wir hatten darauf verzichtet, eine neue Behausung zu bauen, denn ganz in der Nähe des Sandstrands, an dem wir ausgiebig faulenzten, befand sich ein Felsüberhang, der ausreichend Schutz bot für den Fall eines Wetterumschwungs. Im Schelfmeer der Tethys tummelten sich Urzeithaie, Schildkröten und der gefürchtete Machimosaurus, ein Meereskrokodil, welches mit Vorliebe den Quastenflosser verspeiste. Mit äußerster Vorsicht hatten wir den Flachwasserbereich durchwatet und einige Muscheln aus dem Wasser gefischt. Das meiste davon war zum Essen nicht zu gebrauchen, weil die Bewohner schon ausgezogen waren, aber ein paar blieben dann doch noch für die Speisekarte. Einen Fisch, der einem Buntbarsch ähnelte, hatte Ortas mit einem selbst gebastelten Speer erfolgreich harpuniert.
>Der Fisch schmeckt köstlich< sagte ich zu Ortas, um sein Jagdergebnis zu loben.
>Ja, Danke! Mich in der Wildnis zu bewegen, habe ich von meiner Freundin Lesalee gelernt. Die ist Ärztin auf Anderran und ein richtiges Naturkind< gab Ortas zurück.
>Ihr werdet sie kennen lernen< und blickte uns alle vier dabei in die Augen.
Wir waren erstaunt über diese offenkundige Einladung auf einen anderen Planeten, aber auch etwas unvorbereitet.
>Wie?< meinte Tom, der nicht wirklich erfreut war.
>Gerade du, Tom, der du mir das Leben gerettet hast vor diesem nichtsnutzigen Mörder Zolan, wirst unsere Gastfreundschaft genießen. Ich bitte dich, mir diese Ehre zu erweisen!< Bei diesen Worten konnte Tom nicht umhin, die Einladung dankend anzunehmen.
>Du scheinst wohl Sehnsucht nach Anne zu haben< vermutete sein Freund Dennis.
>Es ist mehr so...aber nein, lass gut sein, Dennis<
>Was ist, nun sag schon!< ließ Dennis nicht locker.
>Ich würde so liebend gerne mal wieder einen richtigen Bourbon wegschlucken< gab Tom unüberhörbar schmachtend zur Antwort. Mir war endgültig klar, dass auch Tom ein Alkoholproblem hatte, denn offensichtlich rangierte der Alkohol auf seiner Prioritätenliste ganz oben, noch vor seiner Verlobten und sogar vor seinem alten Buick. Auch André war dieses offenkundig süchtige Verhalten aufgefallen und wir blickten uns wortlos in die Augen. André trug nur noch einen Fetzen seines Zaubermantels, der nun eher einem zerrissenem T-Shirt glich. Was ich noch vor einiger Zeit als schlechtes Omen gedeutet hatte, war nun doch keines gewesen. Wir waren nicht von Sauriern gefressen worden und bei dem Schusswechsel auf der Lichtung hatten wir auch nichts abbekommen. Ganz zu schweigen von dem Tsunami, dessen eigentlicher Brachialgewalt wir noch so gerade entkommen waren.
>Also, ihr seid alle einverstanden?< wollte Ortas nochmals abschließend von uns wissen.
Wir bejahten, und ich war der Ansicht, dass wir dies auch unbedingt tun sollten, denn Ortas konnte unsere Hilfe gebrauchen auf seinem Planeten, indem wir für ihn aussagten. Weder hatte er auf der Erde absichtlich die Zeitlinien verändert, noch ging von ihm eine Bedrohung für uns aus. Die Geschichte von Zolan und seinen Begleitern hatte uns Ortas erzählt. Wir waren Zeugen, dass nicht er, sondern Tom Zolan in Notwehr erschossen hatte. Das war zwar etwas unangenehm für Tom, aber der war ja so professionell aufgestellt, dass er genau wusste, worauf er sich da auch als Privatdetektiv einließ. Wir beschlossen, die letzte Nacht an der Küste zu verbringen und beobachteten ein wenig verträumt, wie eine große rote Kugel im tiefen Blau der Tethys zu versinken begann.













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