Von fernen, nahen Feldern
von Enno Ahrens (epiklord)
Es waren einmal zwei Tauben, Gerda und Mathilde. Sie waren Schwestern und schienen unzertrennlich. Bis eines Tages in ihrem Heimatland Lampions aus einem kleinen exotischen Staat importiert wurden, weil sie mit so wundervoll verzierten Taubenmotiven angeboten wurden. Bald leuchteten sie in allen Schlägen, Straßen und Gassen.
Und man machte eine erstaunliche Entdeckung. Auf jedem Brustgefieder der mausgrauen Tauben des hiesigen Landes zeigte sich, unter dem Licht der Laternen betrachtet, ein wunderbar gezeichneter Kreis. Fortan nannte man ihr Feld das derer mit den Kreisen. Nur auf Mathildes Federkleid schimmerte ein deutlicher Winkel. Die Tauben der Umgebung zeigten mit den Krallen auf sie, sagten, sie hätte einen genetischen Defekt und bezeichneten es als Winkel-Krankheit. Schwester Gerda schämte sich für Mathilde: „Eine Schande ist das!“ schalt sie. Dies betrübte Mathilde so sehr, dass sie tagelang weinte; schließlich flog sie fort aus dem Feld derer mit den Kreisen.
Gerda machte sich indessen große Vorwürfe und begab sich auf die Suche nach ihr. Sie wendete sich an eine hellseherische Waldohreule, die ihr den Weg zu Mathilde wies, in ein weit entferntes Feld.
Gerda fand ihre Schwester, entschuldigte sich bei ihr und bedauerte, sie wie eine Aussätzige behandelt zu haben. Sie gelobte, es nie wieder zu tun. Gerda hing an Mathilde, wollte sie gleich mit zurück ins Heimatland nehmen. Aber Mathilde fühlte sich in dem jetzigen Feld sehr wohl. So musste Gerda eben dort bleiben.
Auch hier hatte man jene Lampions eingeführt und staunte, dass bei allen Tauben ein Winkel auf dem grauen Gefieder erkennbar wurde, wie bei Mathilde; auf Gerdas Federn schimmerte aber ein Kreis. Rundherum im Feld derer mit den Winkeln sagten sie, dass Gerda einen genetischen Defekt hätte und es die Kreis-Krankheit wäre. Mathilde schalt Gerda. Dies betrübte Gerda so sehr, dass sie tagelang weinte; dann flog sie fort.
Bald bezweifelten aber einige fantasiereisende Tauben, die zwischen dem Feld derer mit den Winkeln und dem derer mit den Kreisen hin und her flogen, dass es sich um Krankheiten handelte. Denn befanden sie sich im jeweils fremden Feld, galten sie als krank, im Heimatfeld aber als gesund.
Gerda und Mathilde besuchten sich nun wieder gegenseitig. Am liebsten wären sie zusammengezogen. Aber sie fürchteten den noch immer währenden Gruppenzwang und die Ausgrenzung.
Die mit den Winkeln und auch die mit den Kreisen hatten sich aber unabhängig voneinander beträchtliche Kulturen geschaffen mit vielen Buchstaben, mit LSÜGIFUNHBZEKRAJÖTSCDPWM.
Nach ihren gegenseitigen Besuchen begleiteten Gerda und Mathilde sich immer eine halbe Strecke, machten Halt an der Trinkwasserstation der alten Waldohreule, jener, die damals Gerda den Weg zu Mathilde gewiesen hatte.
Die Eule beobachtete die Beiden schon längere Zeit. Sie konnte nicht mehr mit ansehen, dass sie sich innerlich so sehr quälten. Nun war ja die Waldohreule eine Hellseherin, setzte sich auf ihre Ruhestange vor die Gästelounge, in der Gerda und Mathilde saßen, und sprach: „Das Misstrauen gegen Andersartige und gegen Fremde sitzt zu tief, als dass man es so einfach aufheben könnte. Aber wenn man sich konsequent miteinander austauschte, könnte sofort ein zukunftsweisender Satz entstehen.“
Etwas rätselhaft, fanden Mathilde und Gerda. Gleichzeitig erklang, mehr intuitiv, ein hoffnungsfroher Satz in ihnen, ein Satz mit einem Motto, nach dem sich immer mehr Tauben beider Felder gesehnt, aber auch davor gefürchtet hatten. Er blieb Gerda und Mathilde jedes Mal im Halse stecken. Es gelang ihnen nicht, ihn zu formulieren, so dass er klar und mitteilbar wurde, wollte nicht heraus aus ihren Schnäbeln.
Gerda schaute traurig auf Mathilde, diese ebenso auf Gerda. In dem Augenblick entzündete die Waldohreule ein Lampion und es erstrahlten das kreisrunde O auf Gerdas und das winkelige V auf Mathildes Gefieder. „Juuih“, jauchzten sie, „mit unseren alten neuentdeckten Zeichen könnten wir es bewerkstelligen“. Und in ihren Kehlen formten sich die passenden Laute dazu. Aus dem unaussprechlichen Satz, EINE H_FFNUNGS__LLE _ERKNÜPFUNG, ihres früheren Alphabetes,
gelang ihnen endlich, wie ersehnt,
„EINE HOFFNUNGSVOLLE VERKNÜPFUNG“.
Sie ließen das Los entscheiden, in welchem Feld sie ihre Tage bis ans Ende verbringen wollten.