Ein Traum...
von Mario Schumann

 

Ich konnte nicht schlafen. Ich konnte oft nicht schlafen, lag bis spät nach Mittenacht wach und wälzte mich hin und her...schlafmittel nahm ich keine, ja ich habe sogar eine Abscheu vor ihnen, es war dieses künstliche, diese Ahnung von Krankheit und Verfall die mich abstieß und unangenehme Erinnerungen an meine Kindheit wachriefen Und so wanderte ich wie so oft manchen Abend noch einmal durchs Haus, ging in jedes Zimmer und betrachte stumm und in Gedanken versunken die düstere Einsamkeit im Haus, wie sie sich jede Nacht ausbreitet. Ich empfand dies immer etwas bedrückend, dieses langsame absterben des Lebens mit der Dämmerung, die Dunkelheit in den Ecken eines Raumes, als ob sie auf der Lauer läge, die Dunkelheit, bereit jeden Moment auf einen zu zu strömen, um ihn zu umschließen, ihn einzuhüllen mit ihrem Schleier, verschwinden zu lassen und aus zu löschen. Gedanken dieser Art hatte ich oft in schlaflosen Nächten, ich hütete mich sie jemanden anzuvertrauen. Wer würde sie denn verstehen, sie nachvollziehen, waren es doch nur die nächtlichen Träumereien eines Schlaflosen. Und so ging ich durch die Zimmer und Räume, in Gedanken sinnend, bis ich schließlich auf dem Dachboden angelangt war. Durch das kleine Fenster schien das Mondlicht schräg hinein und erleuchte den dunklen Raum spärlich. „Es ist Vollmond“, sagte ich mir bei einem Blick durch das Fenster, schmutzig-hell stand der Mond am Himmel und machte die Nacht noch bedrohlicher, schien es mir , als ob ich im Licht des Mondes, wie durch einen Scheinwerfer angestrahlt, der Mittelpunkt sei, gut sichtbar für die Äugen der Dunkelheit um mich herum, die, mich musternd, nur darauf zu warten scheint mich zu verschlingen. Das alles dachte ich, ruhig stehend, meinen Blick umherschweifend in den Raum gerichtet. Ich hatte keine Angst. Ich schaute, wie ein alter Soldat auf das Schlachtfeld schaut, vertraut mit dem was passiert und passieren kann, ohne törichte Hoffnungen, kalt kalkulierend, wissend um alles was geschieht. Ich ließ meinen Blick wandern, fasste all die alten, vertrauten Dinge die unbenutzt hier oben lagen, gleich das nächste in den Blick nehmend, ohne mich lange an einem aufzuhalten. Ich kannte das alles schon, wie viele Male war ich schon hier oben gewesen, bei Tag und Nacht, wie oft hatte ich alles betrachtet, bewegt benutzt. Und doch hatte es etwas zauberhaftes, dieses Halbdunkel, es machte alles geheimnisvoll, beinahe magisch, es war nicht zu ergründen, blieb im Dunklen und verschwommen. Der Zauber schwand wenn man sich näherte, Stück für Stück löste sich der Schleier und dann war es doch wieder nur das alte Sofa oder das kaputte Radio. Deshalb blieb ich einfach stehen und ließ die eindrücke auf mich wirken. Vielen, so wusste ich, war dieser Zustand unangenehm, sie wollte Klarheit, in allen Dingen. Mir gefiel das Spiel der Phantasie, Das erträumen des Möglichen und Unmöglichen. So blickte ich umher, bis mein Blick an dem alten Spiegel hängen blieb.
Der Spiegel! Ein Stück Vergangenheit, ein Zeugnis meiner Ahnen, schon seit Ewigkeiten, so wurde mir klar, im Besitz meiner Familie, ein Mahnmal des Vergangen, unberührt von dem Wandlungen der Zeit, zeitlos. Ich ging näher und betrachte ihn. Er war mir schon manchmal ein Trost gewesen, ein Pfeiler im Meer der Vergänglichkeit, er, der wie ein weiser, alter Mann erhaben über allem stand, schon seit so langer zeit. Lange schaute ich ihn an, meinen Gedanken nachgehend...war nicht etwas anders als sonst? Ich überlegte, woher kam dieser Gedanke? Etwas war anders, aber was? Müsste ich nicht ein Spiegelbild sehen? „Es ist dunkel“, dachte ich, aber man müsste doch ein Spiegelbild sehen. Hatte ich denn je eins gesehen? Ich war verwundert verblüfft, ich wusste es einfach nicht mehr. So ging es mir manchmal, hatte ich die Tür abgeschlossen? Sie war zu, also musste ich sie abgeschlossen haben. Hatte ich das Geld bei mir? Ja, ich hatte es. Aber wie war es hier, ich müsste mich doch erinnern können, so viele Male hatte ich vor dem Spiegel gestanden und hineingesehen. Ich sah mich um, untersuchte den Spiegel mit meinen Blicken, instinktiv nach einer Lösung suchend die mein Verstand so sehr forderte, wie die verschlossene Tür und das Geld in der Brieftasche. Da entdeckte ich die Inschrift. Auch an sie konnte ich mich nicht erinnern, sie stand ganz unten auf dem Rahmen. Ich wischte den Staub weg, es schien mir der Staub vieler Jahrhunderte zu sein und ich las:

„Der Gang bringt das Leid,
Stillstand den Tod,
Das Ende den Weg,
Verlust und Gewinn.“

Wo kam das her, was bedeutete das? Hatte das nicht schon immer dort gestanden? Was war los mit mir, was geschah hier? Langsam richtete ich mich auf und blickte in den Spiegel. Schwärze war da, Dunkelheit, nichts sah ich in ihm, kein sich spiegelndes Licht, keinen Schatten, nichts nur die endlose Dunkelheit. Langsam hob ich meine Hand um ihn zu berühren, ich wollte wissen was da ist, da musste etwas sein, da musste! Kalt und glatt musste die Oberfläche sein, dann war es nur ein Spiegel und alles nur Einbildung, alles nur ein Traum! Mein Verstand schrie als ich die Hand auf diese dunkle Fläche legte, er schrie aus Mut zur Verzweiflung, da MUSSTE etwas sein! Wie ein Schlag durchfuhr es mich, ich riß die Äugen auf, ich wollte schreien, mich wehren, doch das Dunkle war schneller, in Sekundenbruchteilen kroch es meinen Arm entlang auf mich zu, es hüllte mich ein, es verschlang mich, es fraß mich auf. Ich sah nichts mehr, nur noch Dunkelheit und eisig kalt wurde es um mich herum....
Und plötzlich war ich draußen. Ich begriff nicht, ich sah, doch ich verstand nicht. Allmählich, wie zäher Sirup flossen meine Gedanken und ich versuchte zu begreifen. Ich war draußen, ja, da war die Strasse die hinunter zur Kreuzung führt, die Gebäude die mir vertraut waren, alles war wie immer und doch anders. Was war denn anders? „Was mache ich hier? Wie komme ich hier her?
Der Spiegel! Ich hatte den Spiegel berührt und dann war ich plötzlich hier...aber wie? War es Nacht war es Tag? Alles ist grau! Wo sind die Farben, das grüne Gras, die roten Dächer? Das Gras ist da, die Dächer auch, aber wo sind die Farben?“ Ich blickte umher, ich glotzte die Dinge an die ich sah, versuchte zu verstehen, aber alles ran meinem Verstand davon, wie Wasser das man in eine flache Hand schüttet.
„Und die Menschen, wo sind die Menschen? Hier müssen doch Menschen sein, hier waren immer Menschen!“ Und da sah ich sie, aber waren das Menschen? Waren DAS Menschen? Gebückte, graue gestalten, langsamen Schrittes einhergehend, ziellos, wie Puppen. „Wo sind ihr Gesichter, Menschen haben doch Gesichter!“ Ich versuchte in ihre Gesichter zu sehen, ich sah nichts, nur verschwommen graue Schatten. Da bekam ich Angst, mein Verstand wollte fliehen, schreien, davon laufen. War ich nicht auch gebeugt, wie von einer unmenschlich großen Last? Lief ich nicht auch langsam dahin, ohne Ziel, ohne Sinn? War ich nicht einer von ihnen, lief ich nicht mit ihnen, gehörte ich nicht dazu? Tropfte nicht auch mein Blut zu Boden und zeichnete meinen weg? War es nicht auch mein Herz das blutete und bereitete auch mir nicht jeder Tropfen unsagbare Qualen und Schmerzen? War es nicht mein Gesicht das sich da in einer Pfütze spiegelte und nur ein Zerrbild von grauen Schatten war?
„Der Spiegel!“ „Der Gang bringt das Leid“ hatte ich gelesen, Dieser Gang war das Leid, jeder Schritt eine Qual, eine Folter, alles schrie in mir, alles tobte, kämpfte und zerbrach. Meine Seele litt, sie wand sich, sie wollte nicht mehr, es war furchtbar, grauenvoll, unbeschreiblich. Und doch ging es weiter Schritt um Schritt, so sehr ich mich auch wehrte. „Stillstand den Tod“ dachte ich, ich brauchte nur anzuhalten, jetzt, JETZT, einfach aufhören, einfach stoppen, stehenbleiben und das Leid würde ein Ende haben! Tränen flossen mein Gesicht hinunter, sie tropften auf den Boden immer mehr, vermischten sich mit meinen Blut und flossen die Strasse hinunter, ein Fluss des Leids, tiefrot färbte er den Weg. „Schluss! Vorbei!“ schrie ich, und wollte stoppen und endlich sterben, eingehen in den Tod und mich befreien, von der Last, den schmerzen und dem Leid! Wer kann beschreiben was ich sah!?
Ich habe den Tod gesehen, ich stand still und da war nichts, gar nichts, nicht einmal Dunkelheit, unsagbare Leere, endloser Raum, Ewigkeiten von nichts und ein grauen, ein glasklares Grauen das durch mich hindurch floss, unbeschreiblich, mehr als eines Menschen Verstand fassen kann und doch wieder nichts, nichts! Und wie in einem wilden Strudel riss es mich fort, alles verformte sich, zerfloss, drehte sich, immer schneller, Schmerzen über Schmerzen, Schreie, meine Schreie, es zerriss mich, zerquetschte mich....keine Worte gibt es dafür, keine....
Und dann stand ich wieder vor dem Spiegel. Unbegreiflich schien mir das Erlebte, doch ich fragte mich nicht was geschehen war, ich wusste es, ich wusste es als ich in den Spiegel sah und mich selbst erkannte, stumm stand ich da und blickte mich an, sah in meine Äugen und wusste es, wusste um das Dunkle in mir, wusste um das was ich nun immer in mir tragen würde, was ich niemals vergessen könnte, wusste dass es ein Teil von uns allen ist, das ich ihn erkennen musste und das es mein Schicksal ist mit ihm zu leben, wie die anderen die ich gesehen hatte, ein ewiger Kampf, ein ewiges Leid. Und so stand ich noch lange vor dem Spiegel, in dem ich mich selbst erkannte.
Ich habe nie jemanden davon erzählt, wer könnte es schon verstehen? Wer außer mir? Vielleicht nur die, die wie ich gesehen haben, vielleicht nur die, aber vielleicht auch keiner. „Das Ende den Weg, Verlust und Gewinn“, diese Worte spreche ich oft leise vor mich hin Was mögen sie bedeuten? Wird der Weg unaufhaltsam zu meinem Ende führen? Werde ich erst dann den Verlusts und Gewinn meines Lebens erkennen? So oft ich darüber auch nachdenke, ich kann keine Lösung für dieses Rätsel finden. Jetzt noch nicht, vielleicht wenn es Zeit für mich ist und das Ende naht, vielleicht dann. Doch jetzt kann ich nur weitergehen, Schritt für Schritt, Träne für Träne, Blutstropfen für Blutstropfen....

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