Oneway - Ticket : Life
von amelia

 

Es war noch früh am Morgen, als ich durch die Strassen der Stadt lief. Meine Füße trugen mich schon seit Stunden. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Irgendetwas hielt mich wach. Um einen klaren Kopf und somit den Grund für meine Ruhelosigkeit zu finden, zog ich mich an und lief durch die Stadt. Ich wollte keine Leute treffen und auch keine Gespräche führen. Ich wollte einfach nur beobachten. Beobachten, was andere Menschen um 8 Uhr Morgens machen. Wie sie ihren Geschäften nachgingen oder einfach nur die Zeit verbrachten. Es war Samstag und somit hatte ich alle Zeit der Welt.

Ich sah eine Frau mit einem Kind. Eine hübsche Frau, kaum älter als ich. Sie hatte eine kleine Tochter von etwa 5 Jahren mit braunen Haaren und strahlend blauen Augen. Als ich an ihnen vorbei lief, sah mir das kleine Mädchen direkt in die Augen und hielt diesen fragenden, neugierigen und durchbohrenden Blick bis wir uns passiert hatten. Dieser Blick in diesen Augen wird mir unvergesslich bleiben. Denn nur Kinder haben diese unschuldige Neugier im Blick. Sie suchen nicht nach Fehlern oder dunklen Geheimnissen. Sie suchen nach der Wahrheit, nach dem Guten im Menschen. Ohne Vorurteile oder Angst vor dem, was sie entdecken könnten.

Ich lief weiter und sah einen Mann auf einer Bank sitzen. Er trug ein weites Gewand und saß im Schneidersitz. Er betete einen Rosenkranz und bewegte dabei die Lippen. Es war interessant zu beobachten. Scheinbar war er völlig in Meditation verfallen.

Als ich weiter lief, kam ich an einem Cafe vorbei. Ich hatte nichts Besonderes erwartet. Ein paar Menschen, die Kaffee trinken und frühstücken oder eine Zeitung lesen.

Doch da war sie. Ich hatte noch nie eine Frau gesehen, die schöner war. Wenn ich heute zurück denke, weiß ich, dass sie es auch blieb. Der Höhepunkt der Schönheit, die mein Auge jemals erblicken durfte. Sie las ein Buch und trank Milchkaffee. Ihr braunes Haar schimmerte in einem hellen Glanz, denn die Sonne fiel durch das große Fenster direkt auf sie. Als würde der Himmel einen Lichtstrahl auf sie halten, damit ich sie in der Menge finde. In diesem Moment wusste ich, warum ich nicht schlafen konnte. Das Schicksal wollte, das ich sie suchte und schließlich auch fand. Ich ging hinein, direkt auf sie zu und setzte mich an einen Tisch in ihrer Nähe um sie zu beobachten. Ich sprach nicht mit ihr und versuchte auch nicht, sie durch irgendetwas von ihrem Buch abzulenken und sie damit auf mich aufmerksam zu machen. Wir saßen noch 2 Stunden in dem Cafe und ich wendete nicht einmal meinen Blick von ihr ab. Es war als wäre ich mein Leben lang blind gewesen und müsste diese Zeit mit ihrem Anblick wieder aufholen. Ich konnte mich einfach nicht satt sehen. Irgendwann sah sie dann auf und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Sie suchte wahrscheinlich die Bedienung, um zu bezahlen. Doch plötzlich blieb ihr Blick an mir hängen. Sie sah, dass ich sie anstarrte. Als ich ihre wunderschönen blauen Augen sah, hatte ich keinerlei Angst oder Scham, sie weiter anzustarren. Bei einem anderen Menschen hätte ich wahrscheinlich verlegen weggesehen. Doch ich konnte nicht. Mein Blick war wie fest geschweißt.

Nach einiger Zeit löste sie ihren Blick, jedoch nur zaghaft, und rief die Bedienung herbei. Sie zahlte ihren Milchkaffee, stand auf und ging. Ich sah ihr nach und sie schaute zurück. Als sie um die Ecke bog, stellte ich mir die Frage, ob ich ihr vielleicht folgen sollte. Sie ansprechen sollte. Ich sah noch einmal zu ihrem Platz, um zu prüfen, das sie eben wirklich dort war, und bemerkte, dass sie ihr Buch hatte liegen lassen. Wieder war es wohl das Schicksal, das mir einen Grund gab, ihr nachzulaufen. Ich ging rüber zu ihrem Platz, nahm das Buch und folgte ihr.

Ich musste nicht weit laufen, denn sie blieb nach ein paar Metern stehen und vermisste offensichtlich etwas. Sie sah, dass ich ihr nachlief und kam langsam auf mich zu. Ich hielt ihr Buch hoch und starrte sie wieder nur an. Sie nahm es aus meiner Hand und berührte sie dabei. Es fühlte sich an, als würde ein Blitz von meiner Hand durch meinen gesamten Körper schießen. Ich war wie erstarrt.

„Vielen Dank das sie mir extra wegen eines Buches nach gelaufen sind. Das macht heutzutage kaum noch jemand.“

„Kein Problem. Ich bemerkte es, als sie das Cafe verlassen hatten. Und ich weiß aus eigener Erfahrung wie wichtig einem ein Buch sein kann. Ich selbst lese alle Bücher, die mir in die Hände kommen.“

„Haben sie dieses Buch schon gelesen?“

„Oh ja, ich hatte schon das Vergnügen. Nicholas Sparks schreibt herzzerreißende Bücher. Ich hatte es innerhalb eines Tages gelesen.“

Wir liefen weiter, während wir unsere Unterhaltung fortsetzten. Ich hatte keine Ahnung wohin. Ich folgte einfach ihren Schritten, ohne darüber nachzudenken. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, ihren Worten zu lauschen. Ihre Stimme klang so lieblich wie die Stimme eines Engels. Passend zu ihrer Erscheinung.

„Sie sind mir in dem Cafe aufgefallen. Sie starrten mich eine ganze Weile schon an, kann das sein?“

„Oh ja, ich hoffe es hat sie nicht gestört.“

„Nein, aber es verblüffte mich, dass sie, als ich sie sozusagen erwischte, ihren Blick nicht abwendeten. Normalerweise reagieren die Menschen dann verlegen und schauen in eine andere Richtung. Doch sie sahen mich weiter einfach nur an.“

„Es tut mir Leid, aber ich konnte meinen Blick einfach nicht abwenden. Es war, als hätte das Schicksal mir einen Schubs gegeben. Als hätte ich einen Engel gesehen.“

„Das muss ihnen nicht Leid tun und es ist sehr schmeichelhaft von ihnen mich mit einem Engel zu vergleichen. Vor allem liefen sie mir dann auch noch nach um mir mein Buch zu bringen. Wer sind sie?“

„Ich bin nur Irgendjemand, doch für diesen Irgendjemand sind sie die Welt!“

„Aber sie kennen mich doch überhaupt nicht!“

„Das muss ich auch nicht. Ich weiß es seit dem Moment, als ich sie durch das Fenster sah!“

An diesem Tag, nach dieser schicksalhaften Begegnung, begann ich zu leben. Ich konnte nicht atmen, wenn sie nicht bei mir war. Wenn wir spazieren gingen, nahm ich ihre Hand und wollte sie nie wieder loslassen. Als ich sie meinen Freunden vorstellte, sagte ich nur: ‚Das ist sie’. Jedes Mal, wenn sie lachte, klang es, als ob kleine Engel singen. Wenn ich sie ansah, vergaß ich die Sonne. Jede Nacht, wenn wir einschliefen, kuschelte sie sich an mich und ich schloss ganz fest die Arme um sie. Sie sagte einmal, dass sie sich an keinem Ort so sicher fühle, wie in meinen Armen.

Wir gaben uns ein stilles Versprechen. Wenn einer von uns jemals den anderen zum weinen bringt, trennen wir uns. Denn nur wir sind einander der Tränen wert, doch sind wir die Richtigen füreinander, wird es nie einen Grund geben, zu weinen.

Wir verbrachten viele wunderschöne Monate miteinander. Voll mit Liebe, Vertrauen, Nähe und Glück. Ich hätte nie gedacht, dass solche Vollkommenheit möglich wäre.

Doch alles veränderte sich von Grund auf, als ich einen überraschenden Anruf bekam. Ich erwartete sie schon und dachte, sie würde vielleicht im Stau stehen. Was ihre Verspätung erklären würde. Sie war mit dem Auto auf dem Weg zu mir und hatte einen schweren Unfall.

Nun sitze ich hier an ihrem Bett während sie im Koma liegt und an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist. Dieser Engel, der mir erst vor ein paar Monaten begegnet ist. Hilflos beobachte ich jeden ihrer Atemzüge. Ich höre ihr schwaches Herz schlagen und bete, dass sie wieder aufwacht. Ich hatte vorher nie an Gott geglaubt. Doch wer, wenn nicht er, hätte diese Begegnung ermöglichen können? Ich wartete 23 Jahre auf einen Beweis, dass es ihn gab. Und dann begegnete ich ihr und war überzeugt. Denn wenn es Engel gab, wie sie es mir bewies, musste es auch einen Gott geben.

Ich saß viele Wochen an ihrem Bett. Es gab so vieles, was ich ihr noch sagen wollte. So vieles, was ich noch mit ihr erleben wollte. Und nun lag sie da, ohne sich zu rühren. Angeschlossen an Geräte, die ihre Atmung und ihren Herzschlag überwachten. Denselben Atem, den ich so oft auf meiner Haut und in meinen Haaren gespürt hatte. Dasselbe Herz, dass ich so oft hatte schlagen hören, wenn ich meinen Kopf an ihre Brust legte. Es kommt mir alles wie ein böser Albtraum vor. Doch so sehr ich es auch versuche, ich kann einfach nicht aufwachen um zu sehen, dass sie neben mir liegt und selig schläft.

Wenn ich sie nun ansehe, wie sie dort liegt, versuche ich die Geräte zu ignorieren, und denke zurück an die vielen Nächte, die ich damit zugebracht hatte, sie zu beobachten, während sie schlief. Es erfüllte mich immer mit Ruhe und Glück.

Ich lese ihr jede Woche ein anderes ihrer Lieblingsbücher vor. Zwischendurch auch ein Gedicht, wie ich es immer tat, wenn wir im Park lagen oder auf dem Dach die Sterne beobachteten. Sie trieb mich immer an zu schreiben. Sie liebte meine Gedichte und Geschichten. Und ich liebte sie. Sie war meine Inspiration, der Grund warum ich schrieb und noch heute schreibe. Denn ein paar Momente mit ihr reichten mir aus, um das Universum, in seiner Unendlichkeit, voll auszufüllen mit Worten. Doch sie beschreiben konnte ich nie, denn mir fehlten dafür immer die Worte. Ich wollte sie malen, doch dafür fehlten mir die richtigen Farben. Nichts wird ihr gerecht.

Ich sitze hier und lese ihr ein Buch von Nicholas Sparks vor. Es erinnert mich an unsere Begegnung. Aber auch an die vielen Male, als sie ein Buch von ihm las und ihr am Ende eine Träne die Wange hinunterlief. Sie kannte alle seine Bücher. Sie hatte sie alle schon viele Male gelesen. Doch sie musste immer wieder weinen.

Sehr oft kommen Freunde zu Besuch. Sie bringen meist Blumen für sie und Essen für mich mit. Denn ich möchte nicht das Zimmer verlassen. Ich habe Angst den Moment zu verpassen, in dem sie wieder aufwacht. An den Moment in dem sie stirbt möchte ich gar nicht denken, doch selbst den würde ich nicht verpassen wollen. Niemand sollte alleine sterben. Schon gar nicht sie. Ich halte ihre Hand. Wenn ich nachts nicht schlafen kann, lege ich mein Gesicht in eine ihrer Hände um ihre Wärme und ihre zarte Haut zu spüren. Wie oft hatte sie mit ihrer Handfläche über meine Wange gestrichen wenn es mir nicht gut ging. Oder mir Tränen aus dem Gesicht gewischt. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich in der letzten Zeit diesen Trost gebraucht hätte. Sie ist doch da, sie liegt dort vor mir und doch fühle ich mich so alleine und hilflos in ihrer Gegenwart. Manchmal schmerzt es mich so sehr sie dort liegen zu sehen, dass ich es kaum aushalte. Ich erwische mich auch ab und zu dabei, dass ich mir Schuldgefühle einrede. ’Wenn sie nicht auf dem Weg zu mir gewesen wäre, hätte sie vielleicht keinen Unfall gehabt.’ Doch wenn ich länger darüber nachdenke, fange ich an zu glauben, dass das Schicksal ihr den Unfall vorherbestimmt hatte. Doch Gott wollte nicht, dass sie diesen Kampf hier alleine durchstehen muss. Also schickte er mich zu ihrer Unterstützung.

Ich würde mein Leben geben für ihres, sie bis in den Himmel tragen um dort die Ewigkeit mit ihr zu verbringen. Doch wie es scheint, ist das allein ihre Reise, auf der ich sie nicht begleiten darf.

Ein Arzt sagte mir heute Morgen, dass sie die nächste Nacht wahrscheinlich nicht überstehen wird. Ich kann es nicht glauben. Ich höre doch ihr Herz schlagen. Ich fühle doch, dass ihr Körper immer noch warm ist. Also fließt ihr Blut weiterhin durch ihre Venen. Wie kann es dann sein, das sie vielleicht morgen schon nicht mehr bei mir ist. Ich will und kann sie nicht gehen lassen. Wie soll ich weiter durch diese dunkle trostlose Welt gehen, wenn ich doch weiß, dass sie nie wieder so strahlend und glücklich sein kann, wie ich sie durch ihre Augen gesehen habe? Und woher soll ich wissen, dass es ihr dort, wo sie hingeht, gut geht. Dort ist es vielleicht kalt und unsicher. Und ich kann sie dann nicht in meine Arme nehmen, wo sie sich doch immer am sichersten gefühlt hatte.

Es macht mir Angst. Der Gedanke sie zu verlieren ist für mich unerträglich. Vor allem, weil ich mich nicht von ihr verabschieden konnte.

Doch ich bleibe hier sitzen. Ich werde so lange ihre Hand halten, bis ihr Atem stirbt und sie erst wieder loslassen, wenn man sie mir entreißt und sie fort bringt. Und ich spreche ein letztes Mal mit ihr:

„Noch ein paar Worte zum Abschied. Es wären Millionen, wenn die Zeit dafür da wäre. Du bist alles, was mich ausmacht. Mein Herz, meine Seele, mein Engel! Du bist die Einzige für mich und wirst es auch immer sein. Ohne dich werde ich nicht leben können, aber für dich werde ich es versuchen! Das hier ist deine letzte Reise, auf der ich dich nicht begleiten kann. Obwohl ich es mir so sehr wünschen würde. Meine Tränen für dich werden wohl nie trockenen. Und damit haben wir unser Versprechen eingehalten. Du bringst mich zum weinen und verlässt mich. Doch sei sicher, ich weiß dass du dennoch die Richtige für mich bist. Ich werde dich bis in alle Ewigkeit lieben. Wir werden uns wieder sehen. Bis bald mein Engel…“

Ich höre die Nulllinie genau in dem Moment, als ich meinen Abschied beende. Ich lege mich ein letztes Mal neben sie. Meinen Kopf auf ihre Brust, meine Hand in ihre während ich sie fest in den Armen halte. Ich möchte sie nicht loslassen, doch irgendwann ist es soweit. Meine Tränen sind aufgebraucht. Ich bin völlig leer. Und sie bringen sie weg.

Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Danach stand ich nur noch an ihrem Sarg. Sah zu, wie sie ihn langsam in die Erde absenkten und warf eine rote Rose auf den Deckel. Es regnete an jenem Tag so stark, dass meine Kleider vollends durchnässt waren. Irgendjemand hielt mir einen Schirm hin, doch ich stand einfach nur dort im Regen und starrte in dieses Loch in der Erde. Es lief mir eiskalt den Rücken hinab, als ich realisierte, dass sie nun für immer fort war.

Und im Grunde war sie nur ein Mensch, doch in meiner Erinnerung wird sie immer ein Engel bleiben. Menschen neigen dazu, andere Menschen zu idealisieren. Doch warum nicht, wenn das Leben dadurch erträglicher wird!??

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5360 Beiträge veröffentlicht!