Was auch immer
von Stefan Schunck (sschunck)

 

Lena sprach nur sehr wenig, als ich sie zum Flughafen brachte. Sie hatte darauf bestanden, mit ihrem Wagen zu fahren. Wahrscheinlich hätte sie ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn ich meinen Sprit für sie hätte „verschwenden“ müssen. Sie bekam generell sehr leicht ein schlechtes Gewissen, auch dann, wenn überhaupt kein Grund dazu bestand. Ich kannte Lena mittlerweile seit zwei Jahren. Kennen gelernt hatten wir uns in der Fahrschule. Gleich in der ersten theoretischen Stunde war sie mir aufgefallen. Sie hatte schulterlange rote Haare, kleidete sich im typischen Girlie-Look und hatte diese wundervollen, großen, blauen Augen, die einen schlichtweg dazu einluden, ständig hinein zu starren. Ein wunderbares Geschöpf, dachte ich mir. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann ich mich letztendlich in sie verliebte. Aber ich glaube, es musste wohl am Tag der praktischen Führerscheinprüfung gewesen sein. Wie es der Zufall wollte, waren wir an diesem Tag die letzten beiden, die ihre Prüfungsfahrten hinter sich bringen mussten. Also saßen wir gemeinsam mit Fahrlehrer und Prüfer in einem Auto und zitterten. Zuerst war ich dran. Doch entgegen meinen Erwartungen meisterte ich meine Fahrt mit Bravour. Normalerweise habe ich vor Prüfungen im Allgemeinen eine Heidenangst. Als ich aber nun am Steuer saß, war ich die Ruhe selbst. Wahrscheinlich dachte ich mir, dass eine verbockte Prüfung mehr in meinem Leben auch keine große Rolle mehr spielen würde. Außerdem hatte ich Lena als moralische Stütze. Ich wusste, dass sie mir gedanklich die Daumen drückte. Irgendwie konnte ich es spüren. Und diesen Gefallen tat ich ihr natürlich auch – mit Erfolg. Stolz hielten wir gegen Mittag unsere druckfrischen Führerscheine in den Händen, wohl wissend, dass es spätestens jetzt an der Zeit war, wenigstens ein bisschen erwachsen zu werden.

»Was meinst du, denkst du, deine Eltern besorgen dir bald einen fahrbaren Untersatz?«, fragte Lena, als wir später noch gemeinsam durch die Stadt schlenderten.
»Keine Ahnung. Aber ich glaube, irgendeine Gurke wird schon drin sein.«

Zur Feier des Tages gönnten wir uns noch einen Kaffee und teilten uns eine Zigarette. Es war zwar Hochsommer, aber im Zuge des Erwachsenwerdens musste es einfach die pechschwarze, heiße Koffeinbrause sein, die wir uns feierlich einflößten. Auf der Terrasse eines gemütlichen Cafes saßen wir uns gegenüber und philosophierten über das Leben und malten uns unsere Zukunft aus. Ihre leuchtend blauen Kulleraugen schweiften in die Ferne. Sie überlegte einen Moment und sagte dann: »Wer weiß, vielleicht heiraten wir zwei noch.« Bisher kein einziges Wort über Beziehungen. Ich wusste nicht einmal, ob sie einen Freund hatte. Wie auch immer, ich glaube, in diesem Moment war es um mich geschehen. Auch wenn es nur einer ihrer kleinen Späße gewesen sein sollte.

In den nächsten zwei Jahren lernten wir uns immer besser kennen, unternahmen oft gemeinsam etwas, und irgendwann hingen wir uns so oft auf der Pelle, dass man uns wirklich für ein altes Ehepaar halten musste. Ein richtiges Paar waren wir jedoch nicht.

Ein Jahr als Au-Pair im sonnigen Florida stand jetzt für Lena an, deswegen fuhr ich sie zum Flughafen. Ich hielt natürlich nicht viel davon, sie ein ganzes Jahr lang nicht mehr zu sehen, zumal ich mein Liebesgeständnis immer noch nicht losgeworden war. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie ich es ihr beibringen sollte. Vielleicht war sie ebenso in mich verknallt, vielleicht aber auch nicht, und ich war für sie einfach nur ein guter Freund.

»Und was wirst du so treiben, wenn ich nicht da bin?«
»Was schon«, begann ich ironisch. »Ich werde mich zuhause einschließen, Unbelievable Truth in den CD-Player legen und solange mies drauf sein, bis du wieder da bist.« Dabei zog ich kindisch eine Schnute.
»Du bist ja süß.«, stellte Lena gerührt fest und strich mir sanft über die Wange. Wäre jetzt der richtige Augenblick, fragte ich mich. Der richtige Moment, um ihr das zu sagen, was ich schon vor zwei Jahren hatte sagen wollen? Ich wollte, musste, traute mich aber doch nicht.

»Willst du meine Frau werden?«, hatte ich sie mit todernster Miene gefragt, damals im Café. Zuerst sichtlich verlegen, brach sie anschließend in schallendem Gelächter aus. Ich für meinen Teil hatte es ernst gemeint … so halbwegs jedenfalls. Nach diesem Tag stellte sich für mich die Frage, ob ich den Kontakt zu ihr aufrechterhalten oder ob ich ihr künftig aus dem Weg gehen sollte. Zwar hatte ich mich für ersteres entschieden, weil ich genau wusste, wie es kommen würde, doch uns weiterhin zu treffen, ging von ihr aus. Und eben diese Tatsache legte ich damals als Indiz dafür aus, dass sie womöglich auch etwas für mich empfinden könnte.

»Du kriegst das schon hin«, grinste sie, als sie mich zum Abschied umarmte. »Ich komme ja wieder.«

Dann schauten wir uns eine ganze Weile einfach so in die Augen, bis sie schließlich sagte: »Ich hab da auch noch was für dich.« Sie wühlte in ihrer Handtasche, zog dann einen kleinen Umschlag heraus. »Hier.« Sie reichte mir den Brief. »Der ist für dich. Aber mach ihn bitte erst auf, wenn ich weg bin, sonst ist es mir ein bisschen peinlich.«

Auch wieder eine ihrer Eigenarten. Vieles war ihr grundsätzlich peinlich. Ich weiß nicht, wie oft sie dieses Wort mittlerweile benutzt hat, aber es gehört zu ihrem Wortschatz wie Butter aufs Brot.

Dann schlang sie ihre schlanken Arme noch einmal um meinen Hals, drückte mir einen Kuss auf die Wange und verschwand. Ich sah ihr noch lange nach, als sie den Gang zu ihrem Flieger entlangschritt. Sie drehte sich nicht mehr um.

Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich. Schon jetzt vermisste ich sie, war wütend über meine eigene Unfähigkeit zu handeln. Ich blickte auf das weiße Kuvert in meinen Händen. In ihrer ordentlichen Schrift hatte Lena den Satz ›Denk an unsere Abmachung‹ auf den Umschlag geschrieben. Ich erinnerte mich wieder an das Versprechen, das wir uns gegeben hatten. Kurz nachdem sie grünes Licht für ihr Jahr als Au-pair-Mädchen bekommen hatte, kam ihr die Idee, dass wir für diese zwölf Monate keinen Kontakt haben sollten. Einfach nur um zu testen, wie gut wir ohne einander auskamen. Außerdem wäre die Vorfreude auf das Wiedersehen dann umso größer, meinte sie. Deshalb ließ sie ihr Handy zuhause und gab mir weder Adresse noch Telefonnummer, unter der sie zu erreichen war. »Das wäre doch lustig.«, zeigte sie sich von ihrem Einfall begeistert. Was daran lustig sein sollte, weiß ich bis heute nicht. Aber da ich sie so sehr mochte, konnte ich ihr diese Bitte nicht abschlagen. Im Gegenzug versprach sie mir, sich nicht zu melden. Kein Anruf, keine SMS, keine E-Mail und kein Brief – nicht mal eine Postkarte.

Mit einem Kaffee im Pappbecher machte ich es mir in der Flughafen internen Filiale des ›goldenen Ms‹ gemütlich. Ich nahm einen Schluck des schon lauwarmen Kaffees, öffnete das Kuvert und breitete den Brief auf dem Tisch vor mir aus. Ich beobachtete einen Angestellten im gestreiften Hemd und mit dickem Oberlippenbart beim Kehren. Nein, solch einen Job könnte ich niemals machen. Armes Schwein, dachte ich mir. Ich senkte meinen Blick, um mich Lenas Brief zu widmen, als besagter Mitarbeiter plötzlich mit seinem Hintern gegen meinen Tisch knallte und meinen Becher umstieß. Die braune Brühe ergoss sich über Lenas Worte, tropfte in meinen Schoß und hinterließ eine deprimierend große Pfütze.

Die Worte auf dem Papier verblassten.

Und mir wurde bewusst: Was auch immer sie mir hatte mitteilen wollen – ich würde es erst in einem Jahr erfahren.

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