Nur pubertär?
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Nur pubertär?

„Während der Pubertät will niemand so sein wie seine Eltern. Aber später merkt man doch, dass sie auch gute Eigenschaften haben und dass man selbst vielleicht sogar welche davon übernommen hat. Oder nicht?“
Die Worte des Lehrers hallten in ihrem Kopf nach, als sie in die Pause ging. War es möglich, dass sie tatsächlich noch mitten in der Pubertät steckte? Ich bin fast 18, dachte sie, das kann doch nicht sein! Aber was war es dann? Warum wollte sie auf keinen Fall so werden wie ihre Eltern? Die Frage stellte sie sich bereits die ganze Zeit. Schon seitdem sie betreten den Kopf gesenkt hatte, als dieses Thema im Unterricht zur Sprache gekommen war.
Und wie so oft hatte sie nicht die Hand gehoben um selbst etwas beizutragen. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass sie immer noch der Meinung war, dass ihre Eltern nicht mehr waren, als ein schlechtes Beispiel? Damit die anderen sie für ein Mädchen hielten, das immer noch mitten in der Pubertät steckte? Nein, dachte sie sich. Warum sollte ich etwas von mir Preis geben, das niemand verstehen würde? Wer sollte sie auch verstehen, wo doch niemand ihre Hintergründe kannte?
Auf dem Schulhof steckte sie sich eine Zigarette an. Sie hatte versucht aufzuhören, doch warum sollte sie aufhören, wo ihr Vater das Trinken doch auch nicht lassen konnte. Und ihre Mutter hatte nach elf Jahren als Nichtraucher schließlich auch wieder mit dem Rauchen angefangen.
Die anderen um sie herum plauderten fröhlich und machten ihre Scherze. Klar, sie war akzeptiert hier, manchmal wunderte sie sich sogar, wie einfach es war, nur ein klein bisschen beliebt zu sein. Denn niemand kannte sie hier wirklich. Ich wahre den Schein, dachte sie und musste innerlich selbst darüber lachen, doch es war ein falsches Lachen.
Kann es sein, dass ich wirklich die guten Eigenschaften meiner Eltern übersehe?, fragte sie sich und zog an ihrer Zigarette. Klar, sie bekam finanzielle Unterstützung von ihren Eltern. Vielleicht nicht so viel wie andere, aber sie kam einigermaßen klar und wenn sie nach Geld fragte, bekam sie es immer.
Ihre Mutter versuchte immer ihre Beziehung zu verbessern und gab sich dabei viel Mühe, aber irgendwie reichte es nicht. Ihre Mutter war bestimmt nicht diejenige, zu der sie gehen würde, wenn sie Probleme hatte. Was machte ihre Mutter also falsch? Dass sie sich alle paar Wochen über ihren Vater beschwerte, weil er wieder jeden Tag betrunken war? Dass sie jedes Mal neue Pläne für ein besseres Leben schmiedete, nur um sie dann doch wieder zu verwerfen? Dass sich ihre Mutter jedes Mal wieder von ihrem Vater einlullen lies, damit sie dachte, dass es wieder besser würde? Glaubte sie das eigentlich wirklich? Glaubte sie das auch nach zig Enttäuschungen immer noch?
Sie inhalierte wieder einen tiefen Zug ihrer Zigarette und hoffte, dass der Rauch ihre mit Tränen gefüllten Augen verbergen würde.
Und was war mit ihrem Vater? Er bezahlte ihr doch alles. Den Klavierunterricht, den sie so liebte, Bücher für die Schule, damit sie einen besseren Abschluss hatte. Und die Hoffnung auf ein besseres Leben, dachte sie.
Fuhr er sie nicht auch ab und zu zu ihrem Freund oder einer Freundin, jetzt wo sie noch keinen Führerschein hatte? Natürlich nur am Tag, wenn er noch nicht vollkommen betrunken war.
Aber war das genug? Überwogen all diese guten Eigenschaften die schlechten, die er sich angewöhnt hatte? Dass er trank? Dass er ihre Mutter schlecht behandelte? Dass er sich überhaupt nicht für sie zu interessieren schien, obwohl sie seine Tochter war? Dass er nur selten nach der Schule fragte, um dann eh gleich wieder zu vergessen, was sie geantwortet hatte? Dass er sie gar nicht kannte?
Konnte sie ihrer Mutter überhaupt einen Vorwurf machen, nur weil sie es einfach nicht schaffte, ihren Mann zu verlassen? Nein, eigentlich nicht, denn sie war selbst kaum besser. Auch sie wusste, dass sie von ihrem Vater abhängig war. Aber sie versuchte diese Abhängigkeit möglichst gering zu halten. Sie ging nur zu ihm, wenn sie etwas wirklich dringend brauchte. Ansonsten versuchte auch sie, ihren Vater weitestgehend zu ignorieren. Das gelang ihr gut und außerdem hielt das den Schmerz in Grenzen.
Die Stimme einer Klassenkameradin drang zu ihr durch und wischte ihre Gedanken weg. „Sag mal, heulst du?“ „Nee, nur Rauch im Auge!“
Sie trat die Zigarette aus und ging mit den anderen wieder zum Unterricht. Vielleicht doch nur pubertär, dachte sie.

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