Wie jedes Mal
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Wie jedes Mal

Ich muss hier raus, dachte sie als sie seine Bierstopfen wegwarf. Wie jedes Mal. Wie jedes Mal, wenn er mal wieder betrunken war und sie schlecht behandelte. Ich halt das nicht mehr aus, sagte sie sich. Soll das etwa mein Leben sein?
Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus den Augen, während sie das Mittagessen zubereitete und sich fragte, wozu. Er würde sowieso nicht mit am Tisch sitzen. Nein, er hatte heute schon alles an Nahrung gehabt, was er brauchte. Das sah sie ihm an. Außerdem roch sie den Alkohol. Ich muss kotzen, dachte sie. Der vertraute Gestank, der ihr jedes Mal den Magen umdrehte, stieg ihr wieder in die Nase, als er zur Tür rein kam. Er sagte nichts. Wozu auch reden?, fragte sie sich. Er würde sowieso nicht zuhören. Wie jedes Mal.
Die Kinder kamen um den Tisch zu decken. Ja, die Kinder, dachte sie. Wenn nur die Kinder nicht wären... Fast glaubte sie selbst, dass sie dann ein besseres Leben führen würde. Den Traum von einem besseren Leben hatte sie schon lange aufgegeben. Zu lange. Doch an Tagen wie diesen war er wieder da. Wie jedes Mal.
Sie stellte das Essen auf den Tisch. Sie sah, wie eines der Kinder zögerte. „Papa, willst du mitessen?“ Ein einfaches „Nein, danke“ und ein dümmliches Grinsen waren die Antwort. Wie jedes Mal. „Für wen koche ich eigentlich noch?“ Sie war selbst erstaunt, ihre Stimme zu hören, doch es tat gut, der Wut freien Lauf zu lassen. „Für wen stelle ich mich eigentlich Tag für Tag hier hin? Wozu frage ich mich, mit welchem Essen ich es jedem Recht machen kann, nur um dann doch wieder und wieder in unzufriedene Gesichter zu starren?“ Tränen schossen ihr in die Augen. Nein, ermahnte sie sich, nicht jetzt, nicht hier. Ich werde mir nicht die Blöße geben und hier in Tränen ausbrechen. Sie rannte aus der Küche, schlug die Tür hinter sich zu, warf sich auf das Bett im gemeinsamen Schlafzimmer. „Wie immer“, hörte sie ihre Kinder sagen.
Sie sah sich um. Eigentlich war der Raum ihr fremd geworden. Sie schlief fast nie hier. Sie konnte den Gestank und das Schnarchen einfach nicht mehr ertragen. Sie wusste schon gar nicht mehr, wann sie angefangen hatte, im Gästezimmer zu schlafen. Dort war es ruhig. Dort war der Traum von einem besseren Leben manchmal noch wach.
Sie griff zu einem Roman. Die Protagonistin war eine Frau, die ihren Mann verließ und sich im Leben selbst behauptete. Es ist nun mal nicht so einfach, sagte sie zu sich. Diese Frau ist Anfang dreißig, hat keine Kinder, dafür aber einen gut bezahlten Job. Sie ist in keinerlei Hinsicht von ihrem Mann abhängig. Nein, so einfach ist es nicht.
Wo sollte sie hingehen? Sie hatte drei Kinder und ihr Mann jede Menge Schulden. Was konnte sie von ihm erwarten? Und was würde sie allein ihren Kindern bieten können? Konnte sie ihnen zumuten, sich ein Zimmer zu teilen, weil sie kein Geld für eine große Wohnung hatte? Und würde sie jemals wieder von jemandem geliebt werden? Von jemandem, der sie in den Arm nahm? Jeden Tag, nicht nur mal ab und zu und ganz ohne Alkohol?
Sie sah in den Spiegel und fragte sich schließlich, ob es wirklich einen Mann gab, der liebevoll und ehrlich in den Arm nehmen und sie einfach nur halten konnte, ohne dass er vorher zehn Bier getrunken hatte?
Die Schlafzimmertür öffnete sich leise. „Mama, komm essen!“ Es war fast nur ein Flüstern. Wie jedes Mal. Sie stand auf und ging in die Küche, setzte sich an ihren Platz und traute sich nicht, das betretene Schweigen zu brechen. Vielleicht beim nächsten Mal, dachte sie.

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