Anfang meines Buches - weiterschreiben?
von forget december (forgetdecember)

 

Sie saß in ihrem Lieblingscafé auf ihrem Stammplatz. Ganz hinten, von der Tür aus nicht zu sehen , an dem kleinen, so vertrauten Tisch, auf dem sich schon einige übermütige Teenager mit ihren Namen verewigt hatten. Es war kein guter Tag für sie, das Café war fast, von einem sich anschweigenden, älteren Ehepaar, das an der Theke saß, leer. Ihr Blick schweifte von den Eddingkritzeleien ab, die bis in alle Ewigkeit festhalten sollten, dass Tim und Lisa für immer gleich Herz waren. Ironischerweise hatte sie in den vielen Jahren, die sie nun dieses Café besuchte die Geschichte von Lisa miterleben können. Sie fühlte sich auf eine merkwürdige Weise sogar als ein Teil von Lisas Leben. Sie wusste nicht wer diese Lisa war, woher sie stammte oder wie sie aussah, kannte sich dafür aber bestens mit ihren verflossenen Liebesgeschichten aus. Tobias, Pascal, Vincent und schließlich Tim. Jedes Mal war es das gleiche Spiel. Es fing an mit den verschnörkelten Buchstaben, die so viel Glück und Zuneigung allein anhand ihrer Bögen und Verzierungen ausdrückten, dass ihr fast Übel wurde. Doch es brachte sie zum düsteren Lächeln, dass darauf jedesmal ein fetter Strich durch die Rechnung folgte. Ein Name wurde durchgestrichen und in manchem Fällen sogar durch ein böses Wort an der Seite ergänzt. Ihr fiel in den Jahren auf, dass es nicht einmal den Jungen traf. Jedesmal war es Lisa, die nun über sehr viele, nicht gerade nennenswerte Beinamen verfügte. Sie dachte nun wieder unweigerlich über Lisa nach. Es fiel ihr sehr schwer sich in Lisas Gefühlswelt einzuhacken, aber dennoch machte es ihr riesigen Spaß sich vorzustellen, wie Lisa in den Momenten, als sie ihre neuen Titel hier auf diesem Tisch stehen sah, gefühlt haben musste.
Sie liebte es in diese fremden Welten einzutauchen, konnte sich stundenlang in den Wellen der Empfindungen Anderer treiben lassen ohne auch nur den leisesten Hauch davon zu verstehen.
Ja, Nila hatte sich oftmals mit Begriffen wie „emotionslos“ und „gefühlskalt“ auseinandersetzen müssen. Was diese Anschuldigungen in einer Form bestätigte war die Tatsache, dass es Nila nichts ausmachte. Prinzipiell machte ihr nur sehr wenig etwas aus, doch wenn ihr etwas etwas ausmachte, dann traf es sie richtig. Dann hatte sie sich nicht mehr unter Kontrolle und musste alles dafür tun, den Fehler zu eliminieren, der sie zwang, Gefühle zu haben. Nila kannte nicht viele Gefühle, aber die, die sie kannte konnte sie nicht durch vorhandene Worte beschreiben. Es waren nicht die typischen Gefühle wie Angst, Hass, Trauer, Wut oder Schmerz oder auf der anderen Seite, Glück, Freude, Gelassenheit oder gar Liebe, sondern viel mehr eine ganz neue Sparte, ein neues Wortfeld, das bis dato noch nicht entdeckt worden war.
Nila hatte aufgegeben sich zu fragen, warum sie so war, wie sie war. Sie begnügte sich mit der Antwort, dass sie sich nicht ändern und dass alle ihre Versuche dies doch zu tun erfolglos bleiben würden. Was sie bei dieser Resignation fühlte, nichts. Und diese Realität hatte Nila auch gelernt zu akzeptieren, sie machte sich keine Sorgen mehr darüber und nahm diese einfach an, wie andere Menschen ihre Augenfarbe. So war Nila eben.
Nila malte sich also nun aus, was Lisa so denkt, wie sie sich verhält, was ihre Ängste sind und worüber sie sich freut. Schließlich begann dieses Spiel Nila zu langweilen.
Ihr Blick wanderte durch den Raum und haftete letztendlich auf dem Ehepaar an der Theke. Nila konnte es sich nicht erklären, aber sie hatte Mitleid mit den beiden. Sie beobachtete aufmerksam, wie die beiden nebeneinandersaßen und gedankenverloren in ihren Cappuccinos herumrührten. Ab und zu konnte sich einer der beiden überwinden ein gezwungenes Wort herauszupressen. Nila hasste diese Art von Konversationen. Sie wusste genau, dass es eigentlich nichts zu bereden gab und dass die beiden nur redeten um des Redens Willen. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen aber konnten gerade deshalb ihre Mäuler nicht halten. Sie fühlten sich dazu verpflichtet zu sprechen, sich zu langweilen. Am liebsten wäre Nila aufgestanden und zu ihnen gegangen und hätte ihnen ihre heißen Getränke geradewegs über ihre verlogenen angepassten Gesichter geschüttet. Wenn Nila Winter Gefühle für andere Menschen gehabt hätte, dann würde sie sicher tiefe Abscheu für sie empfinden. Es machte sie zornig, dass gerade diese beiden Personen an der Theke als Paradebeispiel für eine glückliche und erfüllte Zukunft gelten. Sie wusste nicht, wieso es gerade das war, was fast alle Menschen anzustreben schienen, fast alle Menschen, außer Nila. Sie wusste nur eines, dass sie niemals auch nur in Versuchung geraten würde, sich diesem Beispiel anzupassen, dazu hatte sie viel zu viel Selbstachtung.
Nila riss sich aus ihren Gedanken. Zu viel nachgedacht für heute. Sie droht schon wieder sich stundenlang in ihrem eigenen Kopf zu zerrinnen und dabei die Realität aus den Augen zu verlieren. Was ihr immer wieder dabei half, dies nicht zu tun, war ihr kleiner dunkler Timer. Nila hatte seit sie sich erinnern konnte immer einen solchen Timer besessen und hatte peinlichst genau jedes noch so unwichtige Detail eines jeden Tages ihres Lebens darin festgehalten. Warum sie damit angefangen hatte wusste Nila nicht mehr, was sie aber wusste war, dass es ihr wahnsinnig half ihr Leben zu koordinieren. Als ein Mensch, der gerne Vergangenes noch einmal erlebt, hatte Nila diese gesammelten Werke alle aufgehobenen und jedem dieser Bücher einen besonderen Platz in ihrem Bücherregal eingeräumt. 11 kleine dunkle Timer waren es mittlerweile. Den ersten bekam sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag von ihrer Mutter geschenkt um Hausaufgaben und Klausurtermine darin zu vermerken. Nila hatte schnell gemerkt, dass diese Bücher für sie mehr wurden als bloße Erinnerungshilfen, auch wenn sie diese Tatsache niemals vor jemandem zugegeben hätte. Jedes Jahr ein Buch. Da aus dem unsicheren Teenager nun eine gestandene 25 Jährige Frau geworden war, haben sich ihre Aufzeichnungen auch dementsprechend geändert. Nila liebte es an verregneten Sonntagen ihre Sammlung aus ihrem Regal zu räume und ihr Leben noch einmal zu erleben, indem sie sich Seit für Seite durchlies. An manchem Tagen blieb sie länger hängen als an anderen, und konnte den Moment genau nachempfinden, sich an jede Kleinigkeit erinnern.
Dem aufmerksamen Leser ist bestimmt schon aufgefallen, dass ein Buch fehlt. Es ist eine einfache Rechnung mit einer besonders komplizieren Lösung. Den vierten Kalender hatte Nila aus ihrer Sammlung verbannt. Sie hatte es zwar nicht über das Herz bringen können ihn vollends zu zerstören, aber sie hatte ihn an einem sicheren Ort separat versteckt und hatte ihn viele Jahre nicht mehr angeschaut.
Aber heute beschränkte sich ihr Verlangen nach der Vergangenheit auf den diesjährigen Kalender, genauer auf den heutigen Tag. Er hatte genauso begonnen wie er geplant war, Frühstück mit Julie im Hannibal, Präsentation mit anschließender Teambesprechung und schließlich der momentane Programmpunkt: Die Jagt.

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