daimlerschlau oder undefiniertes Feuern?
von Roman Biewer

Kapitel
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Neulich im Fernsehen: Ein Interview mit einem ziemlich gescheiten Spezialisten, der sich sowohl in Psychologie, als auch in der Genforschung total gut auskennt. Sagt, dass, wie ein Mensch wird, zum großen Teil von Genen abhängt. Aber auch, dass die Gene nur einen gewissen Rahmen festlegen, der sich dann den Einflüssen des Lebens gemäß entwickelt. Ob also einer groß wird, oder nicht, hat schon was mit Genen zu tun, ganz klar. Nur, ob der jetzt 1,86 oder 1,93 m wird, schon nicht mehr. Das regelt eher die Ernährung, vielleicht sogar zwischenmenschliche Einflüsse. Wenn die Mutter also während der Schwangerschaft immer nur auf ihren Bauch klopft und „mein kleines Baby“ sagt, dann werden’s eher 1,86 m. Sagt sie aber ständig „ist der aber groß“, z.B., weil ihre Kunden für diesen Satz ein paar Euro mehr springen lassen, dann fühlen sich die Gene eher zu 1,93 m angespornt.
Wie ist das nun mit dem Gehirn? Dieser ewig matschigen, doch formbaren Masse? Liegt Intelligenz in den Genen? Also, was das reine Zellansammlungsvolumen anbetrifft, bestimmt. Aber dann habe ich da letztens noch was anderes gelesen: Der Mensch wurde zum Mensch durch eine Kettenreaktion, durch eine klitzekleine Kleinigkeit, die ihn vom Affen unterschied, wie zum Beispiel, dass er ein Wort bilden konnte. Das soll der Schlüssel im Gehirn gewesen sein, und wie eine Dominostrecke bildeten sich plötzlich Verbindung um Verbindung, und der Mensch wurde schlau. Aha!
Nun ist es keineswegs so, das etwa ein Menschenbaby schon diese Vorzüge von sich aus hätte. Ohne menschliche Erziehung würde es vermutlich eher ein Äffchen bleiben. Doch da: Irgendwann lernt es zu plappern, weil Mami und Papi es oft genug vorgemacht haben, und eben auch, weil da doch fünf Prozent anders in den Genen sind als bei Affen, und plötzlich vollzieht sich die komplette Evolution im Zeitraffer an dem Kleinen. Und zwar so lange, bis er irgendwann Fahrzeugingenieur bei Daimler ist.
Doch das wird ja nicht jeder, obwohl bestimmt ein paar andere genauso große Wasserköpfe haben. Was ist schiefgelaufen? Nun: Mami und Papi haben bestimmt auch fleißig genug vorgeplappert, nur ist es damit ja nicht unbedingt getan. Vielleicht gab es ja ab und zu Streit, vielleicht hat Mami deswegen auch mal ein Sekt zur Entspannung getrunken, vielleicht haben sich beide Elternteile ihr Leben lang auch nur eingebildet, dass sie ihr Kind lieben. Das ist tragisch, denn die Wahrnehmung ist unerbittlich, wenn es darum geht, Sachen mitzukriegen, die einem nicht gut tun. Einer der wenigen Instinkte, die der Mensch hat. Vielleicht musste er ja deswegen schlau werden, weil ihn seine Instinkte sonst in Kürze ausgerottet hätten.
Was also geschieht mit unserem Kind, das genauso viele Zellpotential im Schädel hat, wie unser Mann bei Daimler?
Die Zellen warten eine Zeitlang ab, ob ihnen nicht doch eine sinnvolle Verknüpfung zum Analysieren der Sinneseindrücke zukommt. Passiert das nicht, sterben sie unglücklicherweise nicht etwa ab, sondern beginnen trotzdem zu analysieren. Bloß: Mit was? Da kommt ja kein Input von außen, und hier drinnen is’ ja eher langweilig. Und so grübelt’s. Und grübelt’s. Und grübelt’s. Es kommt zu Ergebnissen, undefinierbar, aber es feuert aus den Synapsen, das es regelrecht warm wird da drinnen. Die anderen Regionen, die, die doch was sinnvolles zu tun haben, werden bombardiert mit diesen „Outputs ohne Inputs“. Sie werden in ihrer Arbeit behindert, gestört, und es kommt zu regelrechten Fehlfunktionen.
Das Kind, diesem Feuer ahnungslos ausgesetzt, nimmt dies alles natürlich als Gedanken wahr. Es kann gar nicht anders, als diese Gedanken als Realitäten aufzufassen, als Ergebnisse zu tatsächlich bestehenden Fragen. So geschieht es mitunter, dass Menschen anfangen, Bilder zu malen, Gedichte zu schreiben, oder gar zu komponieren. Stets der Meinung, dies sei die Antwort auf eine Frage, die ihnen gestellt worden ist. Fragt man nach, wer das gewesen ist, stellt man fest, dass niemand der Betroffenen hierauf eine Antwort weiß. Sie glauben zuweilen, quälende Fragen um die Existenz der Menschheit zu beantworten, die sich die Menschheit selbst, außer der Betroffene selbst, gar nicht stellt, denn die bauen ja Daimler und sind eigentlich ganz ausgefüllt damit. Dann fühlen sie sich nicht verstanden, und das ist nicht gut, denn der Mensch ist wie der Affe ein Herdentier. Er fühlt sich dann schlecht, und zusätzlich feuert das Gehirn ja weiterhin seine undefinierten Ergebnisse durch die Gegend.
So kommt es dazu, dass so ein Kind mitunter stirbt, weil es das selbst gewollt hat, was ein Mensch eigentlich, genauso wenig wie Affen, gar nicht wollen kann.

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