Ein ganz normaler Tag
von Saha Morgenrot

 

von Saha Rot

„Willst du noch etwas Tee, mein Liebling, oder soll ich dir weiter aus der Zeitung vorlesen?“ fragte der Mann und strich mit der runzligen linken Hand seiner Frau zärtlich über die weißen Löckchen.
„Etwas Tee wäre gut, Liebster.“
Während er eingoss, öffnete sich die Zimmertür und Lisa, ihre Älteste, kam herein.
„Ich gehe jetzt einkaufen, soll ich euch was mitbringen?“
Der alte Mann war froh, dass Lisa wieder nach draußen gehen konnte, denn das bedeutete, dass ihre Allergiebeschwerden heute auf ein erträgliches Maß gesunken waren. Er wusste, dass sie am liebsten in den Bioladen mit der autistischen Verkäuferin ging.
„Bring uns etwas Parmesan mit, der ist nämlich bald alle.“
Seit ihr Mann vor drei Jahren an Asbestose verstorben war, lebte Lisa mit Florian und Felix, ihren beiden Söhnen, wieder bei ihnen. Zum Glück litt sie nicht mehr so sehr unter dem Verlust. Die ersten Monate nach Ludgers Tod waren sehr schlimm für alle gewesen.
Nachdem Lisa gegangen war, stellte der alte Mann das Frühstücksgeschirr auf ein Tablett und seine Frau brachte es in die Küche, anschließend ging sie ins Arbeitszimmer, schaltete den Computer an, um sich von einer weiblichen Stimme mit leicht laszivem Timbre die elektronische Post vorlesen zu lassen.
Derweil spielten im Wohnzimmer der Großvater und Felix, der ohne einen linken Arm auf die Welt gekommen war, eine Runde Schach. In den letzten Monaten kam es immer häufiger vor, dass Felix gewann und der Großvater war sehr stolz auf ihn, denn Felix war erst fünfeinhalb Jahre alt. Als die Partie - mit Felix als glücklichem Gewinner - zu Ende war, stellte der Großvater seinen Rollstuhl an und fuhr auf die Toilette.
Pünktlich wie immer um halb eins kündigte sich mit einem dreifachen Klingeln das „Essen auf Rädern“ an und brachte heute zu Mittag Farfalle mit einer Zucchini-Pfifferling-Soße. Der Stamm-Fahrer war seit drei Wochen zum ersten Mal wieder da.
„Sie sehen nicht gut aus, Herr Salmer,“ sagte der Großvater mitfühlend.
„Das war jetzt die fünfte Chemo in sieben Jahren. Langsam bin ich es leid.“ Salmer verdrehte die Augen gen Zimmerdecke. „Aber das medizinische Personal in der Klinik sieht auch nicht viel besser aus. Der Chefarzt zum Beispiel hat schon mit siebzehn seine Hoden an den Tumor verloren. Aber darüber plaudern wir lieber morgen weiter. Einen guten Appetit wünsche ich.“
Nach dem Mittagsschläfchen pfiff die Großmutter nach Pepper, ihrem Blindenführhund, um die Nachmittagsrunde zu drehen. Sorgfältig befestigte sie den Maulkorb, damit Pepper nicht aus Versehen etwas von dem Sondermüll oder den vergifteten Ratten im Park abbekam.
Im Stadtpark war wieder mal viel los: Vom Sprechstein wehte die brüchige Stimme von Udo, dem Anführer der ABG, der AIDS-Betroffenen-Gruppe, herüber und Stadtpark-Emil versuchte ihm zu widersprechen: „Du hahahast nininicht Recht dadamit, Uuudo, du Heuheuchler. Iiimmer wiewieder fängst du dadamit an.“
Die alte Frau und ihr Hund gingen weiter und mussten einer Gruppe Joggern ausweichen. Die meisten davon waren auf Sportkrücken unterwegs, wie die Großmutter hören konnte.
Der Großvater hatte die Zeitung fast durchgelesen, als nach dem Klingeln die Erkennungsstimme den Besuch des Nachbarn Seifelpütz meldete. Mit der akustischen Fernbedienung öffnete der alte Mann die Tür und Seifelpütz kam herein. Man sah den Nachbarn stets nur allein, weil seine Frau Phobikerin war und das Haus nicht verließ. Einige der Leute im Viertel dachten deshalb, Seifelpütz sei Witwer.
„Guten ArschTag, ich hoffe ich störe nicht, ScheißeScheiße.“
„Nur herein, Herr Seifelpütz. Was führt Sie zu uns?“
„Kann ich ArschlochFickenHeilHitler vielleicht für einige Zeit Ihren ArschlochFickenHeilHitlerStaubsauger ausleihen?“
„Na klar, der Staubsauger ist in der Besenkammer, links neben der Küche. Bedienen Sie sich einfach.“
„ScheißeScheißeDanke. Ich bring ihn morgen wieder.“
Auf dem Rückweg vom Stadtpark meldete Pepper bekannte Gesichter. Es war Florian, ihr ältester Enkel, den die Großmutter immer liebevoll „Downie“ rief. Er kam gerade aus der Schule und hatte wie üblich seine besten Freunde Willi und Winni im Schlepptau, genannt: ‚die Unzertrennlichen’, weil sie am Kopf zusammengewachsen waren. Meistens spielten sie nachmittags noch einige Stunden zusammen Lego oder malten mit Wasserfarben großformatige Bilder. Manchmal wurden die beiden von ihrem Vater, einem freundlichen Alkoholiker, der um die Ecke eine Reparaturwerkstatt für Rollstühle hatte, nach dem Abendessen abgeholt, genauso auch heute.
Nachdem die Unzertrennlichen gegangen waren, schickte Lisa ihre beiden Söhne zum Zähneputzen und dann ins Bett. Sie las ihnen noch eine Geschichte vor und zog sich anschließend für einige Zeit ins Bad zurück, um sich frisch zu machen, denn später hatte sie ein Rendezvous mit ihrem neuen Freund, den sie in ihrem Sportverein Allergie&Asthma kennen gelernt hatte.
„Die Abendnachrichten haben schon angefangen,“ sagte die Großmutter und der Großvater stellte den Fernseher an.
„... bereits die dritte Stadt in dieser Woche, die isoliert werden musste. Inzwischen sind schon 34.892 Menschen gestorben und noch wissen die Behörden nicht, was es mit dem unbekannten Virus, der das multiple Organversagen verursacht, auf sich hat.“
„Wer gebärdet heute?“ fragte die Großmutter.
„Carlotta Mehlhorn.“
„Ist das die, die so stark bei den Kleinwüchsigen engagiert ist?“
„Genau. Seit kurzem ist sie sogar die Vorsitzende. Aber lass uns mal weiter zuhören,“ sagte der Großvater.
„... ist im April 2037 erneut gesunken und beträgt nunmehr 4,72 Prozent der Gesamtbevölkerung. Viel wissen wir nicht über diese Randgruppe, denn sie leben abgeschottet von der Bevölkerung in Internaten, Wohngruppen und eigens für sie errichteten Institutionen. Vom Erwerbsleben haben sie sich weitgehend ausgeschlossen. Wie sie leben, was sie fühlen und denken, erfahren Sie in unserer Reportage des Tages von Peter Zalke.“
Der Reporter auf dem Bildschirm fuchtelte mit dem Mikrofon vor dem Gesicht einer Frau herum, die einen Mundschutz trug.
„Das ist Bianca. Bianca ist 34 Jahre alt und lebt zurückgezogen mit ihrem Mann in dieser Wohngruppe am Waldrand in einer deutschen Kleinstadt.“
„Heute zittert Zalke gar nicht so stark wie sonst. Vielleicht ist sein Parkinson besser geworden,“ warf der Großvater ein.
„...gehören zu den ganz wenigen hier, die keinen Ganzkörperschutzanzug tragen. Ich durfte sie begleiten auf ihrem Weg in den...“
Die Großmutter rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Ach, mach doch den Fernseher wieder aus. Lass uns lieber unseren GuteNachtBrandy trinken und dann ins Bett gehen, mein Liebster. Was interessieren mich denn die Schwerstgesunden?“

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