Scheidenschnaps macht durstig.
von Roman Biewer

 

Gerade, als ich mich während der Lektüre eines Romans von Thomas Mann, in diesem Fall „Doktor Faustus“, wieder einmal fragte, was bei dem Alten eigentlich schief gelaufen sein musste, dass das Schöne und die Liebe immer so grausam sterben müssen, sagte die mir gegenüber sitzende Frau plötzlich: „Sehen Sie nur!“, und zupfte mich am Ärmel.

Doch halt! Bevor wir nun doch zu direkt in die Handlung der Geschichte geworfen werden, sollte erst einmal der Schauplatz geklärt werden. Wo also befinden wir uns? Deutschland! Stuttgart! In der U-Bahn Linie U4, um etwas präziser zu werden, Fahrtrichtung Heslach. Und noch etwas genauer: Zwischen der Station „Staatsgalerie“ und „Hauptbahnhof“. Wenige Stationen vor der „Staatsgalerie“ war die Bahn noch überirdisch gefahren, es ist später nachmittag und Frühling, die Zeitumstellung schon vorbei und von daher noch hell. Jetzt aber, zwischen der Staatsgalerie und dem Hauptbahnhof, ist es draußen, also außerhalb der Bahn, dunkel, denn inzwischen fahren wir unterirdisch. Wer sind „wir“? Neben mir selbst, einem egozentrischen Neurotiker, der das niemals zugeben würde, vor allem Menschen, die gerade Feierabend haben und wohl nach hause fahren: Die meisten typische Aktentaschenheinis im Anzug, aber auch Handwerker, Handtaschendämchen mit rosigen Bäckchen, auf dem Weg zu Kaufhof oder so. Und eben die Dame, die oben dem Leser so ohne jede weitere Information einfach „Sehen sie nur!“ zugerufen hat: Eine etwa sechzigjährige Frau mit sehr auffallender Kleidung, die nämlich derart wenig den Körper betont, dass es so gar nicht in diese Welt passt, sie trägt einen braunen Rollkragenpullover, der, eigentlich unmöglich bei Rollkragenpullovern, zu groß ist, und einen karofarbenen Rock. Sie selbst ist schlank, hat graue Haare und wirkt trotz ihres Alters geistig äußerst rege. Zu rege vielleicht. Diese Frau also sagt „Sehen sie nur!“ zu mir und zupft mich am Ärmel. Ich, aus meinen Gedanken bezüglich meiner Lektüre gerissen, schaue sie an und dann gleich darauf dorthin, wohin sie mit dem mich nicht zupfenden übrigbleibenden Arm zeigt: Aus dem Fenster. Dort aber ist nicht das Geringste zu sehen, da es dunkel ist. Also sage ich: „Was meinen sie denn?“ worauf sie lacht. Ich versuche, sie nicht für irre zu halten, das überlasse ich lieber den anderen in der Bahn, den spießigen Bürgern Stuttgarts, von denen ich mich so gerne unterscheiden möchte, die schauen inzwischen nämlich bereits rüber. Als die Frau dann in ihrem Lächeln aber „Hermeneutik“ sagt, halte ich sie doch ein bisschen für irre und nicke einfach.

Dann geschieht folgendes: Sie sagt „Ich bin etwas vergoren“, zieht ihren Rock hoch, worunter sie sonst nichts trägt, oder doch, sie hat nämlich in ihrer Scheide so ein Ding eingesteckt, dass normalerweise in Kneipen an den umgekehrt über der Bar hängenden Schnapsflaschen drangeschraubt ist, um genau 2cl zu portionieren, und genau das macht sie nun auch mit ihrem Schnapsportionierer, sie nimmt zwei von diesen Plastikschnapsgläsern aus ihrer Handtasche, die man sonst ab und an auf großen Kommerzparties gereicht bekommt, wenn man Jägermeister oder ähnliches bestellt, sie nimmt also diese Becherchen und hält sie nacheinander an den Portionierer, der, wie gesagt, irgendwie in ihre Muschi gesteckt ist, und füllt zweimal genau 2cl farblosen, aber ziemlich trüben Saft ein. Sie reicht mir einen rüber und sagt „Na, also dann!“. Ich blicke mich hilfesuchend um, doch da ist niemand mehr, wir stehen gerade an der Haltestelle „Berliner Platz“, der wieder oberirdisch gelegen ist, irgendwie müssen während der Zeit, die ich gebraucht habe, zu fassen, was da gerade vor mir geschieht, alle Leute ausgestiegen sein, oder vielleicht doch eher geflüchtet, denn ein Blick aus dem Fenster zeigt einen Menschen, der den Bahnsteig hinunterhastet, der letzte wohl, jetzt sehe ich auch, warum er offenbar langsamer als alle anderen war: Er bleibt kurz stehen und übergibt sich, dann läuft er kurz weiter und tut wenig später erneut das Gleiche. Ich blicke zurück zu meiner Sitznachbarin, nehme den Schnaps und trinke ihn. Es brennt zunächst genauso, als wäre es auch einer, und erst der Nachgeschmack lässt mich wieder daran erinnern, woher er stammte.

Statt aber zu kotzen, fing ich an zu lachen, und die gute Frau stimmte mit ein, und schenkte gleich einen nach. Dieses Nachschenken aber ließ mich zur Besinnung kommen: Ich sprang auf und wich so hastig vor ihr zurück, dass ich rückwärts über die Sitzbank fiel, quasi in die nächste Reihe gegenüberliegender Sitze. Ich schlug auf, kotzte, stand auf, rannte zur Tür, und drückte auf den Knopf zum Öffnen. Sie blieb verschlossen. Ich lief ganz nach vorne, dorthin, wo der Fahrer hinter einer verdunkelten Scheibe vom Fahrgastraum getrennt sitzt. Er telefonierte erregt, und als er mich sah, wich er so weit wie möglich vor mir zurück, obwohl ich ohnehin nicht durch die Scheibe zu im durchgekonnt hätte. Ich rannte zurück und rutschte auf einem Kotzfleck aus, nicht meiner, der war weiter hinten, vielleicht ja der von dem Typen, den ich zuvor draußen gesehen hatte, und knallte direkt vor der noch immer ihre Schnapsgläschen haltenden Frau auf. Ich rappelte mich hoch, nahm das Glas und trank. Während ich beim ersten Mal gar nicht überlegte, war ich mir nun bewusst, was ich tat, und ich tat es, ohne es eigentlich zu wollen, und doch passierte es. Ich kicherte wieder, diesmal hysterischer. Sie kicherte mit, und ich bemerkte, dass die Bahn noch immer an der Haltestelle stand und wohl auch nicht mehr weiterfahren würde. In der Ferne hörte ich bereits Polizeisirenen. „Stuttgart, wie es leibt und lebt“, sagte ich und ließ mir noch ein Schnäpschen einschenken. So langsam begann der Trank zu wirken. Die Frau schlang ihren Arm um mich, und begann, sich mit dem anderen Arm ungelenk den Rock auszuziehen. Die Sirenen wurden indes lauter. Ich stellte sie vor mich und zog ihr den Rest an Kleidung aus. So stellte ich fest, dass sie nicht nur einen Schnapsportionierer in ihrem weiblichen Geschlecht hatte, sondern auch Strohhälme in ihren Brüsten. „Trink, beim Saufen muss man auf die Elektrolyte achten!“ Ich tat’s, und der Inhalt ihrer Brüste brannte noch mehr nach Alkohol als der etwas weiter unten, von dem sie mir inzwischen ein weiteres Gläschen hinhielt. Ich wurde durstiger und durstiger, so dass ich sofort zugriff, ohne zu begreifen, dass das nur alles verschlimmern würde. Draußen kamen die Polizeisirenen inzwischen nicht mehr näher, denn sie waren bereits angekommen: Vor der U-Bahn tummelten sich einige Beamte und lugten durch die Scheiben. Sie sagten nicht etwa: „Kommen sie mit erhobenen Händen heraus“ oder so, sie sagten einfach gar nichts! Ich war inzwischen relativ besoffen und rief nach draußen: „Ich habe Durst, bringen sie mir Wasser!“ Die Beamten reagierten nicht, statt dessen waren sie damit beschäftigt, irgend etwas aus Kanistern auf die Bahn zu schütten, und wäre ich nicht so besoffen gewesen, ich hätte wohl gleich bemerkt, dass das nur Benzin sein konnte.

Die Dame hatte meinen Roman von Thomas Mann in der Hand und blickte zu mir auf, nicht mehr lachend, sondern ziemlich ernst und klar. „Wissen sie, was dieser Mensch geleistet hat, beruht lediglich darauf, dass er nicht gelebt hat. So wenig zu leben verlangt allerdings Genie.“ Ich lachte nur, und wollte einen weiteren Schnaps. Sie wehrte ab und sagte erbost „Hören sie doch nur!“, und erst als ich so ernst es mir gelang „sie haben ja Recht!“ sagte, bekam ich Nachschub. Draußen sagte jemand „Zurücktreten“, und plötzlich stand die Bahn in Flammen. Zunächst nur außen, denn sie hatten es nicht geschafft, das Benzin auch nach drinnen zu gießen, aber es wurde sehr schnell unglaublich heiß, und mein Durst wurde unerträglich. Die Dame schenkte nach und wir ließen uns trotz der Hitze nicht von unserem Spaß abhalten. Unsere Haut begann, aufgrund der Hitze braun zu werden und sich abzuschälen. Irgendwann klirrten die ersten Scheiben, und das Feuer drang nach innen, erfasste zuerst die Sitzbezüge und dann uns. Aber wir starben nicht, wir brannten lichterloh und starben nicht, lachten und tranken einfach weiter als glühende Fackeln. Und starben einfah nicht. Wir stiegen durch die Fensterrahmen, die nur noch Glassplitter fassten, nach draußen und tanzten auf der Kreuzung des Berliner Platzes. Man schoss auf uns, aber selbst das konnte uns nicht den Garaus machen, und die Dame schoss zurück, indem sie einen sich direkt entzündenden Schnapsstrahl aus ihrem Protionierer schoss. Wir wüteten als Fackeln weiter, ohne böse Absicht, und doch blieb es nicht aus, das sich Dinge an uns entzündeten, und obwohl wir von Feuerlöschzügen verfolgt wurde, hatten diese die Situation irgendwann nicht mehr unter Kontrolle. Uns selbst versuchten sie natürlich auch zu löschen, aber auch das gelang nicht. Ähnlich wie brennende Ölquellen reagierten wir auf das Wasser nämlich mit noch aggressiveren Feuersbrünsten und explodierten regelrecht in Flammen. Ich gefiel mir, ich mochte meine Rolle mehr und mehr, wie wir die ganze Stadt entzündeten und alles unter uns zusammenbrach, was vorher in Frieden schlummerte. Nur Durst hatte ich, mehr und mehr Durst, unendlichen Durst, und so wenig man mich löschen konnte, so wenig konnte ich auch nichts trinken. Versuchte ich es, explodierte mein brennender Magen regelrecht und spie das Wasser so wieder aus. Und doch verdurstete ich niemals. Das Gefühl aber, Durst zu haben, bzw. mehr und mehr verdursten zu müssen, kannte trotzdem keine Gnade und wuchs sich zu einer allgegenwärtigen Pein aus.

So war ich die ewig brennende Fackel, die die Welt entzündete, und dabei nach Wasser schrie. Die Dame hingegen schrie niemals, ständig nur schenkte sie nach, flammenden Schnaps aus dem Portionierer, so dass ich mich doch irgendwann fragte, wer diese Person ist. Niemals hatte ich sie nach ihrem Namen gefragt. „Wie heißen sie“, fragte ich also eines Tages. Sie sagte: „Ich bin die olle Mösenkratzerin, die sie einst vorgaben, getroffen zu haben, und die sie heute wiederbeleben wollten, unter anderem Namen zwar, unter anderen Umständen, und doch unter dem gleichen Vorsatz, lesen sie sich doch nur mal die Überschrift zu dem hier durch, fällt es ihnen nicht auf?“

Da plötzlich brannte ich nicht mehr, und selbst die Städte, die ich dahingerafft zu haben glaubte, waren bei näherer Überprüfung noch alle intakt. Was nur war wirklich geschehen?

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