Das Lebenswerk
von Alfred van Dunching (vandunching)

 

Schlaflosigkeit. Mit halboffenen Augen blickt er an die Decke, auf die seine optische Maus seltsame Schatten abbildet. Das rote Licht, das mal dunkel und mal hell wird hat fast hypnotische Wirkung. Allerdings ermüdet es ihn nicht, es macht ihn mehr wahnsinnig. Auch der Lüfter beginnt ihn zu stören. Dieses ewig monotone Summen, seit Jahren das gleiche, er muss ihn ständig ertragen. Wenn die Festplatte arbeitet oder das CD-Rom Laufwerk zu drehen beginnen, vibriert eine Glasscherbe, die auf dem Gehäuse liegt, oft in bedrohlich lauter Resonanz mit.
Wie einfach es doch wäre den PC einfach auszuschalten. Er tut es nicht. Irgendwie war er ein Teil von ihm geworden, nötig wie das künstliche Rauschen in der Digital-Telefonie. Es war für ihn, wie für andere nachts den Atem des Partners neben sich zu hören. Er schaut auf sein Gehäuse. Diese blauen LEDs auf dem rot-braun gefleckten Gehäuse erschienen ihm wie strahlende Augen. Je länger er sie anschaut, desto intensiver erscheint ihm ihre Farbe. Er erinnert sich, wie er die Teile für sein Gehäuse mühsam zusammengesetzt und auch selbst ausgewählt hat. Wie er eigenhändig die Bemalung auf ihm anbrachte. Alle Elemente per Bankeinzug über Internet bestellt und frei Haus geliefert.
Nur ungern verlässt er das Haus. Für LAN Partys und, aber immer seltener, für die Schule. Dort läuft es nicht besonders gut, er ist Einzelkämpfer, in die 20 wachen Stunden am Tag schiebt er nur widerwillig Lerneinheiten ein. Zwecklos. Sie bringen ihn seinem Ziel nicht näher. Aber das System, das verdammte System regt ihn auf. Wieso braucht er Physik, wieso Biologie? Reine Zeitverschwendung.
Er steht auf und greift nach der Thermoskanne neben seinem Bett, er braucht Nervennahrung. Starker Kaffee, vor einer Stunde erst gekocht. Er entleert die Kanne in seinen Becher und trinkt aus. Vielleicht sollte er noch an seinem neuen Virus weiterarbeiten. Selbstverbreitend, polymorph, praktisch nicht erkennbar bevor er zerstört und ohne Benutzerbestätigung ansteckend, ein wahres Meisterwerk. Rauch erscheint strahlend in der Luft, er hatte eine Zigarette und seinen Monitor angemacht. Dieser lässt auch Narben und Wunden an seinem Arm aufleuchten, als wollte er ihnen damit dankbaren Dienst erweisen.
Das Aufglimmen der Zigarette lässt einen starken Zug erkennen. Seine Zulassung zum Abitur ist ernsthaft gefährdet, ein Jahr davor. Für seinen Wunsch Informatik zu studieren ist es leider notwendige Voraussetzung. Verdammtes System. Seine berufliche Zukunft erscheint ihm aber gerade jetzt, im Angesicht der Tatsache, dass er bald zum Szene-Star aufsteigen könnte, relativ unwichtig.
Bloß noch eine Prozedur debuggen und er wird in die Geschichte eingehen. Anonym, aber er wird es wissen, das ist das Wichtigste, er wird stolz sein können. Was Andere denken, hat ihn sowieso nie interessiert. Noch einmal zieht er an seiner Zigarette und verbrennt sich dabei die Lippe. Fast bis zum Filter abgebrannt. Den Schmerz ignoriert er, er steht kurz vor der Lösung. Das musste es sein, er glaubt sie nun gefunden zu haben. Er kompiliert den Quellcode und führt ihn aus. Wenn das jetzt funktioniert hat, musste der Virus bereits dabei sein, sich zu verbreiten.
Mit ein paar zittrigen Mausklicks startet er seinen Netzwerkmonitor. Traffic. Mit Glück hatte er es nun Allen gezeigt. Vorausgesetzt die Verbreitungsprozedur arbeitet fehlerfrei. Austesten konnte er das nie, die Generalprobe ist bereits sein großer Auftritt - oder nichts. Aufmerksam beobachtet er die Headlines der großen Security Newsseiten, er taucht nicht auf.
Mit der Zeit wird er immer nervöser, Selbstzweifel beginnen ihn zu zernagen. Nicht einmal das schaffte er also. Jetzt wird auch noch die Verbindung zum Internet instabil. Als diese schließlich zusammenbricht, beginnt er sich plötzlich schrecklich einsam und isoliert zu fühlen. Ahnungslos, dass sein Virus gerade große Teile des Internets außer Gefecht setzt, starrt er auf seinem Bildschirm in sein Spiegelbild und sieht einen Versager, dessen Anblick er nicht mehr ertragen kann.
Am nächsten Morgen trifft die Polizei ein, die von seiner Mutter, welche sie rief, nun unter Tränen zu seinem Zimmer geführt wird. Die Beamten finden ihn leblos mit durchtrennten Pulsadern neben seinem blutverschmierten Gehäuse - mit einer Scherbe in der rechten Hand. In der letzten Minute vor seinem Tod beschloss er, wenigstens dieses Kunstwerk zu vollenden.

Alfred van Dunching

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