Krakau und die Liebe
von sepia

 

Zwanzig Sätze der Liebe
Eine Frau und ein Mann. Eine Frau und ein anderer Mann.
Eine Frau ohne Mann. Und Krakau atmet Eisrauch. Und Krakau duftet
nach Blumen


Am vorletzten Tag des Jahres 1998 beschlossen S. und ich plötzlich,
Silvester in Krakau zu verbringen. Über Krakau wussten wir, dass von dort
die Würstchen gleichen Namens stammen. Bis zum Abend hatte ich einen
Mietwagen organisiert, in der Nacht fuhren wir los.

In Polen waren wir nie gewesen. Von Krakau trennten uns 600 Kilometer, wir
rechneten mit sieben Stunden. Das Land stellte ich mir als riesengroßes
stillgelegtes Industriegelände vor.

Nach 16 Stunden Autofahrt näherten wir uns einer Stadt, die durchaus
Krakau sein konnte. Genaues war nicht festzustellen, die Sichtweite betrug
vier Meter, die Temperatur minus 15 Grad. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte
drei Uhr nachmittags, aber vielleicht hatten wir, ohne es zu merken, ein
paar Zeitzonen durchquert, vielleicht auch gleich ein paar Jahrhunderte.

Pferdekutschen, die Insassen in Decken gehüllt, tauchten aus dem Nebel
auf, Teile einer mittelalterlichen Burganlage, gotische Kirchtürme, ein
regungsloser Fluss, weiß von Schwänen.

Scheiße, sagte S., wir sind in einem tschechischen Märchenfilm gelandet.

Die Sektflasche blieb zu Straßen und Bürgersteige waren voller Menschen,
die Hotels ausgebucht, an den Rezeptionen lachte man uns aus. Durch Zufall
fanden wir Unterschlupf zwischen den Betonwänden eines noch nicht fertig
gestellten Hotels. Es roch betäubend nach Farbe und Zement. Mühsam hielten
wir uns wach, trieben in engen Gassen durch gelb angestrahlten Nebel,
aneinander geklammert, um uns im Gewühl nicht zu verlieren, berührten
gelegentlich die alten Gemäuer mit Händen, darauf gefasst, ins Leere zu
greifen. Die fremde Sprache aus unzähligen Mündern vermischte sich mit
Musik, die, wohin wir auch liefen, immer gedämpft, hinter geschlossenen
Fenstern, einer Mauer oder der nächsten Straßenecke erklang. Um
Mitternacht kriegten wir mit den blau gefrorenen Fingern die Sektflasche
nicht auf.

Als wir erwachten, war es neblig und dunkel, geduckt verließen wir das
Hotel, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Die Armbanduhren zeigten
sechs Uhr, aber morgens oder abends, und welcher Tag? Jedenfalls hatte das
neue Jahr begonnen, wir konnten nach Hause. Acht Stunden später war es
immer noch nicht hell, der nagelneue Mietwagen brach kurz vor der
deutschen Grenze zusammen.

Krakau, das war etwas ohne Ort und Zeit, schön, wie nur Dinge es sind, die
man nicht klar erkennt, angefüllt von einer Sprache, die Musik wurde, weil
man sie nicht verstand. Alles war Rausch, und nichts funktionierte. Nicht
einmal der nagelneue Opel von Sixt. Der ADAC brachte uns nach Leipzig.

Während ich zwischen S. und dem Gelben Engel im Fahrerhäuschen des
Abschleppwagens königlich hoch über der Straße saß, stellte ich mir vor,
wie es wäre, in einer Stadt zu leben, deren Häuser, kaum kehrt man ihnen
den Rücken, die Plätze tauschen. Wo es immer dunkel ist und der Nebel
unentwegt Gesichter verschlingt und entlässt, die Antworten zu verbergen
scheinen, zu denen man nicht einmal die Fragen kennt. Krakau würde mich
nicht mehr in Ruhe lassen. Neugier war es nicht, was mich trieb. Ich
wollte nichts entdecken, weder Detektiv noch Spitzel oder Pfadfinder sein.
Ich wollte kein Geheimnis ergründen, sondern die Schönheiten seines
Schleiers genießen. Ich spürte eine unwiderstehliche Sehnsucht, selbst
Teil dieses Schleiers zu werden.

Ein gutes Jahr später bin ich wieder da, ausgerüstet mit Kleidung und
Büchern für vier Monate und der Möglichkeit, ein Auslandssemester zu
absolvieren. Ich habe Unterkunft gefunden bei einer Familie im Randbezirk
Borek FaIecki, dessen Namen ich mir nur schwer merken kann. Die Straßen
bestehen aus Schlamm, hart gefrorenen Radspuren und den Abdrücken von
Füßen. Hier und da kleben weggeworfene Weihnachtsbäume am Boden fest. Die
Temperatur liegt bei minus 20 Grad, hinter den Zäunen bellen unsichtbare
Hunde. Vor jedem Betreten des Viertels muss eine halbe Stunde an einer der
Bahnschranken gewartet werden, hinter denen nie ein Zug vorbeifährt.

Im Treppenhaus begegne ich dem Sohn meiner Vermieter, umständlich geben
wir uns über das Geländer hinweg die Hände, legen die abgestorbenen Finger
in Lederhandschuhen ineinander wie Gegenstände, die gar nicht zu unseren
Körpern gehören. Beim Lächeln reißen uns die Lippen. Am Abend steht er mit
einer braunen Flasche vor meiner Tür. Er heißt R., kann kaum Englisch, ich
kein Polnisch, wir schweigen lange und benutzen gelegentlich die Namen von
Musikbands oder Autoren, die in allen Sprachen verständlich sind. In den
Nächten höre ich seine CDs und hacke Szenen für meinen Roman in die
Schreibmaschine, deren Lärm das Haus erzittern lässt. Dafür erlaube ich
R., sich in meinem Badezimmer aufzuhalten, in dessen Duschwanne er
schmerzhaft schöne Schwarzweißaufnahmen von traurigen Frauen entwickelt.

Wenn R. nicht kommt, warte ich manchmal am Fenster, sehe auf die leere,
Eisrauch atmende Straße hinaus, und die Gardine liegt wie ein
Brautschleier über meinem Kopf.

Ich rufe S. in Leipzig an und sage, dass ich mich verliebt habe. Unter
Tränen klagt S. sich selbst und die Götter an, dass sie alle zusammen mir
erlaubt haben, diese Stadt jemals zu betreten. Eigentlich meinte ich
Krakau, aber ich korrigiere ihn nicht.

Kazimierz ist am schönsten Niemand will mir die Stadt zeigen. » Hier
gibt's nichts zu sehen!« - Ein seltsamer Witz. Wenn die Nebel sich heben,
sehe ich eine Stadt mit Altersringen gleich einem tausendjährigen Baum,
Geschichte, die sich vom mittelalterlichen Zentrum bis zur kommunistischen
Plattenbauperipherie in konzentrischen Kreisen ausbreitet. Jeder noch so
alte Stein liegt an seinem Platz. Krakau hat die Kriege der letzten
Jahrhunderte wie in einer Schmuckschatulle überdauert: Glück gehabt.
Selbst im Judenviertel Kazimierz, das ausgeräumt wurde bis auf die letzte
Maus, stehen die Synagogen, der jüdische Markt, die Klezmerhäuser
unberührt. Obwohl Kazimierz der schönste aller Stadtteile ist, leben hier
nur Künstler und andere Übergeschnappte.

Auschwitz liegt 40 Autominuten entfernt.

Niemand redet mit mir, weil ich Deutsche bin und zu gut Englisch kann.

Deshalb habe ich Zeit. Niemand erzählt mir Legenden, und ich erfahre sie
doch, die Stadt ist ganz aus ihnen errichtet. Geschichten über die Türme
der Marienkirche, die zwei Brüder im Wettstreit erbauten, und über Tauben,
die eigentlich verzauberte Ritter sind. Geschichten von den Raben, die
Krakau den Namen gaben und in heidnischen Zeiten durch Priester betreut
wurden, weil ihre Flugbahn alle Geschicke prophezeit. Das Lied des
Bronzetrompeters zur vollen Stunde bricht mittendrin ab, ganz hinten auf
dem Hauptaltar von Veit Stoß steht ein gelber Schnabelschuh. Über dem
Eingang der Tuchhallen baumelt ein Dolch, und eines der geschnitzten
Gesichter in der Kassettendecke des Gesandtensaals hat einen geknebelten
Mund. Ich lerne, den Kopf in den Nacken zu legen, ich lerne, die Stadt zu
lesen. Ich vergesse den Klang meiner eigenen Stimme.

R. und mir fehlen die Worte. Er hasst die Stadt und geht nicht oft vor die
Tür. Wenn ich nicht ziellos herumlaufe oder auf der Schreibmaschine lärme,
sitze ich in seinem Keller, verwirbele Teeblätter im Glas und betrachte
Schwarzweißfotografien. Ab und zu lerne ich ein polnisches Wort, für
»Lichtbrechung« zum Beispiel, für »Hintergrund«, »Schatten« und »Verlust
der Kontur«. Es ist kalt in dem Keller, draußen lässt der Winter die
Gelenke knacken. R. friert nie. Ich befürchte, dass er verschwinden wird,
weniger schmelzend als verblassend mit steigender Temperatur.

Das Unglaubliche geschieht, es wird wärmer. Glück gehabt: R. ist noch da.
Wir leben in Sünde. Die Eltern, unsere Vermieter, schmeißen uns raus, ihn
aus dem Keller, mich aus dem ersten Stock. R. sagt, wir seien wie Juliusz:
Er meint SIowacki, schlägt den Hemdkragen hoch, nimmt eine Rose aus der
Vase auf dem verschnörkelten Kaffeehaustisch und klemmt sie zwischen die
Zähne. Über den Tisch hinweg lachen wir uns an. Unter dem Tisch stehen
meine Reisetaschen.

Wir sind übergeschnappt. Wir ziehen zusammen in die Lenartowicza, eine
Querstraße der Juliusz-SIowacki-Allee. Die alte Hauseigentümerin mag
Deutsche, sie zeigt mir die Schalter im Treppenhaus, auf denen »Licht«
steht: Die faschistischen Besatzer haben alles schön renoviert. Die
Wohnung ist leer bis auf ein paar Bücher und eine Matratze, wir haben kein
Geld für die Miete und kaum 20 Sätze, die wir wechseln können. Krakau ist
zufrieden mit uns und beginnt, nach Blumen zu duften.

Ich leihe einen Laptop, mit dem Roman geht es schneller voran. Jetzt kann
ich auch »Sprachmelodie«, »Mondnacht« und »Hauptsache, wir sind zusammen«
auf Polnisch sagen. Ich kenne jedes Gebäude in der Stadt und keine
Menschenseele, ich sitze stundenlang auf der Fensterbank. Auf dem Dach
gegenüber wispern die rostigen Antennen miteinander.

Manchmal ruft S. aus Deutschland an und fragt, ob ich übergeschnappt sei.

Im Mai wollte ich zurück in Leipzig sein, es ist August und unerträglich
heiß. Kazimierz feiert jüdische Wochen, in den Nächten tragen wir
Wohnzimmerstühle aus den Kaffeehausgewölben auf die staubige Straße und
trinken roten Wein. Tagsüber machen wir Fotos auf verlassenen Sportplätzen
und vor zerfetzten Plakatwänden. Wenn das nicht hilft gegen die fiebrige
Schönheit der Stadt, fahren wir raus zu den stalinistischen Paradealleen
und endlosen Industrielandschaften Nowa Hutas. Immer öfter liege ich im
Schatten unter den Burgmauern des Wawel und schaue über die blendende
Weichsel. Ich lerne die polnischen Wörter für »Wir werden sehen«, »Klar
muss ich irgendwann zurück« und »Es ist, wie es ist«.

So sehr hatte ich mir den Herbst in Krakau gewünscht, aber die Blätter
sitzen alle fest an ihren Zweigen und Ästen. Ich stehe auf Planty, dem
ringförmigen Park entlang der Stadtmauern, und zucke zusammen bei jedem
Donnerschlag. Mit Schreckschusskanonen werden die Schwärme von Raben
vertrieben. Man kann ihnen opfern oder sie mit Kanonen beschießen. Ich
weine. Die Straßen sind voll, niemand schaut mir ins Gesicht.

Herbst wird es hier nicht mehr R. und mir fehlen die Worte. Eines Nachts
ist er verschwunden. Ich habe keine Telefonnummern, die ich anrufen
könnte. Zwei Wochen lang sitze ich am Boden der leeren Wohnung in
Steckdosennähe. Mit dem Roman geht es schnell voran, deshalb kann ich die
Zeit nicht zurückdrehen. Hier wird es nicht mehr Herbst werden, erst recht
nicht Winter. Es braucht nur eine Stunde, um die letzten Monate in meine
Reisetaschen zu packen. Als ich die Stadt verlasse, sind die Baumkronen
schwarz von Raben, sie kommen immer wieder zurück.

Deutschland ist nass und kalt. In meiner Küche leben Mäuse, im Wohnzimmer
die Ratten. Das Poster von Krakau hänge ich nicht auf, zusammengerollt
bleibt es in seiner Ecke.

Ich habe Glück gehabt. Jetzt, denke ich schlicht, hab ich es nicht mehr.

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