Selbstmord
von Arnold Hohmann (myradias)

 

Ich sitze hier seit zwei Monaten in diesem Fremdenzimmer. Weit weg von meiner alltäglichen Umgebung. Weit weg von meinem Lebensraum. Meiner Welt. Ich bewege mich nur, um auf die Toilette zu gehen oder um etwas zu essen. Das Waschen habe ich in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt. Das schlafen auch. Aber da ich kaum etwas anderes tue, als hier zu sitzen, kann ich mich über Müdigkeit nicht beklagen.
Auf dem Tisch in diesem Zimmer habe ich den Lepptop aufgestellt der eine ständige Internetverbindung aufrecht hält. Das Herz dieses Zimmers. Mein Herz, die Letzten zwei Monate. Diesen Lepptop brauche ich, um mit meinem Server verbunden zu sein, der es mir ermöglicht, meine Webcams ständig zu überwachen. Ich habe insgesamt achtunddreißig Webcams rund um die Uhr laufen. In insgesamt vier Verschiedenen Wohnungen habe ich sie installiert. Heimlich, ohne das Wissen der Bewohner.
In der meiner Eltern habe ich Zwölf. In der meines Bruders und seiner Lebensabschnittsgefährtin sind es sechs. In der meiner Ex-Freundin sin es zehn, genauso wie in der meines besten Freundes. Ich habe sie vor neun Wochen installiert, kurz bevor ich mich hierhin verkrochen habe, und zwar so, dass es die Opfer nicht mitbekommen, dass sie ständig beobachtet werden.
Gleichzeitig habe ich jedem der vier Parteien noch einen Abschiedsbrief hintgerlassen in dem ich meinen Selbstmord angekündigt habe. Seit dem haben sie nichts mehr von mir gehört. So wie alle anderen Menschen, die mir in meinem Alltag begegnet sind. Alle Menschen, die mich kennen, halten mich für tot. Warum ich das gemacht habe? Nun ja, ich denke, dass kann jeder nachvollziehen. Vor allem jene, die sich von der Welt niemals wirklich verstanden gefühlt haben. Wie oft war man doch davor, sich das Leben zu nehmen um es gegen den Tod einzutauschen. Aber das ist eigentlich schon nicht richtig. Das sterben ist dabei nur die unangenehme Nebeneffeckt. Denn es geht doch dabei nur um Mitleid. Seht her, wie schelcht es mir geht, wie ich gelitten habe, wie missverstanden ich mich von euch gefühlt habe. Jetzt bin ich tot. Ihr seid Schuld. Ja, ja, weint nur, macht euch Vorwürfe. Und es geht um Veränderungen. Man ist nicht zufrieden mit seiner jetzigen Situation. Man will die Karten neu gemischt haben. Aber bitte nicht zu viel dafür tun. Nein, auf gar keinen Fall zu viel dafür tun, denn das hieße Enrgie zu verbrauchen, Endorfiene freizusetzen, die einen wohlmöglich nachher noch glücklich machen und einem das Leben versüßen. Also umbringen. Mittleid und Neuanfang. Zwei fliegen mit einer Klappe.
Ich hatte in den letzten Jahren niemals vor, mir das Leben zu nehmen. Obwohl ich mich von meiner Umgebung missverstanden fühlte und die Eintönigkeit meines Alltagstrottes mich langsam immer grauer und und unbeweglicher machte. Nein, ich wollte es dieses Mal geschickter umsetzen, ohne den unangenehmen Nachgeschmack. Ich täuschte meinen Tod einfach vor, nur allein um zu sehen, wie meine vertrauten Mitmenschen darauf reagieren. Und alles konnte ich gründlich über meinen Lepptop beobachten und archivieren.
Die Reaktion meiner Eltern war Anfangs selbst für mich so erschütternd, dass ich das Experiment eigentlich wieder abbrechen wollte. Meine Mutter, eine onehin sehr sensible Frau, musste die erste Zeit in einem Krankenhaus mit einer Art Antidepressiva am Leben gehalten werden, bevor sie dann doch wieder nach Hause kam. Mein Vater, der sonst einer der stabielsten Charaktere darstellte, die mir jemals begegnet sind, konnte zwei oder sogar drei Wochen lang seine Arbeit nicht mehr verrichten. Er saß die meiste dieser Zeit letargisch auf dem Sofa und hörte klassische Musik. Dies unterbrach er nur um zu essen, oder wenn ihn Freunde besuchten, um ihn zu trösten. Geschlafen hat er die erste Zeit nicht.
Mein Bruder verrichtete zwar Regelmäßig seine Arbeit, doch auch nur aus dem Grund, weil seine Freundin ihm jeden Abend seine Seele maßieren musste. Das Bild, wie er seinen Kopf auf dem Schoß seiner Freundin legte und unter Tränen dann einschlief, war mir nach einigen Wochen so vertraut, dass es durch seine Monotonie für mich schon eher wie ein Gemälde in meinem Kopf gespeichert wurde.
Mein bester Freund trank viel Alkohol und redete mit vielen unserer gemeinsamen bekannten über mich, nächtelang. Aber das enttäuschte mich, weil so sein Alltag onehin aussah. Nur mit dem Unterschied, dass ich nicht so häufig das Gesprächsthema war, wie nach meinem vorgetäuschten Tod.
Meine Exfreundin, die mir noch eine Woche vor meinem Tod klar gemacht hat, dass sie mich nie wirklich aufgehört hat zu lieben, es unsere Charaktere aber einfach unmöglich machten, ein glückliches Zusammenleben zu haben, schien mein Tod nur die ersten Tage mitzunhemen. Danach trat ihr Alltag wieder in den Vordergrund, der für mich so unerklärlich und gewöhnlich war, dass ich ihre Webcams bald ganz abstellte. Denn Ekel überkam mich bei der Beobachtung ihrer Lebensweise.
Doch auch andere Kameras stellte ich nach und nach ab. Immer weniger war mein Tod der Mittelpunkt von Emotionen und Alltag. Ich verschwand immer mehr. Erst verlor ich meinen besten Freund, der immer noch viel Almkohol trank und mit Freundne redete, nun aber wieder über Musik und Frauen.
Dann, begann ich meinen Bruder mit seiner Welt allein zu lassen, der mittlerweile wieder Partys und Spieleabende in seiner Wohnung veranstaltete. Ja sogar ein Ende der Beziehung zu seiner Lebensabschnittsgefährtin bahnte sich an. Andere Hürden sind in seinem Leben aufgetaucht. Ich war darin nicht mehr enthalten.
Letztendlich schaltete ich auch die Kameras bei meinen Eltern ab, die, was mich zutiefst erschütterte, wieder immer mehr Lebensfreude zurückgewannen und sogar gelegentlich herzhaft Lachten.
Nun sitze ich hier. In einem Fremdenzimmer. Ja, dass Zimmer ist mir fremd. Nach all der Zeit, die ich hier verbracht habe. Und es ist heiß. Draußen ist Sommer, in der Herzen meiner dokumentierten Trauernden auch. Jetzt bin ich alleine.
Die einzige Webcam, die ich noch überträgt und eine Bild auf mein Bildschirm bringt ist die in meinem Zimmer, dass ich bei meinen Eltern hatte. Anfangs gut besucht von allen möglichen Verwanten und Freunden, die Abschied von mir nehmen wollten, war es die letzten Tage gänzlich leer geblieben. Auch ich nehme Abscheid davon. Ich sehe meine Mutter in das Zimmer kommen. Sie geht ans Fenster und lässt die Rollos runter. Mit einer Haltung, so wie ich sie von ihr kenne. So wie sie alle Dinge tut, die gemacht werden müssen, aber keine emotionale oder schwerwiegende Bedeutung für sie haben. Das Zimmer wird dunkel. Nur noch Licht, das von der offen stehenden Tür hereinströmt lässt Schemen erkennen. Meine Mutter verlässt das Zimmer und schließt die Tür. Die Webcam überträgt nur noch schwarz. Wie gerne hätte ich noch einmal meinen Vater gesehen. Ich schalte die Webcam ab.
Aber, was habe ich denn erwartet? Was habe ich verlangt? zuviel, angeblich. Nichts ist für die Ewigkeit. Anscheinend auch nicht meine Rolle in diesem Leben. Also werde ich einen Neuanfang machen. In der Schublade neben dem Bett, wo sonst immer nur eine Bibel verstaut ist, habe ich einen Revolver versteckt. Weil ich wusste was kommen wird. Dazu kenne ich mich einfach zu gut. Den Revolver nehme ich und Ziele direkt auf mein Herz. Ich drücke ab.
Ich verlasse das Zimmer und werde nun neu anfangen.Der Lepptop ist zersprungen in mehrere Teile, die alle auf den Boden gefallen sind. Er war das letzte Überbleibsel meines alten Lebens. Es war das Herz meiner letzten zwei Monate. Es ist nun tot.

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