Zugfahrt
von Roman Biewer

 

Ich sitze im Zug. Das tue ich sonst selten, aber mein Auto ist gerade kaputt. Ich fahre zweite Klasse und sitze direkt an der Durchgangstür zum nächsten Abteil. Aus Langeweile beginne ich damit, den Charakter der Leute, die durch diese Tür ins nächste Abteil müssen, als liebenswert oder niederträchtig zu beurteilen, je nachdem, ob sie die Tür wieder hinter sich schließen oder nicht. Die meisten tun es nicht und so zieht es ständig. Da mein Koffer allerdings sehr schwer ist und es lange gedauert hat, ihn sicher auf der Gepäckablage über meinem Sitz zu verstauen, wechsele ich nicht den Sitz. Gegenüber sitzt eine junge Frau, die so aussieht, als wäre ihr so manches zuzutrauen. Sie packt einen Apfel aus, der es in kein Kaufhaus dieser Welt geschafft hätte, und kaut mit militantem Blick darauf herum. Nach einer Weile merkt sie, daß ich ihr Ritual betrachte und fragt: „Sie glauben wohl, ich bin eine Vegetarierin?“. Ich sage „keine Ahnung“. Sie erklärt mir, daß sie Vegetarier haßt, weil diese die Arroganz aufbrächten, Fleischfresser als Mörder zu bezeichnen, aber selbst gar nicht merkten, daß sie ja in Wirklichkeit viel mehr Lebewesen umbrächten. Leider rutscht mir ein „warum?“ raus, obwohl ich überhaupt keine Lust haben, mit dieser Schlampe zu reden, und wenig später tut mir dieser Fehler unglaublich leid. „Um von Salat satt zu werden, müssen sie bestimmt drei Köpfe umbringen, während sich an einer Kuh bestimmt fünfzehn Leute sattessen können.“ Natürlich wäre auch dies verwerflich, aber im Zweifel sei es immer noch besser, wenige Leben zu vernichten als mehr, um seinen Hunger zu stillen. Sie selbst ernähre sich nur von den freiwilligen Gaben der Lebewesen dieser Welt. „Wenn ich einen Apfel von einem Baum annehme, den er mir von seinem höchsten Ast freudig entgegenwirft, tut das niemandem weh.“ Auch die Milch einer Kuh sei ein Geschenk, das man annehmen dürfe und auch solle. Ich will sie fragen, welcher verschrobenen Sekte sie angehört, will ihr aber nicht schon wieder das Gefühl geben, daß ich mich mit ihr unterhalten möchte. „Wissen sie, die Welt ist so voll von Menschen, die sich berechtigt fühlen, ihr eigenes Leben über das anderer zu stellen“, beginnt sie sich hineinzusteigern. In diesem Augenblick stößt mir die Currywurst auf, die ich vor Besteigen des Zuges noch schnell am Bahnhofsimbiss gegessen habe. Ihre Nase ist nicht die schlechteste, und so wird ihr Blick glasig und ich warte bereits darauf, daß sie jetzt laut „Mörder!“ schreit. Doch sie sagt nur „und ich dachte, sie verstehen mich“ und beginnt zu weinen. Ich frage mich, ob die Langeweile einer Zugfahrt dazu führen kann, daß man auf Geistesgestörte verständnisvoll und vertrauenserweckend wirkt, bin mir jedoch sicher, die ganze Zeit so desinteressiert wie immer dreingeschaut zu haben. Trotz der peinlichen Situation bleibe ich sitzen, dieses Mal nicht wegen dem Koffer, sondern weil mein Platz eine hervorragende Sicht auf einen mehr als gutaussehenden Typen möglich macht, der jetzt sogar zu uns rüberguckt. Ich grinse so gut es geht und er grinst etwas verwundert zurück. Jedenfalls scheint er zu begreifen, daß nicht ich an dem Desaster Schuld bin. Während die Lebewesentussi noch immer in ihren Sitz heult, frage ich mich, ob der Typ nicht vielleicht Bock hätte, den Rest der Fahrt mit mir auf dem Klo zu verbringen. Ich versuche den Gedanken zu verdrängen und mich daran zu erinnern, daß so gutaussehende Typen erfahrungsgemäß andere sexuelle Vorlieben haben als ich. Die Erinnerungen an diese mißglückten Versuche lassen meine Stimmung sinken, und der Singsang des gekünstelten Heulens, der von meinem Gegenüber ausgeht, versetzt mich in einen unwirklichen Zustand. Ich verspüre Lust, die blöde Kuh so lange mit Currywurstdämpfen zuzurülpsen, bis sie sich selbst aufißt. Der süße Boy von der anderen Gangseite fragt mich nach Feuer für seine Zigarette. Das ist jetzt schon der zweite Beweis, daß er was von Dir will! denke ich bei mir und antworte ihm: „Tut mir leid, ich bin Nichtraucher, aber schau doch mal auf der Toilette nach“. Er sagt doch tatsächlich „Oh, danke!“ und stiefelt los Richtung Toilette. Ich bin dermaßen geschockt über seine Blödheit, noch mehr jedoch über die Worte, die mir einfach so rausgerutscht sind, daß mir mein Koffer nun doch nicht mehr zu schwer ist und ich in ein anderes Abteil flüchte, noch bevor er zurückkommt.

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