Zugfahrt 2
von Roman Biewer

 

Im Zug. Once again. Zweite Klasse. Ohnehin ist es erstaunlich, wie groß die Qualitätsunterschiede der Abteile sind, die zu dieser Klasse gezählt werden. Zwischen modernem Großraumabteil mit kleinen gemütlichen Ecken, in denen man von niemandem angesprochen wird, aber fast jeden unbemerkt beobachten kann und alten Kleinstabteilen mit sechs Plätzen, die nach Rauch riechen, obwohl Nichtraucher, und einem immer das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber jeder Autorität, besonders Schaffnern, vermitteln, selbst, wenn man einen Fahrschein hat, ist alles im Bereich des Möglichen
Dieses hier ist neu, schon mal gut, aber da Regionalbahn, wenig komfortabel. Immerhin gibt es Sitzbänke in Fahrtrichtung, in Gegenfahrtrichtung, und dadurch auch Bankpaare, die ein Gegenübersitzen ermöglichen. Gerade, wenn nur wenig Menschen reisen, finde ich das besonders interessant. Sind nämlich nur wenige Menschen im Abteil, so besteht die Möglichkeit der nahezu freien Platzwahl. Interessant, für welche Plätze die Menschen sich entscheiden. Die meisten setzen sich erst mal auf unbesetzte Bänke. Auch Bankpaare, bei denen die gegenüberliegende Bank bereits besetzt ist, werden gemieden. Warum ist das so? Etwa aus dem Grund, daß man einem fremden Menschen, der einen nicht interessiert, nur dann zu nahe treten möchte, wenn es platzbedingt nicht anders geht?
Fragt man jemanden, ob "hier noch frei" ist, obwohl das ganze Abteil von gänzlich unbesetzten Bänken nur so wimmelt, wird dies jedenfalls bereits als Annäherungsversuch gewertet, was die einen mit erfreuter, die anderen mit ablehnend fragender Miene quittieren. Bei beiden Fraktionen ist jedoch stets Erstaunen festzustellen. Bereits an dieser ersten Reaktion erkennt man, ob der/diejenige viele Freunde hat oder wenige, bzw. ob es sich um eine Oma handelt oder nicht, was sich durchaus nicht immer bereits an der äußeren Erscheinung feststellen läßt. Ich schwöre es: Es gibt in der Tat auch gutaussehnde 20jährige Omas männlichen Geschlechts!
Da das Bedürfnis, möglichst alleine und abgeschieden in einem öffentlichen Verkehrsmittel zu sitzen, ein Phänomen ist, das fast die gesamte Menschheit kennzeichnet, gibt es wenig Aufschluß über die individuelle innere Beschaffenheit des Einzelnen. Um so mehr natürlich über den, der unter der Gefühlsmutation leidet, Nähe zu Fremden in fast unbesetzten Bahnen zu suchen. Kleine mahnende Nebenbemerkung: Wie viele überbesetzte öffentliche Verkehrsmittel muß man Tag für Tag beobachten, wo der Mensch doch gerade hier nach Einsamkeit und Abgeschiedenheit strebt. Gesellschaft, merkst du was?
Was also, um zum Punkt zu kommen, viel spannender beim Beobachten nahezu freier Platzwahlen ist, ist der Aspekt, ob sich der Wählende für das Sitzen in oder gegen die Fahrtrichtung entscheidet. Eindeutig ist hierbei zu beobachten, daß die meisten lieber in Fahrtrichtung sitzen. Warum? Klar, man wird eher in den Sitz gedrückt, als, im Falle des in Gegenrichtung Sitzens, leicht aus demselben herausgezogen. Doch ist das der wahre Grund? Ziehen kann nämlich auch schön sein. Man denke nur an Trinken mit Strohhalm. Ich vermute eher einen anderen, wenn auch dem Unterbewußtsein zugehörigen und daher den wenigsten Menschen bewußten Grund: Das Sitzen in Fahrtrichtung verringert das Gefühl des Ausgeliefertseins, dem man ja immer dann obliegt, wenn man in einem fahrenden Fahrzeug sitzt, das man nicht selbst steuert. Aus demselben Grund, warum man im Auto am liebsten Beifahrer ist, wenn man schon nicht Fahrer sein kann oder darf, möchte man im Zug in Fahrtrichtung sitzen. Man glaubt, dadurch eher Herr der Lage zu sein, zu wissen, wo es hingeht, zu sehen, wohin man fährt. Allein das ist aber schon ein Trugschluß. Man sieht beim Sitzen in einem Zugabteil meist ja nur zur Seite hinaus, und in Fahrtrichtung sieht man nur geringfügig weiter nach "vorne", keineswegs jedoch, was vor dem Zug ist. Und selbst wenn es so wäre. Was würde es ändern?
Daher meine Schlußfolgerung: Menschen, die sich im Zug freiwillig in Fahrtrichtung setzen, sind süchtig nach Kontrolle, glauben, dadurch der Schicksalhaftigkeit des Lebens entkommen zu können. Die Tatsache, das fast alle Menschen in Fahrtrichtung sitzen wollen, zeigt nur, wie präsent in unserer Gesellschaft die Utopie der Kontrolle ist.
Zum Glück gibt es immer noch, wenn auch wenige, Individualisten, die sich aus freien Stücken in die Gegenfahrtrichtung setzen. Diese Leute wissen noch, was wirkliche Freiheit bedeutet: Unter Bejahung der Schicksalhaftigkeit sein Leben zu leben, jeder gesellschaftlichen Diktion zu trotzen. Diese Menschen würden, in Gegenfahrtrichtung, einem wildfremden Menschen gegenübersitzend, dem sie sich freiwillig gegenübergesetzt haben, o ja, es hätte durchaus andere, freiere Plätze gegeben, aber nein, sie wollten genau diesem Menschen gegenüber sitzen, und dieser blickt sie jetzt an und denkt: Mein Gott, was will der nur von mir, der hätte sich doch auch woanders hinsetzen können, diese Menschen würden, da bin ich mir sicher, in genau diesem Augenblick beginnen zu onanieren, wenn sie Lust dazu hätten! Haben sie schon einmal jemanden gesehen, der in einem Zug in Fahrtrichtung sitzt und onaniert? Ich nicht!

Jetzt komme mir bloß niemand und erzähle mir, daß es ja auch Sitzplätze gibt, in denen man seitlich zur Fahrtrichtung sitzt. Leute, die sich da freiwillig hinsetzen, gibt es nicht! Und wenn doch, wissen sie gar nichts von den Dingen, die in unserer Welt vor sich gehen!

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5364 Beiträge veröffentlicht!