Himmel
von Roman Biewer

 

Früher wollte ich sterben. Warum? Wollte ich denn nicht mehr leben? Das wollte ich gerne, aber nicht mit diesem Schleier, nicht mit diesem Druck. Nie hatte ich Kraft, nie hatte ich Lust, immer nur Angst, immer nur Qual.

Heute will ich leben. Warum? Hab ich denn gefunden, was mir Halt gibt? Das habe ich. Obwohl Leute glauben, dass genau das mein Leben zerstört. Doch sie irren sich. Nie ging es mir so gut, nie habe ich so gerne gelebt, immer soll es mir bleiben, immer soll es mir helfen.

Ich setzte damals die Nadel an, genau, wie ich es gerade auch tue. Inzwischen bin ich geübt, aber damals, als es anfing, war es schwer, sich selbst zu stechen. Nie konnte ich im Fernsehn hinsehen, wenn es gezeigt wurde, nie zuschauen, wenn der Arzt mir Blut nahm, immer musste ich weg sehen, immer wurde mir übel.

Heute kann ich es, und es wirkt, wie es von Anfang an gewirkt hat. Heute brauche ich etwas mehr, um den gleichen Effekt zu erzielen, und das ist die einzige Angst, die ich noch habe: Dass es irgendwann nicht mehr wirkt. Es gibt noch eine Zweite: Dass es irgendwann nichts mehr gibt.

Abhängig zu sein bedeutet nicht, dass man seine Freiheit eingebüßt hat. Nicht für mich. Ich war nie frei. Ich war gebunden, ständig gebeutelt von Angst, im Zaum gehalten von der Unfähigkeit, voller Kraft zu sein. Meine Abhängigkeit ist Freiheit.

Es wirkt: Mein Arm wird kalt, die Flüssigkeit verteilt sich, ich spüre sie deutlich. Die Kälte erfasst nur den Arm, der Rest meines Körpers erwärmt sich. Unglaubliche Entspannung. Plötzlich die Fähigkeit, loszulassen.

Schon beim ersten Mal erkannte ich, wie falsch meine Todessehnsucht war. Ich glaubte, in dem Tod genau das zu finden: Vollständige Entspannung und Ruhe. Aber nach dem Tod kommt gar nichts. Es wäre einfach nur alles weg. Aber hier, lebendig, wurde ich fündig. Echtes, lebendes Gefühl.

Es ist gesund. Endlich darf ich bei mir sein, frei, schön, sanft, am Ende, nicht mehr suchend. Es ist warm. Es ist zart. Ich möchte ewig leben, es immer spüren dürfen. Es macht mich glücklich.


Nie geb ich es her, nie will ich zurück.
Immer wird es helfen, immer werd ich leben.

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