die olle Mösenkratzerin
von Roman Biewer

 

"Überlegen sie mal, die Welt würde sich von Zeit zu Zeit ein klein wenig ändern, ein kleines bißchen nur."
Ich weiß wirklich nicht, welcher Teil meiner Ausstrahlung es ist, der solchen Leuten sagt: "Ich habe es nicht besser verdient, na los, komm schon, geh' mir auf den Sack."
Ich muß tatsächlich einen besonders zutraulichen Eindruck auf Geisteskranke machen. Aber ich schwöre, immer so abweisend und desinteressiert wie nur möglich Fremden gegenüber aufzutreten, alleine schon, weil mich Menschen im allgemeinen ohnehin wenig interessieren.
"Muß gar nichts Großes sein, wissen sie. Ich meine, muß gar nicht sein, daß es plötzlich kein Krieg mehr gibt oder so, würde schon reichen, wenn die Namen ein bißchen anders wären."
Sie hatte so einen komischen Rock an, aus so einer Art Gardinenstoff, karierte Falten, aber selbst Gardinen aus so einem Stoff hängt sich heute kein normaler Mensch mehr in die Wohnung. Hängt man sich überhaupt noch Gardinen in die Wohnung?
"Oder statt f wäre immer pf und andersrum. Dann würde mein Schwager Pferdinand Ferdepflasch heißen."
Jetzt tat ich etwas, was ich danach sofort unendlich bereute: Ich vergaß für wenige Sekunden, daß mich das alles ja eigentlich gar nicht interessierte.
"Ihr Schwager heißt Ferdinand Pferdeflasch?"
Ihr etwa 45 jähriges Gesicht schnellte hoch, ihre bereits runzligen Augen blickten mich an, sie lachte, aber nicht wie andere Menschen lachen, denn es gab kein Anschwellen und Abklingen dieses Lachens, das es ja sonst immer gibt, egal wie kurz ein Auflachen sein mag, es gibt immer eine Übergangsphase zu davor und danach, wenn man nur genau genug hinsieht, und das tue ich immer! Hier nicht: Eben war das Gesicht noch traurig, Hochschnellen, Glotzen, meck, meck, meck, wie eine Hexe, und dann sofort wieder Melancholie.
"Hab' gar keinen Schwager, aber ich k ö n n t e ja einen haben, das wär' dann so eine kleine Sache, die auch anders sein könnte, müßt' ihn ja gar nicht kennen, könnt' ja ruhig weit weg wohnen, aber ich hätt' einen, und dann könnt' er ja so heißen!"
Ich blickte aus dem Fenster. Ich wollte doch nur mit diesem unschuldigen Zug von A nach B. Warum mutieren eigentlich gerade die normalsten Dinge zu derartigen Grenzwerterfahrungen? Warum saß mir nun dieses Vieh von einer Frau gegenüber?
Ein kurzes Zucken, eine Art zelebrales Wetterleuchten, ging über ihr Gesicht (ich bin mir sicher, daß dieser Vergleich nicht hinkt. Bei einer Messung der atmosphärischen Spannung einerseits und der Hirnströme bei so einem Weib andererseits, wenn so eine Zuckung durch ihren Schädel fährt, man glaube mir, die Bilder würden sich ähneln! Klar, andere Skalierung und so, von wegen Makro- und Mikrokosmos und so, aber das Bild: Nichts - Entladung - Nichts).
"Die Vorwahlen könnten zum Beispiel immer mit 4 anfangen."
Nun schüttelte es ihren Körper, maximal ein halbe Sekunde.
"Das wäre toll."

Und dann kratzte sie sich an ihrer Möse.

Ich meine, ich s a h das nicht, Gott bewahre, ich will mir das auch gar nicht erst vorstellen, aber was ich s a h, war: Hand unterm Rock, Rumfummeln. Was ich allerdings h ö r t e, war: K r a t z e n. Kratzen, wie es sich nur im Intimbereich anhört. Kratzen auf dicken, lockigen und kurzen Haaren, vermengt mit einem Geräusch, daß ich mal als sumpfig bezeichnen möchte. Man h ö r t förmlich die Feuchtigkeit, die ja bei so einem Genitalbereich (vor allem bei s o einem) irgendwie immer da ist, ich meine jetzt gar nicht mal die aufgrund sexueller Erregung entstehende, sondern eher der Stand-By-Glitsch, an dem unsere westliche Hemisphäre Schuld ist, die uns ja nötigt, alles unter mindestens fünf Kleidungsschichten zu verstecken. Feuchtigkeit und Geruch: Hilfeschrei westlicher Genitalbereiche!
Schlimmer war also das, was ich h ö r t e, und so ist das ja mit dem Sinnesorgan Ohr: den Augen stets um ein paar Intimitätsstufen voraus. Lachhaft, daß Voyeurismus immer mit den Augen in Beziehung gesetzt wird, die größten Spanner sind doch die Ohren! Was tut man, wenn man etwas nicht sehen will? Augen zu, Kopf wegdrehen. Und wenn man etwas nicht hören will? Ohren wegdrehen? Geht nicht, da Schallausbreitung kugelförmig! Ohren zuhalten? Erstens technisch zumeist unbefriedigend, weil man immer noch etwas hört, zweitens gesellschaftlich verpönt. Das Wegschauen oder Augenschließen beim nicht-sehen-wollen hingegen gar nicht mal s o o o. Beispiel Zugabteil: Man sitzt alleine mit einem Pärchen, plötzlich Geknutsche, später Schwanz raus, Rumgeblase, man kennt das ja. Und jetzt? Augen zu? Kein Problem, Akzeptanz sofort da, "der schläft!", oder so, aber h ö r e n tut man alles, also wirklich alles, einschließlich Vorhaut hin- und zurück, Eindringen und Kitzlerreiben. Jetzt setze man sich mal hin und halte sich die Ohren zu, schaue statt dessen aber hin! Es herrscht Entsetzen! Dabei ist das doch die bessere Alternative: Man sieht ja eh nie alles. So sähe man vielleicht einen netten Arsch, hübsche Titten, auf was man halt so steht, den Rest denkt man sich, weil der durch die zusammengepressten Leiber verdeckt wird, sieht in der Phantasie ohnehin besser aus. Hose auf, ein bißchen mitgewichst, nicht mehr oder weniger dramatisch, als eine gute Tasse Kaffee zu trinken, genau genommen sogar etwas weniger. Geht aber nicht, da beide Hände auf den Ohren! Also entscheiden, ob Nudel in der Hand halten, aber Glitschgeräusche ertragen müssen, die genauso gut auch von einem Entdarmungsvorgang bei der Schlachtung eines Rindes stammen könnten, oder Ohren zu, tolle Phantasien haben, aber nicht in Rubbelei umsetzen können.
Nein, es ist völlig klar, die Natur will, daß man h ö r t, was man nicht sehen will, und so h ö r t e ich, wie sich dieses Ungetüm von einer Frau an der Muschi kratzte. Ich glaube auch gar nicht, daß da mehr dahintersteckte, als daß sie das halt häufiger tut, wie es ja durchaus keine Schande ist, sich am Sack zu kratzen, bloß, daß sie dem eines jeden Menschen antrainierten Bewußtseins, so etwas nicht in Gesellschaft zu tun, verlustig gegangen war, was verglichen mit dem inniglichen Wunsch, in einer Welt leben zu wollen, in der alle Vorwahlen mit 4 beginnen, doch eigentlich eine Lapalie ist.
Jetzt bin ich ein wenig vom Thema abgekommen, und eigentlich gefällt mir das mit den Ohren jetzt viel besser als der Rest der Geschichte, weshalb ich fast gar nicht mehr weitererzählen mag.
Irgendwann gab ich eben mein Desinteresse auf, weil die Alte doch einfach zu geil abgefahren war und die Zugfahrt sonst doch so langweilig geworden wäre. Und im Nachhinein muß ich sogar sagen, daß die Mösenkratzerei doch das Abgefahrenere an ihr war, den ihre Weltveränderungstheorie wurde zwar im weiteren Gesprächsverlauf nicht unbedingt logischer, aber wenigstens in sich logisch. Innere Logik sagt zwar eigentlich nur, daß etwas objektiv nicht logisch ist, aber wißt ihr, ich steh' wohl auf so was.
Sie meinte also, und plötzlich konnte sie sich sogar gewählt ausdrücken, und man merkte, daß sie doch nicht ihr Leben lang nur Kartoffeln geschält hat und und darüber wahnsinnig wurde, sondern daß sie wahrscheinlich sogar mal ziemlich lange studiert hat. Natürlich auch ein Grund, wahnsinnig zu werden.
"Sehen sie, jeder wünscht sich von Zeit zu Zeit, daß alles anders wäre, aber jeder will immer so große Dinge, zum Beispiel, daß der Partner, der einen verlassen hat, wieder zurückkommt, daß man selbst ein besserer Mensch wäre usw. So unnütze Sachen eben, denn diese Dinge ändern sich nun einmal nicht. Aber kleine Sachen können sich immer mal ändern, gerade weil sie scheinbar bedeutungslos, gerade für einen selbst bedeutungslos zu sein scheinen, aber dadurch ist eben doch immer ein bißchen Bewegung im Leben. Deshalb sollte man sich im Wünschen üben, aber nicht im maßlosen Wünschen, denn darin ist jeder von uns bereits Meister. Aber im Wünschen von kleinsten, unbedeutensten, für einen selbst völlig belanglosen, meinetwegen sogar völlig unmöglichen Änderungen..."
"Wie zum Beispiel, daß unsere Vorwahlen mit 4 beginnen", entgegnete ich. "Genau! Oder, daß es nach dem Regnen ein wenig anders riecht, als wir es gewohnt sind."
"Vielleicht ein wenig nach Zimt?", wünschte ich mir.
"Ich fände es besser, es würde nach Essiggurken riechen!", wurde sie wieder energischer.
"Sie mögen den Geruch von Essiggurken?" "Eben nicht, aber genau darum geht es ja: Man würde künftig nicht mehr finden, daß es nach dem Regnen frisch riecht, und somit hätte eine so unbedeutende Änderung doch auch kleine, vielleicht gar nicht mal so unbedeutende Änderung eines kollektiven Empfindens zur Folge."
"Oder der Anteil von Rolltoren zu anderen Torarten wäre etwas höher als es zur Zeit der Fall ist."
Ich erschrak ein wenig über die Beliebigkeit meines Einfalls.
"Da wäre ich eher dafür, daß es weniger wären."
"Warum das denn nun?"
"Sie müssen noch viel lernen", sagte sie, und holte aus, wohl, um mich in weitere Geheimnisse ihrer Welt einzuweihen, doch da bemerkte ich, daß der Zug längst am Bahnhof von B stand, und gleich weiterfahren würde. Hastig schnappte ich meine Sachen und stürzte aus dem Abteil, raus aus dem Zug, und vergaß dabei sogar, mich zu verabschieden.

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