Die Ruine
von Arnold Hohmann (myradias)
Aus "Aufzeichnungen eines Soldaten"
In den Zeiten, wo es ruhig war auf beiden Seiten, gab es immer einen kleinen Handel. Ein ungeschriebenes Abkommen. Eigentlich Heimlich, aber jeder wusste es, auf beiden Seiten und in allen Rängen.
Es wurden zu bestimmten Zeiten von jeder Seite immer zwei Männer an einen Ort geschickt, der sich mitten zwischen den Fronten befand. Ein altes Ruinenstück, zwei überkreuzende Wände, die bisher jeden Schusshagel und jede Granate überstanden haben. Es trafen sich dort direkt die Feinde. Es waren immer zwei von jeder Seite, das war der Deal. Sie tauschten dann dort Zigaretten gegen Alkohol. Wir hatten den guten Whisky und sie die guten Gauloises.
Dieser Handel wurde, wenn es wo weit war immer recht eilich durchgeführt, denn man wusste ja nie, ob nicht plötzlich eine Seite einen neuen Befehl erhält. Dann wären die vier verloren gewesen. Denn die ranghöheren Offiziere konnten schlecht den Befehl verweigern Aufgrund eines Handels, der im Grunde gar nicht stattfinden durfte. Also musste man sich beeilen.
Einmal wurde ich auch losgeschickt. Mit.... ach, ich habe seinen Namen vergessen. Auf jeden Fall hat er mir bei unserem zügigen Heranschleichen an die Ruine klar gemacht, dass ich auf keinen Fall zu lange irgend einen Kontakt mit den anderen beiden halten sollte. Am besten nicht in die Augen sehen und nicht zu viel reden. Auf keinen Fall irgendwie berühren. Doch letzteres verstand ich am wenigsten.
Wir waren angekommen und die beiden Soldaten der feindlichen Seite warteten schon ungeduldig auf uns. Dann ging es schnell. Wir holten die Flaschen heraus und sie gaben uns die Zigaretten. Da geschah es. Ich berührte die Hand von einem der beiden anderen. Nur ein kurzes Streifen, eher. Nur an einem seiner Finger. Wir zuckten beide zusammen und schauten uns eine Sekunde lang in die Augen. So nah, habe ich dem Feind noch nie ins Gesicht blicken können. Die anderen beiden schauten uns besorgt an. Dann war es schon wieder vorbei. Der, mit dem ich den Handel tätigte und nun wieder zurückschlich, sagte mir noch etwas auf unserem Rückweg. Ich weiß es nicht mehr. Ich hörte gar nicht richtig hin, ich war wie weg.
Als alles seinen geregelten Weg weiter ging, hatte ich größere Schwierigkeiten als vorher. Was ist, wenn er es ist, an dessen Tod ich schuld sein werde? Und dann verstand ich es. Eine Woche später war wieder Waffenruhe und es gingen wieder zwei von uns zu der Ruine zum abgesprochenen Zeitpunkt. Ich selber habe nie wieder die Ruine aufgesucht.