Köln in Sturm
von maziar

 

Hallo Sonja,
Ich scheibe eine Live Geschichte für die Autorenplattform. Ich bin in Köln am Nachmittag. Es ist der 11 März. Seitdem ich mich entschieden habe, zu gehen, schaue ich noch öfter raus und rein. Heute wollte ich Köln im Sturm sehen. Wer lebt den alles in dieser Satdt und weshalb lebt er hier, frage ich mich. Es fällt mir auf, als erster Impuls, mir eine spekulative Antwort geben zu wollen. Aber ich weiß, daß diese Antwort nicht überzeugen wird. So war ich an unterschiedliche Orte, und sehe Menschen überall. Auf der Straße und in all den unterschiedlichen Räumen. Und siehe da, jeder ist anderes! Und überall Menschen, die einander begegnen. Manchmal bin ich ganz erstaunt, wie unterschiedliche Sprachen wir haben.
Liebe Grüße
Maziar

Hallo Maziar, Du begegnest Menschen in unterschiedlichen Räumen, stehst neben ihnen und scheinst im selben Moment ganz weit weg zu sein von ihnen. Woran liegt das? Kannst Du Dir diese Frage beantworten? Ich kenne dieses Gefühl nur zu gut von mir. Ich hülle mich zärtlich in meine Isolation, weil das die einzig feste, vertraute Konstante ist in meinem Leben ist. Ich fühle mich melancholisch heute, spüre den Boden unter meinen Füßen rissig werden, drehe mich im Kreis, bis mir schwindelig wird und sehne mich nach Intensität, egal in welcher Form.
Sonja

Liebe Sonja
"Du begegnest Menschen in unterschiedlichen Räumen, stehst neben ihnen und
scheinst im selben Moment ganz weit weg zu sein von ihnen. Woran liegt das?"
Das waren die ersten Sätze in deinem E-Mail. Ich kenne das Gefühl all zu gut. Ich kenne aber auch das gegenseitige Gefühl, mit allem was um mich ist, verbunden zu sein und die kleinsten Gesten gewahr zu werden, wo jede Geste, eine Begegnung ist, wo viele subtile Fäden mich mit den anderen vereinen. Ich finde, daß jede Begegnung, potentiell eine gegenseitige ist, solange der eigene Geist kein Misstrauen sägt.
Es fiel mir schwer, dir schon früher zu antworten, weil es nicht all zu lange her ist, wo meine verallgemeinerten Antworten aus meinen eigenen Erfahrungen herrühren. Früher waren es oft, Antworten, die die anderen, z.Beispiel Philosophen auf unsere Fragen gegeben haben. Manchmal fühle ich mich wie ein Kind, das gerade angefangen hat zu krabbeln, und die Welt direkt und unmittelbar zu sehen. Nicht das ich nicht mehr philosophiere, und mit meinem Geist die Welt interpretiere, aber diese Interpretationen, unterscheiden sich stark von einander. Seit einiger Zeit habe ich mit der Lektüre der Philosophie begonnen und bin von den Vorantiken Mytologen bis zum Mittelalter gekommen und fand heraus, daß fast kein einziger Gedanke, die unterschiedliche Philosophen erwähnten, mir bislang fremd war. Ob es nun, die alles zu Grunde liegende einzige Einheit von Demokrit war oder die metaphysische Welt der Symbole von Platon, oder die naturwissenschaftliche Welt von Ursachen und Wirkungen von Aristoteles. Auch die mystischen Erfahrungen der Mystiker sind mir nicht fremd, wie du weißt. Nur habe ich es aufgegeben, mir meine Welt, durch einer dieser Modelle erklären zu wollen. Für mich war es letztlich eine Lebensnotwendigkeit, davon loszukommen, mir alles erklären zu müssen.
Weißt du Sonja, ich erfahre immer wieder, wie alles von sich aus fließt, wenn ich mich einfach spontan dem Fluss hingebe. An dem Tag, wo es Stürmte, gelang ich irgendwann mal im Hauptbahnhof, wo ich den Eindruck hatte, daß viele Menschen mit schnellem Gang, fast rastlos in meiner Richtung marschieren. Zuerst ging ich mit unsicherem Gang, vor mich hin. Plötzlich entschied ich mich, gar nicht auf die anderen zu achten, mit freiem Gang, fast tanzend vorwärtszukommen, mit einem Gefühl der Leichtigkeit und Vertrauen, und alles wurde sanft und seicht. Und ich glaube, dass diese Haltung auch auf andere Erfahrungen zu übertragen ist.
Freiheit schafft Einheit und Geborgenheit, wogegen, aus dem Gefühl der Angst und Unsicherheit Bedrohung, und aus Zweifel und Misstrauen Einsamkeit entstehen.
Maziar

Liebe Sonja
gerade dachte ich mir, daß es unmöglich ist, das meiste aufzuschreiben, was ich sehe, denke und fühle. Selbst wenn ich den halben Tag lang im schreiben verbringen würde, könnte ich nur einen Bruchteil dessen erfassen, was ich erlebe. Mir ist wieder aufgefallen, wie reich die Erlebniswelt eines Menschen ist, und daß es Sinnlos ist die Momente aufhalten zu wollen. Gestern Abend, nach dem ich dir geschrieben hatte, ging ich noch ins Cafe´Duddel, im hinteren Raum, wo die Leute, noch dabei waren miteinander zu diskutieren und ich blieb dann auch sehr lange und unterhielt mich mit unterschiedlichen Menschen. Zuerst in der Gruppe und dann auch einzeln. Ich spüre, wie gerne ich diese Menschen habe. Auch diejenigen, die ich früher kritisch betrachtet hatte, mit denen ich Auseinandersetzungen hatte. Jetzt wo ich mich ihnen öffne, sehe ich wie schön sie sind und wie schön es ist, den Bezug zu suchen und die Beziehung zu leben Sonja. Ich glaube, es gibt keine andere Möglichkeit, die Intensität zu erleben, außer in Beziehung zu den anderen, und zwar eine vertrauensvolle und offene.
Als ich heute morgen auf dem Wege hierher war, saß sich ein älterer, etwas gebrechlicher Mann, mit langem Bart, der einen langen Mantel anhatte und eine Flasche Korn in der Hand, neben mir in der U-Bahn, schaute, wie mit Augen eines Kindes und lachte mich mit seinen zähnelosen Mund an. Und glaube mir, es war ein herrliches Gefühl.
Ich finde, daß es eine Art von Sanftheit gibt, die dann entsteht, wo kein Zweifel, kein Zwiespalt mehr ist. Freiheit ist das Vertrauen in das eigene Herz. Wenn du Zweifel hast, dann schautst du unstet und unsicher, wirst ängstlich. Da möchtest du manchmal gar nicht mehr schauen. Aber es gibt auch eine andere Welt. Eine Welt in der du schwelgen kannst. Schau dir an, deine Augen und diese Welt voller Farben. Dein Schauen ist ungehindert, weil du nichts zu verlieren hast und gegen nichts kämpfen musst. Du kannst schauen und endlich sehen. Und du empfindest die Welt unmittelbar. Was für eine schöne Entdeckung. Gewinnst du das Gefühl, dass du es dir erlauben kannst, von allem loszulassen und die Welt direkt wahrzunehmen, so siehst du plötzlich, wie farbig und frisch sie ist, wie gestochen scharf und klar sie ist. Und das wirkt auf dich selbst zurück, auf die Art und Weise, wie du dich selbst siehst. Du erkennst, daß es schön ist, da zu sein, und daß es eine bedingungslose Symphatie für dich gibt. Ich erinnere mich auch, wie es in anderen Momenten ist, wo ich ängstlich bin, mich hinter selbstgebaute Mauren verberge, wo ich glaube, mich schützten zu müssen. Das sind Momente, wo mir die Welt eng und dumpf erscheint. Eine Welt in dem Routine, Langeweile, Vorurteil, Anklammern an Menschen, Orte, Dinge; planen, festhalten, Traurigkeit, Rastlosigkeit etc. den Ton angeben.
Liebe Grüße
Maziar

Liebe Sonja
seit einer Woche schreibe ich dir schon fast jeden Tag. Irgendwie hat das schreiben an dir bereits eine Konstante im meinem Alltag bekommen. Als ich dich vor ein paar Tagen fragte, wie es sich für dich anfühle, nun so regelmäßig E-Mails von mir zu erhalten, sagtest du, daß es sich ein wenig fremd anfühlt. Es ist anderes, mit jemandem zu kommunizieren, den man nicht vor sich hat, dessen Reaktionen man nicht unmittelbar einschätzen kann. Wo man zudem etwas von sich, in schriftlich fixierter form preisgibt. Ich vermute, daß Leute, die regelmäßig schreiben, insbesondere die, die für ein anonymes Publikum ihre Texte veröffentlichen, dies deshalb tun, um sich zu vergewissern, daß das, was sie fühlen und denken, den anderen verständlich ist. Es ist der Wunsch, trotz der Individualisierung, das gemeinsame innerhalb der Menschen gewahr zu werden. Ich finde es schön, zu erfahren, daß nichts, was mir innewohnt, anderen Menschen fremd ist. Ich vermute, daß meine E-Mails mittlerweile auch bei dir eine Konstante in deinem Alltag geworden sind.
Aber eigentlich wollte ich dir ja meine Erlebnisse des Tages erzählen, wo es in Köln Stürmte. Wie du weißt, ging ich raus um zu sehen, wie die Menschen so drauf sind. Ich war neugierig und wollte mit den anderen kommunizieren: Zuerst ging ich die Straße hinauf. Zum Clodwigsplatz. Ich überquerte den Platz und dachte, ich könnte ihr begegnen. Früher hatte ich das erlebt. Ich wünschte mir ihr zu begegnen. Ging raus und meist war es so, daß ich sie dann auch irgendwann, während des Tages begegnet bin.
Als ich später aus der U-Bahn ausstieg, bin ich zuerst bei Peer vorbei gegangen und habe geklingelt. Wie ich vermutet hatte, war er nicht zu hause. Dann ging ich ins Cafe´Elefant, durch den ersten Raum hindurch und setzte mich an einem Tisch im hinteren Raum. An dem Tisch rechts neben mir saßen zwei junge Frauen, die ich zuerst für Schüler hielt. Mir gegenüber saß ein Mann, um die Mitte dreißig, der die Wochenzeitschrift Freitag las und wie ein typischer linker Intellektueller aussah. An der anderen Ecke saßen wiederum zwei Männer, um die 50 mit Bierbauch und entsprechender Gestik. Zuerst sprach ich die Frauen an, und es entwickelte sich ein für mich sehr spannendes Gespräch. Sie waren sehr offen. Ich erfuhr das die eine Sozialpädagogig studierte und die andere Biologie. Trotz ihrer Offenheit, kam in das was sie sagten, die Zukunftssorge hervor, die eine ganze Nation zu plagen scheint. Nach etwa einer Stunde wandte ich mich den beiden Männern zu, aber spürte bald, dass außer ein paar Redefloskel und Worte zur Zersteuerung, keine große Offenheit für einen Gesprächsaustausch besteht. Und bei den linken Intellektuellen, spürte ich, dass ein Gespräch mit einem Fremden für ihn etwa so schwierig erscheint, wie die Anstrengung bei manch einer, beim Aufstieg zum Mount-Everest. So kam ich aus dem Cafe´ raus und ging in die Agnes-Buchhandlung und vertiefte mich in einem Buch von dem Sohn des damaligen DDR Spions Guillaume, wo er schilderte, wie der Tag, wo sein Vater verhaftet wurde, sein ganzes Leben geändert hat. Stell dir vor, daß der kleine Junge, eine Woche vorher zusammen mit seinen Eltern, mit dem Bundeskanzler und seine Frau auf Urlaub fährt, und von nun an seinen Vater im Gefängniss besuchen muss. Danach bin ich nach einer spontanen Entscheidung in einem Internetcafe´ gegangen um für das Autorenplattform eine Live-Geschichte zu schreiben, wo auch meine Korrespondenz mit dir anfing. Als ich nach dem schreiben, an der Kasse bezahlen wollte, fragte ich die Frau, die an der Kasse saß, ob sie beim Verhalten der meisten Menschen eine Veränderung beobachtet, wenn es kalt ist und stürmt. Sie sagte mir, dass sie sich bis jetzt keine Gedanken darüber gemacht habe.
Unmittelbar danach stand neben mir eine Frau um die vierzig, an der Fußgängerampel, die aufgrund des Windes und der Kälte ein verzerrtes Gesicht machte. Ich fragte sie: ist es so schlimm? Etwas überrascht auf meine Frage, lachte sie und sagte nein, nein. Es ist nur so, dass sie aus Hamburg komme, und das Wetter dort so schön war und so sprach sie eine Weile, bis sich unsere Wege trennten. Beim sprechen spürte ich wie sie trotz des Windes und der Kälte immer heiterer wurde. Die zwei Stunden, die ich noch bis zu meiner Verabredung mit Hans hatte, verbrachte ich in der Buchhandlung Talia, wo ich im ersten Stock, auf ein Buch stieß mit dem Titel: "Mit einander Reden". Die Frau, die für diese Abteilung zuständig war, kam auf mich zu und fragte: ob sie mir helfen könnte. Ich sagte ja: finden sie es nicht Merkwürdig, daß solche Bücher geschrieben werden, um den Menschen beizubringen, wie man miteinander redet? Sie sagte, daß dieses Buch in ihrer Abteilung, sogar das meist verkaufte Buch wäre. Die Buchhändlerin war eine schmale, zierliche Frau, die eine schüchterne und verschlossene Ausstrahlung hatte, und bei der es mir so schien, dass sie über die Fragen, die über den Verkauf von Büchern hinausgingen, keinen Raum hätte. Dennoch dachte ich, ich werde es probieren, und fragte sie, wie sie die Menschen bei Sturm anderes erlebt als sonst. Es kam so, wie ich es mir denken hätte können. Sie wurde verunsichert und ich habe, als sie dabei war mir zu Antworten, etwas Bedrohendes in ihren Augen gesehen.
Dann habe ich mich von ihr abgewendet, etwas in dem Buch gelesen, und ging ein Stockwerk höher, wo eine andere Buchhändlerin mit derselben Frage, was sie für mich tun könne, auf mich zukam. Mit ihr hat sich dann ein schönes und interessantes Gespräch entwickelt, wo ich auch spürte wie selbstverständlich sie in ihrer Arbeit aufgeht und wie glücklich sie dabei ist, Bücher zu verkaufen und über die Bücher mit den Kunden zu reden. Ich blieb dann noch lange da, habe dann abwechselnd Bücher gelesen, sie bei der Arbeit beobachtet und mich mit ihr unterhalten, bis es bereits 8 Uhr wurde, die Buchhandlung schließen wollte und ich die Verabredung mit Hans verpasste.
Liebe Grüße
Maziar

Liebe Sonja,
gerade dachte ich mir wohl, wie du meine bisherigen E-Mails aufgenommen hast. Du gibst mir kaum eine Antwort und wenn wir uns treffen, reden wir nicht darüber. Manchmal glaube ich, daß man sich von dem am meisten fürchtet, wonach man sich am meisten sehnt. Wenn du mich jetzt nach dem Sinn des Lebens fragen würdest, würde ich spontan antworten: die ständige Erweiterung der eigenen Grenzen. Und je mehr du deine Grenzen erweiterst, drängst du in die Grenzen der anderen ein und wischt diese Grenzen aus. Ich glaube, je nach dem, wie dieses Bild empfunden wird, entscheidet sich unser Wunsch nach Weite und Freiheit bzw. Enge und Eingeschlossenheit.
Liebe Grüße
Maziar

Lieber Maziar,
ich lese Deine Mails aufmerksam, aber fühle mich nicht immer im Stande direkt zu antworten. Du reihst eine Fülle großer Gedanken aneinander, die ich erst langsam verdaue. Ich schätze Deine emotionale Offenheit und teile Deinen Wunsch und Drang, individuell zu leben.
Grundsätzlich glaube ich auch, dass man nur im Spiegel eines anderen sein eigenes Ich sehen kann. Aber nicht jeder Mensch hat diese Spiegelfunktion für mich. Manchmal blicke ich ganz tief in die Seele meines Gegenübers, aber finde dort nichts, nichts, was mich weiterführen könnte. Das hängt sicher auch wieder mit der Offenheit zusammen, die ein Mensch zulässt oder auch nicht. Wenn ich zur Offenheit bereit bin, muss mein Gegenüber das nicht zwangsläufig auch. Dann entsteht kein Fluss, keine Bereicherung, keine Erweiterung des Selbst. Dann treffen sich nur zwei, die in Parallelwelten leben und unterschiedliche emotionale Sprachen sprechen. Meine eigene Sprache kenne ich, die ist mir vertraut. Wenn ich keinen finde, der meine Gedanken versteht, rede ich oder schreibe ich zu mir selbst. Ich habe erlebt, wie die eigenen Gedanken sich befruchten können, ohne dass jemand anders dazu stößt.
Heute kommen mir die Innenwände meiner Seele glatt und kalt vor. Da ist nichts, woran ich mich festhalten kann. Ich trete auf der Stelle und weiß nicht, in welche Richtung ich laufen soll. Dann habe ich ein Bild im Kopf, eine Metapher, eine Assoziation:
Ich sehe mich auf einem 10-Meter-Brett im Freibad stehen, ganz weit oben, allein, an einem sonnigen Tag. Ich hebe die Arme Richtung Himmel und springe ins kalte, klare, menschenleere Wasser. Im Flug spüre ich ein schönes Kribbeln und kurze Momente der absoluten Freiheit, dann tauche ich ab ins tiefe Nass, fühle meinen Körper und meine Seele leibhaftig und fühle Befreiung und Freude.
Ich will nicht länger im Anschnallgurt gefangen sein. Ich sehne mich nach Freiheit, weißes aber noch nicht konkret, was sie bedeutet und wo sie zu finden ist.
Liebe Grüße,
Sonja.

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