Schreib um Dein Leben 2
von Cora Corell (eury99)

 

Felicitas saß fassungslos sie in dem alten Ohrensessel der Bibliothek. Zwischen den zahllosen und liebevoll ausgesuchten Büchern, die ihre Mutter so sehr geliebt hatte. Der so zufällig entdeckte Brief glitt ihr aus den Händen und fiel zu Boden. Sie bemerkte es nicht. Während ihr immer neue Tränen über das Gesicht liefen, jagten ihr wilde Gedankenfetzen durch den Kopf. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie eben gelesen hatte. Wie war das möglich? Die allzu kurze Zeit, die sie miteinander hatten verbringen dürfen, war mit der Gegenwart und hauptsächlich mit dem Verlauf ihres Lebens ausgefüllt worden. Für die Vergangenheit war kein Raum geblieben. ihre Mutter machte doch einen so durch und durch ausgeglichenen, ja, glücklichen Eindruck. Wie man ihn bei Menschen findet, die mit sich selbst ganz im Reinen sind. Alle Zweifel hinter sich gelassen und ihre Mitte gefunden haben. Wie konnte es also sein, das sie so verborgen und tief glitten hatte? Was hatte ihr Vater der Mutter wohl angetan, das sie sich derart verzweifelt und hilflos gefühlt hatte. Wie konnte sie nur mit Verursacher der Misere, dem Mann, der ihr so schreckliches Leid angetan hatte, weiter zusammenleben? Und was hatte er ihrer Mutter überhaupt angetan? Und wann?

Es hielt sie nicht länger in dem Sessel – sie sprang auf und wischte unbewusst mit dem Handrücken ein paar Tränen ab. Als ihr Blick auf den Boden fiel, entdeckte sie das heruntergefallene Blatt und hob es auf. Sie drückte es an sich wie einen Schatz, den ihr jemand zu entreißen drohte. Sie läutete und kurz darauf kam Martha herein. „Sie haben geläutet? Was darf ’s denn jetzt schon wieder sein?“ Der deutlich ungehaltene und mürrische Tonfall des alten Hausfaktotums ließ nichts Gutes ahnen. „Wenn Sie mal wieder besondere Wünsche haben: kommt nicht in Frage! Ich habe überhaupt keine Zeit für irgendwelche überspannten Extrawünsche von Fremden; bin mit dem Mittagessen und dem Haushalt beschäftigt. Und außerdem ist heute Mittwoch! Die Vorbereitungen für die Trauerfeier und die Beisetzung müssen endlich erledigt werden! Der Bestatter hat heute Morgen schon drei Mal angerufen und möchte endlich wissen, wann Sie eine Entscheidung treffen wollen!“ Bei diesen Worten schielte Martha mit einer angewiderten Mischung von Neugier und Abwehr in die Richtung, in der sie Felicitas Gesicht vermutete. Doch Felicitas war noch immer völlig durcheinander und achtete darum nicht weiter auf Marthas Worte. „Ach bitte, Martha, könnten Sie mir einen Tee machen?“ versuchte sie gefasst zu sagen. Doch noch ehe sie das Wort Tee erreicht hatte, versagte ihre Stimme völlig.

Wieder traten ihr die Tränen in die Augen und all ihre Versuche, diese zurückzuhalten, waren vergeblich. Martha war gleichsam verstört wie verwundert über die Erfolglosigkeit ihrer kleinen Spitzfindigkeiten. Als sie nun das Felicitas Weinen hörte, verwandelte sie sich wie durch Zauberhand wieder in die treue alte Seele zurück, die sie für Felicitas Mutter schon seit deren Geburt gewesen war. Mütterlich und warmherzig nahm sie die schluchzende junge Frau in den Arm und tröstete sie. „Ja, ich weiß, meine Kleine, ich kann es auch kaum glauben, das sie nicht mehr da sein soll. Deine Mutter war ein so guter und lieber Mensch. Sie fehlt mir ganz schrecklich. Ich habe sie doch auch so gern gehabt! Wie soll das jetzt nur alles weitergehen ohne sie; was soll nur aus mir – und auch aus Dir - werden?“ jammerte Martha unter Tränen. Eine ganze Weile hielten sich die beiden Frauen so in den Armen und teilten ihre Tränen und das Leid um den Verlust eines geliebten Menschen. So fanden diese beiden so unterschiedlichen Menschen durch das Band der gemeinsamen Trauer um Felicitas Mutter zum ersten Mal zueinander.

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