Wohnhaft
von Marc Herrmann

 

Einwohnermeldeamt. Morgens, sehr früh. Die geöffneten Türen spucken eine lange Schlange auf die Strasse. Ich stelle mich an. In der Schlange. Und auch sonst stelle ich mich an, wenn ich lange warten muss. Vor Allem wenn ich nicht in der Lage bin abzuschätzen WIE LANGE. Einwohnermeldeamt. Ein Wohner meldet sich. Nicht wie im Fernsehen bei der Familienzusammenführung. Die Leute vor mir und ich, wir mögen jetzt zwar alle irgendwie eine Familie werden, aber hier gibt es keine Kamera, hier ist keiner die Hauptattraktion, hier sind alle gleich. Eigentlich ja nicht, aber vor dem Amt sind alle gleichwichtig. Also werde ich Wohner mich melden. Neu hier. Einer von vielen.

Die Schlange der Wohner, oder vielleicht auch bald nicht mehr Wohner schiebt sich langsam voran ins Innere und ich beobachte meine neue, vermeintliche Verwandtschaft. Und es ist, wie eigentlich in jeder Familie. Da gibt es die, für das Bier nach Feierabend, die zum Geheimnisse anvertrauen, die für die Feiern und Partys und die, die eben dazugehören, die man aber nicht unbedingt so genau kennen muss. Während ich warte und vorübergehend in der Eingangstür zwischen den Infrarotsensoren wohne ordne ich die Anwesende heimlich ein. Rein optisch und oberflächlich natürlich. Je nachdem wie ich mit wem verwandt sein möchte. Cousins und Cousinen, Brüder und Schwestern, Neffen und Nichten, Onkel und Tanten, Opas und Omas und als ich gerade darüber nachdenke, dass ich nicht in der Lage bin mir bei irgendwem vorzustellen er oder sie sei mein Vater oder meine Mutter fällt mein Blick auf eine junge Frau die mich zuerst flüchtig ansieht, sich dann erneut zu mir umdreht, mich anlächelt und sich gleich wieder abwendet. Ich stocke in meinem Versuch eines Stammbaumaufbaus, denn sie passt nicht hinein. Verwandte tun so was nicht, jedenfalls nicht in „normalen“ Familien... keine Schwester, keine Cousine. Doch sonst gefällt mir das Gesamtbild dieser „Familie“ sehr gut. Ich fühle mich irgendwie zuhause. Das erste mal, seitdem die Kartons ausgepackt sind.

Plötzlich bin ich dran. Die Dame vom Amt fragt mich, was ich denn hier will. „Ich möchte in diese Familie einheiraten“ liegt mir auf der Zunge, doch ich kann es mir verkneifen. Ich sage ihr, dass ich mich gerne neu in dieser Stadt anmelden möchte. Und werde reich beschenkt. Ein Formular und eine Karte mit einer Nummer. Wie an der Fleischtheke. Nicht ganz, eine Mischung aus Fleischtheke und Parkhaus. „Die Karte benötigen sie später noch um die Gebühr für ihren Fall zu bezahlen“ klärt sie mich auf und wendet sich dem Nächsten zu, meinem „Onkel“, der hinter mir wartete.
Die Gebühr für meinen Fall. Eigentlich sollte dieser Umzug, dieser Neuanfang ja meinen Aufstieg zur Folge haben, nicht meinen Fall. Gut, das konnte sie ja nicht wissen, sie kennt mich ja nicht. Ich setze mich auf einen freien Platz und wende mich dem Formular zu. Ausfüllen! Name, Vornamen, Geburtsdatum und –ort und dann steht es dort: Zuletzt wohnhaft in: ! Wohnhaft!!! Das trifft es ziemlich gut. Es war wie eine Haftstrafe, zuletzt, ich wollte nicht bleiben, konnte aber auch nicht gehen. Haft! Mein eigenes kleines Gefängnis das ich mir gebaut hatte. Selbst eingeschlossen und den Schlüssel irgendwo hingelegt, wo ich ihn nicht so schnell wiederfand. Blöde lächelnd trage ich die Postanschrift meiner ehemaligen Wohnung ein. Wer mich beobachtet muss denken meine zukünftige Adresse wird vom Postboten gleichzeitig mit der Nervenheilanstalt angefahren. Egal! Weiter ausfüllen. Zukünftig wohnhaft: steht da jetzt! Ich stocke. Z-U-K-Ü-N-F-T-I-G W-O-H-N-H-A-F-T steht da. Ich fühle mich ein weiteres Mal missverstanden. Die Wohnhaft ist vorbei in Zukunft. Ich zögere, dann ändere ich zukünftig in zukünftigER und wohnhaft in WohnORT. Möglichst unauffällig, aber so, dass ich zufrieden bin und wieder psychosomatisch vorbelastet lächele.

Beim nächsten Gong ist es dann 11 Uhr und die Anzeige über der „Theke“ zeigt endlich meine Nummer. Ich lege meine Unterlagen vor, muss meinen Parkschein -so betrachte ich ihn inzwischen, meine Gebühr für das vorübergehende Abstellen meines Körpers in diesen Räumlichkeiten, nicht für meinen „Fall“-bezahlen, dann bekomme ich einen blickdichten Aufkleber auf meine ehemalige Haftanstaltsadresse auf meinem Personalausweis und kann gehen. Raus aus der Tür. Als wenn man eines dieser Familientreffen verlässt, auf denen man sich des Anstands wegen mal blicken lassen muss. Erleichtert und voller Tatendrang aus diesem Tag noch das Beste zu machen.

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