Es
von Mario Schumann

 

Ich sitze hier, in mitten der stillen Trümmer, die einmal mein Leben waren und es erfüllten, als sie noch nicht schwiegen und noch nicht in die leblose Teilnahmslosigkeit versunken waren, in der sie nun für immer ruhen. Schwer fließen die Worte aus meiner Feder, denn schwer sind meine Glieder, wie Blei legt sich die Müdigkeit auf meine Augen und mit jedem Wort schmerzt mein gebeugter Rücken.
Doch ich will in meinen letzten Stunden die mir verbleiben, niederschreiben, was geschehen ist und was ich erlebt habe. Schwer fällt es mir, denn die Erinnerung drückt mich tiefer nieder, als das Wissen um das Ende welches mich erwartet.
Es war, so scheint mir, vor unendlich langer Zeit, da lebte ich als ein Weniger unter Vielen und ertrug mit meinen Brüdern die tägliche Mühsal unserer Existenz und genoss die Inseln der Freude, auf denen wir uns wähnten, noch unwissend das dieses alles nur Betäubung und Flucht vor dem aufkommenden Übel war, das meine Welt schon bald heimsuchen sollte.
Es kam langsam, doch es kam bald. Schleichend, wie ein Jaguar auf der Pirsch, fand es in mir reiche Beute und ein leichtes Opfer. Doch seine Verwandlungen sind zahlreich, denn es sprang und biss nicht, es sickerte wie Gift durch den Mantel meines Schweigens und zerriss den Schleier meiner Täuschung. Langsam, doch immer deutlicher zerstörte es alles was ich besaß.
Zuerst tötete es mein Familie. Schritt für Schritt raffte es sie hinweg, verdammte mich dazu sie zu sehen, als eine Legion von wandelnden Toten. Sie sprachen, sie aßen, sie schliefen, doch sie waren tot in meinen Augen, fort, und ich, ohnmächtig sie anständigen Brauches zu begraben und zu vergessen. So ging ich fort aus diesen Bannkreis des lebendigen Todes und suchte mir eine neue Heimstatt, weit weg, wo mich der Gestank der verwesenden Vergangenheit nicht erreichen konnte. Ich war zufrieden, ich hatte ein Zimmer und Herd gefunden und konnte allmählich vergessen, doch auch hier holte es mich nach kurzer Zeit ein, auch hier tötete es. Doch begnügte es sich zunächst mich Tropfen für Tropfen mit seinen Gift zu schwächen.
Alles floh dahin, die Zeit wurde weder Tag noch Nacht und das Siechtum klammerte sich mit den Widerhaken einer wilden Distel an mich. Stunde um Stunde wurde ich schwächer und es war nur eine Frage der Zeit bis ich den Kampf verlieren würde und von meinem lebenden Körper sich meine tote Seele endgültig gelöst hätte. Doch in meinen Gefängnis erreichte mich ein Sonnenstrahl der mich unbändig ins Freie zog und mir Kraft gab weiter meine Schritte vorwärts zu richten und es verschwand mit der Zeit, so das über meinem Haupte blauer Himmel und in meinem Atem frische Luft war. Wie ein Wunder schien es mir, unfassbar und unvergänglich.
Noch heute wenn ich daran zurückdenke an diese Zeit, kann mein Geist dieses Wunder nicht ganz fassen. Doch wie alles im Leben, so musste ich begreifen lernen, war auch dieses Wunder nicht unvergänglich. Ich sah nicht wie der Sonnenstrahl langsam verblasste und als ich es endlich bemerkte war es schon zu spät, er war verschwunden. Ich habe seinen Ursprung nie gesehen. In der Leere die er zurückgelassen hatte breitete sich es wieder aus, diesmal langsam und vorsichtig, es hatte gelernt, es war auf der Hut. Ein zweites Mal würde es sich nicht so leicht verdrängen lassen. Ich versuchte zu verdrängen, zu vergessen, meine Furcht vor dem schleichenden Gift des Siechtums war groß. Doch in anderer Bedrängnis kam es über mich und meine verlassene Seele, Angst bemächtigte mich, ohne Grund, ohne Ziel und fesselte mich stärker und mit größeren Ketten als die Ketzer in den Kerkern vergessener Zeiten...
Ich spüre wie meine Augen trübe werden, meine Gedanken fließen zähe und immer wieder muss ich absetzen um Kraft für meine Worte zu sammeln. Der Schlaf ruft mich, mit singenden Stimmen, immer lauter und bald werde ich ihm folgen. Ich will mit meinem Bericht zu Ende kommen.
Hände erreichten mich, ich konnte meine Fesseln sprengen, es war ein Mühsal und wie so vieles, verließen mich auch die sanften Hände die meine Seele streichelten wieder und schwanden in weiter Ferne.
Ich bin geblieben und es, es ist näher bei mir als je zuvor und mir schwindet die Hoffnung jemals frei zu sein. Nun, es ist soweit, mit der letzten Kraft meines hohen Alters junger Jahre schreibe ich hier diese letzten Worte um sogleich dem Ruf des Schlafes zu folgen und mich nieder zu legen auf mein karges Lager. Der du das hier ließt, sei gewiss, es gibt kein Ende, wenn es dich gefangen hält. So werde ich denn auch am morgigen Tag wieder erwachen und mein kümmerliches Dasein fortsetzen in meiner Welt des lebenden Todes voller Schrecken und Erschwernis und wenn die Nacht hereinbricht werden nur noch Trümmer bestehen, die mich von neuem mit ihrer einsamen Stille umringen und wo es nur uns beide gibt, mich und es...

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