Spiegel
von Mario Schumann

 

Es ist Nacht, nur das Mondlicht erhellt ein wenig die Zelle. In ihr: Der General und sein Soldat. Jeder Nacht kommt der General zum Verhör und jede Nacht ist es das selbe Schauspiel.
„Nun gut. Meldung!“ schreit der General.
„Melde gehorsamst, ein Gefreiter zum Verhör angetreten. Keine besonderen Vorkommnisse Herr General!“ Er knallt die Hacken zusammen.
„Wo stehen die Truppen heute?“ fragt der General.
„Herr General, die Truppen halten ihre Positionen!“ Antwortet der Soldat. Er steht stramm und blickt stur gerade aus.
„Verluste?“
„Nur geringe Verluste durch vereinzelte unbedeutende Zusammenstöße Herr General!“
Der General steht vor ihm, wippt mit den Füßen und schaut seinem Soldaten in die Augen.
„So so...sie Lügner!“ schreit er, „Wo stehen die Truppen!?“
„Es kam nur zur geringfügigen Begradigungen des Frontverlaufs...Herr General!“ Der Soldat wankt.
„Sie lügen! Was fällt ihnen ein mich anzulügen! Sie wertloser Hinterlader! Wo steht der Feind!?“
„Der Feind steht vor dem Tor Herr General!“ Der Soldat bäumt sich auf.
„So so. Und was tun sie um ihn zurückzuschlagen!?“
„Ich werde die Truppen neu formieren lassen und einen breit gefächerten Angriff...“
„So so. Und ihm dann von hinten eine Decke über den Kopf ziehen, was?“ Der General macht sich keine Mühe seinen Spott zu verbergen. Dann schreit er wieder.
„Sie Feigling! Sie nutzloses Tier sie!“
So geht das jede Nacht. Der General schreit von allen Seiten auf seinen Soldaten ein. Und der Soldat schweigt und steht in Habachtstellung mit starrem Blick gerade aus. Manchmal wird er schwach.
„Herr General, ich bitte sie mich meiner Verantwortung zu entheben. Ich kann nicht mehr...“
Dann tobt der General.
„Das könnte ihnen so passen sie jämmerliches Stück Dreck...!“
„Was haben sie zur ihrer Verteidigung zu sagen!?“
Manchmal wehrt sich der Soldat auch. Er nimmt alle Kraft zusammen.
„Warum muss ich mich hier verteidigen Herr General? Sie waren doch so egoistisch und haben befohlen...“
„Wie können sie es wagen!?“
„...diesen aussichtslosen Kampf...“
„Halten sie ihr Maul! Ich werde ihnen zeigen was es heißt einem Vorgesetzten Respekt zu zollen! Ich werde ihnen...!“
Dann schreit er so lange bis der Soldat stumm die Hacken zusammenknallt und noch strammer steht als vorher.
„Wo stehen die Truppen!?“
So wiederholt sich das Verhör jede Nacht, Stunde um Stunde und Tag für Tag. Der Soldat wird langsam müder. Er kann sich in der Nacht kaum noch aufrecht halten. Der General wird immer lauter.
„Wo stehen die Truppen!?!?“
„Wie lange noch?“, fragt er sich, „Wie lange muss ich noch auf das Urteil warten? Schuldig bin ich doch schon. Ich möchte nur wieder schlafen, einmal wieder ruhig schlafen...“
Eines Tages bleibt der Besuch des Generals aus. Was der Soldat gedacht haben mag als er allein am Fenster seiner Zelle stand, das mögen nur noch die Mondschatten wissen, die langsam über sein Gesicht zogen. Es war alt und zerfurcht von tausend Schlachten.
Sie fanden ihn am nächsten Morgen. Er lag da als würde er schlafen. Sein Blut tropfte noch immer auf den Boden und hatte einen dunklen See gebildet, inmitten der tausend Splitter seines Spiegels.
Sein Spiegel war alles gewesen was er noch besessen hatte.

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